Markus Ragger sitzt Shakhriyar Mamedyarov gegenüber. Es ist im Wiener Rathaus, es ist vergangener Montag, es ist eine Premiere. Noch nie trafen die beiden aufeinander. Trotzdem kennt Ragger das Spiel seines Kontrahenten im Detail. Die Auseinandersetzung brach schon Wochen zuvor an. An dem Tag, als der Österreicher sich dem Repertoire seines Rivalen zu widmen begann.

Der Gegner? Er arbeitet und denkt nicht anders, nur mit noch größerem Erfolg.

Der Schachspieler der Gegenwart ist gläsern, seine Vergangenheit ein offenes Buch. In Datenbanken sind hunderte Partien von Mamedyarov abrufbar. Ragger kennt sie alle. Und dies aus gutem Grund. Der 27-Jährige will sich in seinen Widerpart hineinversetzen, dessen Pläne erahnen und durchkreuzen.

Insbesondere die Eröffnungen werden wieder und wieder studiert. Immer auf der Suche nach einem probaten Gegenmittel. Klingt vielversprechend, wäre da nicht der Gegner. Und der arbeitet, der denkt nicht anders, nur mit noch größerem Erfolg. Bis auf Position vier der Weltrangliste hatte sich der 30-jährige Aserbaidschaner bereits emporgearbeitet, aktuell steht er auf dem 22. Rang. "Er ist der bessere Spieler", stellt Ragger mit dem am Brett gebotenen Realismus fest.

Es sollte sich zunächst bewahrheiten. Ragger verliert zwei Partien mit Schwarz und bietet mit Weiß ein Remis an. Mamedyarov nimmt dankend an. Der Aserbaidschaner, so hört man, sah sich in der Position des Verlierers. Bis Sonntag folgen drei weitere Spiele. Ragger bleibt optimistisch.

2688 ist im August 2015 die Elo-Zahl von Markus Ragger im klassischen Schach. Das ist persönlicher und österreichischer Rekord. Demnächst soll die 2700er-Marke fallen.
1154 Partien von Ragger sind in der Datenbank des Weltschachbundes Fide aufgezeichnet. Nur 143 hat er verloren. 95 davon mit Schwarz, lediglich 48 mit Weiß.

Das Selbstvertrauen kommt nicht von ungefähr, der Kärntner hat sich in der Schachszene einen Namen gemacht. Er ist die Nummer 54 der Weltrangliste und kurz davor, die geradezu magische Grenze von 2700 Elo-Punkten zu knacken. Super-Großmeister würde man ihn dann nennen, zumindest inoffiziell. Der Begriff wurde einst von Medien eingeführt, um auf die Zugehörigkeit eines Spielers zur engeren Weltspitze hinzuweisen.

Mensch oder Maschine? "Über eine ganze Partie ist der Computer überlegen."

Für den heimischen Schachsport ist es der Eintritt in eine neue Dimension, seit der Einführung des Elo-Systems in den 1970ern stieß noch kein Österreicher in die Top 100 vor.

Wohin die Reise führen kann, ist nicht absehbar. "Ich kann nur an meinen Stärken und Schwächen arbeiten. Die Motivation ist jedenfalls da." Und die braucht es auch. Der Alltag eines Schachprofis wird vom Training bestimmt. Sechs bis acht Stunden täglich, mitunter sind es auch zwölf.

Als Übungspartner dient in erster Linie der Computer. Die Rechner sind mittlerweile unverzichtbar und haben doch ihre Grenzen. "Über eine gesamte Partie ist der Computer überlegen, er macht keinen gröberen Fehler. Bei der Stellungseinschätzung ist ein Großmeister aber im Vorteil." In diesem Sinne werden Positionen bevorzugt mit Kollegen besprochen. Per Videotelefonie, man hat ja nicht immer einen Weltklassespieler zur Seite.

Ein Festival der rauchenden Köpfe: die Vienna Chess Open 2015 im Wiener Rathaus. Parallel zum Bewerb fand das Duell zwischen Markus Ragger und Shakhriyar Mamedyarov statt. Turnierdirektor Johann Pöcksteiner im Gespräch über den österreichischen Nachwuchs.
derstandard.at/von usslar

Wer im Schachsport langfristig bestehen will, muss variieren. Wehe dem, der seine Strategie zu repetitiv anlegt. "Wenn ich eine gute Partie mache, hat sie jeder meiner zukünftigen Gegner gesehen. Ich muss mir gleich überlegen, wie ich die nächste anlege."

Ragger hat das Katz-und-Maus-Spiel früh erlernt. Und zwar auf Omas Schoß. "Meine Großeltern saßen täglich am Brett, ihre Partien nach Frühstück und Mittagessen waren unumstößlich." Mit sechs Jahren zog es den kleinen Blondschopf in den Schachverein von Maria Saal, drei Jahre später setzte er allmählich die Familie matt. "Ich war aber noch nicht so gut, dass ich jede Partie gewonnen hätte. Sie hatten jahrelange Praxis im Spiel."

Jugendmeistertitel in Serie

Für seine Altersgenossen sollte es allemal reichen. Als Achtjähriger krönte sich Ragger zum U10-Staatsmeister, sechs weitere Jugendmeistertitel sollten folgen. Später brach er sein Mathematik-Studium ab, um sich voll dem Sport zu widmen. " Es gab wenig Erfolgsdruck, ich habe es einfach ausprobiert. Wäre es nicht gelaufen, hätte ich immer noch ins Studium zurückkehren können."

Aber es lief, das Hobby wurde zum Beruf, mittlerweile ist Ragger in aller Herren Länder als Profi unterwegs. Zuletzt ging er beim stark besetzten Politiken-Cup in Kopenhagen als Gewinner hervor, der Siegerscheck belief sich auf 20.000 Kronen, rund 2600 Euro. "Ich werde nicht reich, aber ich kann davon leben." Nachsatz: "Wegen dem Geld würde ich es nicht machen."

Impressionen aus dem Festsaal des Wiener Rathauses. Bretter so weit das Auge reicht. Es wird Schach gespielt, gedacht, gelebt.
Foto: Standard/Urban

Die Schachwelt kennt aber auch Topverdiener, Weltmeister Magnus Carlsen ist einer von ihnen. Der Norweger ist die alles überragende Persönlichkeit, ein Popstar. Zwei Mal hatte Ragger das Vergnügen, jeweils verlor er. Zuletzt bei der Weltmeisterschaft 2014 im Blitzschach.

Sieg gegen Anand, Niederlage gegen Carlsen: "Eine unbezahlbare Erfahrung."

Ragger kann dieser Variante mit stark verkürzter Bedenkzeit einiges abgewinnen: "Die Turniere sind anstrengend, wecken aber starke Emotionen." Zum Beispiel Glücksgefühle, just vor der Niederlage gegen Carlsen bezwang Ragger Ex-Weltmeister Viswanathan Anand. "Gegen solche Spieler anzutreten, ist eine unbezahlbare Erfahrung."

Hierzulande hat Ragger kaum Konkurrenz. Die Nummer zwei, Nationaltrainer David Shengelia, steht auf Rang 331 der Weltrangliste. In der Länderwertung der FIDE hält Österreich aktuell Rang 41 unter 175 Nationen.

400 Schachvereine in Österreich

Johann Pöcksteiner, Vizepräsident des österreichischen Schachbundes ÖSB, ist nicht unzufrieden, ein gern gebrachter Scherz ist ihm allerdings abhandengekommen: "Früher konnte ich noch sagen, wir sind besser als die Fußballspieler." Im Schachbund sind an die 400 Vereine in ganz Österreich organisiert, rund 10.000 SpielerInnen nehmen an Meisterschaften teil.

2005 wurde Schach in die Bundessportorganisation aufgenommen und offiziell als Sport anerkannt. Das eröffnet mittels Förderungen zusätzliche Möglichkeiten, das jährliche Budget des ÖSB liegt nun bei etwa 300.000 Euro. Ein Fortschritt, aber kein Vergleich zu großen Schachnationen wie Russland oder China.

"Die gesellschaftliche Akzeptanz ist vorhanden, vor allem die Schulschachbewegung ist populär, mehr Unterstützung kann man immer gebrauchen", so Pöcksteiner. Und in Kaffeehäusern hätte man inoffizielle Spielstätten verloren: "Aus den Schachzimmern wurden die Raucherkammerln."

Österreich zählt sieben lebende Großmeister. Der Titel wird vom Weltschachbund Fide auf Lebenszeit vergeben. Russland ist mit 230 Großmeistern die traditionelle Nummer 1.

Pöcksteiner ist Turnierdirektor des bis Sonntag laufenden Vienna Chess Open, in dessen Rahmen der Zweikampf zwischen Ragger und Mamedyarov stattfindet. Es ist die 19. Auflage, mit 816 Spielern aus 50 Nationen ist das Teilnehmerfeld größer denn je. Angespannte Gesichter soweit das Auge reicht, das Spiel wird zelebriert.

Frauenanteil bei den Vienna Chess Open? Neun Prozent. Und das ist nicht schlecht.

Mit besonderem Stolz spricht Pöcksteiner über neun Prozent Frauenanteil. Unter Kindern und Jugendlichen sei Schach bei Mädchen noch sehr beliebt, dann aber würden vor allem die Herren den Meisterschaftsbetrieb verfolgen. Hier gelte es künftig den Hebel mit einer verbesserten Infrastruktur, sprich mit näheren und moderneren Spielstätten anzusetzen. Weg vom Flair der Spelunke, hin zu einem attraktiven Ambiente. Auch wenn der Festsaal des Wiener Rathauses kaum zu toppen sein wird.

Die Partien zwischen Ragger und Mamedyarov hat Pöcksteiner beobachtet. Mamedyarov sei ein unangenehm zu spielender Gegner, am Schachbrett hätte der Mann sieben Leben. Ragger wiederum müsse sich Schritt für Schritt an das Niveau der Weltspitze heranarbeiten.

Diskussion um das WM-Format

Ob Ragger je die Möglichkeit bekommen wird, den stärksten Spieler der Welt, also den Weltmeister im klassischen Schach, herauszufordern? Unter den derzeitigen Umständen kaum. Um in die Position des Herausforderers zu kommen, muss man sich durch mehrere Turniere spielen, Sieg um Sieg einfahren. Der Weltmeister sitzt derweil auf seinem Thron und wartet.

Umso erstaunlicher, dass just Carlsen bereit ist, dieses Privileg abzugeben. Er fordert den Weltverband auf, die Regularien für die Weltmeisterschaft zu überdenken und plädiert für ein Turnier im K.o.-System.

Alle Schachweltmeister seit 1886 im Überblick. Den Anfang machte der österreichisch-amerikanische Schachspieler Wilhelm Steinitz. Er gilt als Revolutionär der Schachtheorie.

"Aus sportlicher Sicht würde ich es gut heißen", sagt Ragger. Es gäbe dann eine realistische Chance, um den Titel mitzuspielen. Als Fan bevorzugt er jedoch die zugespitzte Begegnung zweier Konkurrenten.

Das letzte WM-Duell zwischen Carlsen und Anand brachte Ragger den Interessierten per Videoanalyse näher. "Eine einzelne Partie dauert fünf Stunden. Und das meiste spielt sich in den Köpfen der Kontrahenten ab. Ich möchte auch Hobbyspielern die Vorgänge erläutern", sagt Ragger. Und zitiert an dieser Stelle ein altes Sprichwort: "Das Schachspiel ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann." Wie bitte, Herr Ragger? "Man lernt es schnell, wird es aber nie ganz ergründen." (Philip Bauer, 22.8.2015)