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Mögliche Auswirkungen von Bullying können fatal sein und reichen von Angststörungen bis hin zum Suizid.

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"Bullying ist sicher kein Bestandteil einer jugendlichen Normalentwicklung", betont Public Health-Experte Roman Winkler.

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derStandard.at: Laut einer Studie weist Österreich die höchste Bullying-Rate in den OECD-Ländern auf. Demnach war rund jeder fünfte Bursche zwischen elf und 15 Jahren zumindest einmal von Mobbing betroffen. Woran liegt das?

Winkler: Meiner Meinung nach bietet das österreichische Schulsystem wenig Raum für die Auseinandersetzung mit "Anders-Sein". – Durch Überlastung der Lehrkräfte, aber auch, weil es zum Thema Bullying noch immer viel Unwissen und Ignoranz gibt.

derStandard.at: Was bedeutet Bullying konkret?

Roman Winkler: Direktes Bullying meint verbale oder körperliche Attacken von Kindern und Jugendlichen – also andere zu tyrannisieren, zu schikanieren und einzuschüchtern. Bei indirektem Bullying werden etwa Gerüchte verbreitet oder Menschen gezielt diffamiert. Ein weiteres Kriterium ist die Regelmäßigkeit über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Anlass kann sein, dass sich ein Kind in der Klasse anders kleidet oder verhält als der Rest. Auch Herkunft, Religion oder Gesten, die als zu weiblich oder männlich assoziiert werden, können ein Grund für Bullying sein. Dabei kann es sich auch um eine bloße Annahme – im Sinne von "Ich glaube, dass du so bist" – handeln.

derStandard.at: Ist das ein Konflikt, der sich auf einen Täter und ein Opfer beschränkt?

Winkler: Die Attacken richten sich immer gegen eine Person, nie gegen eine Gruppe. Der "Bully" – also der Aggressor – kann ein Einzelner, aber auch eine Gruppe sein. Zudem gibt es häufig Nebenakteure wie "Bystanders", die das Bullying wahrnehmen und nicht einschreiten. Dem gegenüber stehen in manchen Fällen "Supporters", die für das Opfer eintreten.

derStandard.at: Welche Maßnahmen gegen Bullying gibt es?

Winkler: Keine Frage: Schule soll Inhalte vermitteln, muss aber auch soziales Lernen umfassen. Das heißt, für die soziale Auseinandersetzung braucht es mindestens so viel Platz wie für den Pythagoras. Wenn Kinder keine soziale Kompetenz lernen, fehlt sie ihnen auch im Erwachsenenalter und sie können weder für andere noch für sich selbst eintreten. Sie wissen zwar a2+b2 = c2, haben aber nicht gelernt was Konfliktfähigkeit heißt.

Letztendlich muss alles daran gesetzt werden, um die Selbstwirksamkeit von Jugendlichen zu erhöhen. Über "Klassenparlamente" können beispielsweise Diskussionsprozesse in Gang gesetzt werden. Damit ermögliche ich eine geführte Auseinandersetzung, gleichzeitig steigt auch die Kompetenz im Umgang mit Konflikten. Es geht darum, das soziale Gespür füreinander zu fördern, die Verschiedenartigkeit zum Thema zu machen und dabei auch das Gemeinsame zu suchen.

derStandard.at: Sie betonen die soziale Komponente. Welche Auswirkung hat sie auf die Gesundheit?

Winkler: Durch das Gesundheitsdeterminanten-Modell wissen wir, dass es zahlreiche Faktoren gibt, die zur Gesundheit beitragen. Gesund hält demnach nicht nur ausreichend Bewegung und die Ernährungspyramide. Vor allem Freundschaften und soziale Netzwerke sind ausschlaggebend für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden. Ein Umfeld, das einen akzeptiert, fördert Selbstwirksamkeit und Stärke. Sozialer Ausschluss hingegen tut weh und erschüttert Menschen in ihrem Innersten. Das wissen wir auch ohne Studien.

derStandard.at: Kritiker meinen, wir sind übersensibilisiert und sehen in dem, was wir heute als Bullying bezeichnen, typische Verhaltensweisen von Jugendlichen. Nach dem Motto: Das gehört zum Erwachsenwerden dazu.

Winkler: Wir schauen heute sicher näher hin als noch vor zehn oder 20 Jahren, schenken sozialen Problemen mehr Aufmerksamkeit und wissen dadurch auch mehr. Das ist gut so. Bullying ist aber sicher kein Bestandteil einer jugendlichen Normalentwicklung. Es ist keinesfalls eine adäquate Form, um sich gegenüber anderen abzugrenzen und Unterschiede zu definieren. Und nicht der Ausdruck einer normalen Konfliktkultur. Dass früher alles besser und einfacher war, bezweifle ich.

derStandard.at: Wer steckt hinter Bullying?

Winkler: Die Täter sind überdurchschnittlich oft mit einem autoritären Erziehungsstil konfrontiert und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Ihnen fehlen häufig positive Rollenvorbilder und die Erfahrungen eines innerfamiliären Zusammenhalts. Dadurch ist auch das Empathievermögen eingeschränkt. Die Mitläufer haben meistens Angst selbst zum Opfer zu werden und besitzen innerhalb der Klasse einen eher geringen Status.

derStandard.at: Was kann passieren, wenn Bullying von der Außenwelt nicht wahrgenommen wird?

Winkler: Mögliche Folgen für Opfer sind Erschöpfungszustände, Angst- und Schlafstörungen bis hin zum Suizid. Betroffene weisen auch ein erhöhtes Risiko auf, später eine Suchtstörung zu entwickeln.

derStandard.at: Inwieweit spielt die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität eine Rolle?

Winkler: Bullying-Opfer, die aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder des Aussehens tyrannisiert werden, haben zumeist im Hintergrund noch eine Familie oder ein soziales Umfeld, das sie stützt und über das sie ein Gefühl der Zugehörigkeit erfahren.

Lesbisch oder schwul zu sein, bedeutet ein Abweichen von der heteronormativen Norm – in manchen Familien die einzig gültige Norm. Bei LGBTI-Personen (lesbian, gay, bisexual, transgender und intersexual; Anm.) besteht deshalb ein höheres Risiko, dass sie mit ihren Problemen und traumatisierenden Erfahrungen alleine zurechtkommen müssen.

derStandard.at: Welche Rolle spielen hier soziale Medien?

Winkler: Technologien haben immer positive und negative Effekte. Einerseits gibt es das Problem von Cyber-Bullying, auf der anderen Seite bietet das Netz auch Cyber-Support – etwa über das "Es wird besser Österreich"-Projekt, in dem beispielsweise lesbische, schwule, bisexuelle oder transidente Jugendliche Rat und Unterstützung finden. (Günther Brandstetter, 28.5.2015)