"Ich rufe die Jugend Kurdistans auf, in ihrer Heimat zu bleiben", sagte am Mittwoch Massud Barzani, der Präsident der kurdischen Regionalregierung in Erbil, in seiner Ansprache zum islamischen Opferfest. Die Kurdische Autonomiezone im Nordirak ist ein Gebiet, das mit eineinhalb Millionen irakischen Binnenflüchtlingen – darunter viele Christen aus dem arabischen Teil – und 280.000 Flüchtlingen aus Syrien zurechtkommen muss.

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Massud Barzani, der Präsident der kurdischen Regionalregierung in Erbil, appelliert an die Jugend, die Heimat nicht zu verlassen.
Foto: Reuters / Ari Jalal

Seit einiger Zeit ist aus dem Nordirak eine Bewegung Richtung Europa im Gang: Schon im Juli verließen etwa 300 irakische Kurden täglich ihr Land. Das war, bevor der Flüchtlingsstrom noch einmal Geschwindigkeit aufnahm. Dass Barzani das Phänomen öffentlich thematisiert, ist ein Hinweis auf dessen Dimension.

Irakische Kurden unter den Toten im Lkw

Auch unter den 71 in einem ungarischen Kühlwagen auf der Ostautobahn (A4) einen schrecklichen Tod gestorbenen Menschen waren irakische Kurden. Die ersten vier in ihre Heimat überführten Leichen gingen nach Erbil, der Hauptstadt der Kurdenregion, meldete am Mittwoch das kurdische Internetmedium "Rudaw".

Unter den 71 Toten auf der Autobahn bei Parndorf waren auch irakische Kurden.
Foto: Standard / Christian Fischer

Ob sie in einem europäischen Land überhaupt Asyl erhalten hätten, ist fraglich. An den Rändern Irakisch-Kurdistans kämpfen zwar kurdische Peschmerga und die irakische Armee beziehungsweise Milizen gegen den "Islamischen Staat" (IS), aber im Inneren ist es besonders im Vergleich mit anderen Regionen relativ ruhig.

Perspektivlosigkeit bei der Jugend

Aber Arbeits- und Perspektivlosigkeit und Unzufriedenheit mit den Verhältnissen treiben besonders die Jugend weg. Dass sich die kurdischen Parteien auch mehr als einen Monat nach dem Ablauf von Barzanis Mandat als Präsident nicht für eine Lösung zusammengerauft haben, erhöht nicht gerade das Vertrauen in die politische Klasse, die von Korruption und Nepotismus gekennzeichnet ist.

Diese Entfremdung führt dazu, dass auch viele Peschmerga nicht mehr ihr Leben riskieren wollen für ein System, von dem sie sich alleine gelassen fühlen. Die Zahl der Deserteure sei "besorgniserregend", wird Saed Kakaei, Berater des Peschmerga-Ministers, von Reuters zitiert.

Nicht wirkungslos, aber fast

Aber das Phänomen betrifft nicht nur kurdische Soldaten, auch viele arabische Iraker wollen nicht mehr kämpfen. Schon die Kampfhandlungen in Syrien haben zurzeit wenig mediale Aufmerksamkeit, jene im Irak so gut wie gar keine: Was dort passiert, ist ernüchternd. Die Luftschläge der US-geführten Allianz sind nicht wirkungslos, aber nicht imstande, den Vormarsch des IS zurückzurollen.

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Kurdische Soldaten inspizieren ein offenbar vom IS zurückgelassenes Fahrzeug nördlich von Kirkuk.
Foto: AP Photo/Emad Matti

Da wird seit Monaten etwa in der Nähe von Baiji, wo auch Ölfelder sind, der "Islamische Staat" ein paar Kilometer zurückgeworfen – und ist ein paar Tage später wieder da. Von der Befreiung von Mossul oder dem im Frühjahr vom IS eroberten Ramadi ist gar keine Rede mehr.

Ein Staat, der keiner mehr ist

Unter den Flüchtlingen aus dem Irak sind auch Mitglieder der schiitischen Milizen: Die Motivation, die Schiitenhasser des IS aus dem Irak zu treiben, sinkt nach einem Jahr im Feld. Selbst wenn die schiitischen Kämpfer die sunnitischen Zivilisten, die sie befreien, nicht ihre vermeintliche Kollaboration mit dem IS spüren lassen, wie ihnen vorgeworfen wird: Willkommen sind sie dort nicht. Was hat es für einen Sinn, für einen Staat zu kämpfen und zu sterben, der eigentlich gar keiner mehr ist?

Wenn Soldaten als Flüchtlinge unterwegs sind, dann haben sie keine Lust, als solche erkannt zu werden: Es verträgt sich nicht mit dem Image der Schutzbedürftigkeit, auch wenn sie sich nichts zuschulden kommen haben lassen. In Zeiten von Facebook ist es aber oft nicht so einfach, seine Spuren zu verwischen, auch wenn die Fotos – von solchen in Uniform und Waffen auf "zivile" – ausgetauscht werden.

Unter Al-Kaida-Verdacht

Eine Facebook-Seite hat auch jenen syrischen Flüchtling mit dem kleinen Sohn eingeholt, dem von einer ungarischen Reporterin das Bein gestellt wurde: Bilder eines Verfolgten, über den Macht ausgeübt wird. Die syrische Kurdenpartei PYD, die die Kurdengebiete in Nordsyrien kontrolliert, behauptete, dass der Mann als ehemaliger Kämpfer der Nusra-Front – also der syrischen Filiale von Al-Kaida – identifiziert worden sei.

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Jener Mann, der auf seiner Flucht in den Westen von einer ungarischen TV-Reporterin getreten wurde, soll einen terroristischen Hintergrund haben – dieser dementiert vehement.
Foto: Reuters / Marko Djurica

Der spanische Fußballklub, der ihn aufgenommen hat, dementierte in seinem Namen diese Meldung entschieden. Was auch immer die Wahrheit ist, die Geschichte ist ein Vorgeschmack auf viele Diskussionen über einzelne Flüchtlinge, die noch bevorstehen. (Gudrun Harrer, 24.9.2015)