Der norwegische Literaturstar Karl Ove Knausgård stellt am Mittwoch, 30.9., in Wien seine Autobiografie "Min Kamp" vor.

Foto: André Loyning Forlaget

Wien – Man könnte jetzt etwas generalistisch sein und behaupten, dass der Blues nur dort entsteht, wo harte Feldarbeit und ethnische Diskriminierung in einem kapitalistischen Ausbeutersystem Hand in Hand gehen. Und weil es den Menschen dabei so schlecht geht, wird dann naturgemäß die Kunst besser und irgendwie auch intensiver, auf jeden Fall aber betroffener machend. Sich im Leid zu versenken kann in der Freizeit durchaus stimmungsaufhellende Wirkung zeitigen. Man verwechselt Klagegesänge ja auch gern mit einem Befreiungsschlag: Oh, Lord, ich bin so weit unten, dass selbst unten bei mir oben ist. Oh, oh, oh.

Irgendwann ab den Leiden des jungen Werther, den Alben Depeche Modes, Nirvanas und Radioheads, dem Gesumse von Kärntner Suhrkamp-Autoren oder dem einzig möglichen, nämlich das Leid der Welt als Monstranz vor sich hertragenden Gesichtsausdruck Robert Pattisons in der Beileidsaga wurde die ganze Angelegenheit von unsereinem übernommen. Privilegierter und trotz aller Bemühungen in Richtung sozialwirtschaftlicher Volatilität relativ spitzenmäßig abgesicherter weißer männlicher Mittelstand der Ersten Welt legitimiert für sich selbst das Leiden. Männer wie wir erklären es zur einzig relevanten Kunstform: Ich habe für meine Kunst gelitten. Jetzt sind Sie dran!

In Norwegen ist Karl Ove Knausgård diesbezüglich Ende der Nullerjahre zum absoluten Superstar der Selbstzerfleischungsliteratur geworden. Nach Anfängen etwa mit dem im alttestamentarischen Arche-Noah-Weltuntergangsgenre angesiedelten, wuchtigen und alles andere als stimmungsaufhellenden Engelroman Alles hat seine Zeit begann Knausgård in rascher Folge, mit gerade einmal 40 Erdenjahren sein sechsbändiges, 3600 Seiten starkes Hauptprojekt anzugehen. Min Kamp (Mein Kampf), dessen Einzelbände im Deutschen naturgemäß anders heißen müssen und deshalb unverbindliche Lalelu-Namen wie Sterben, Lieben, Leben, Spielen tragen, ist ein in der Literatur selten gewordenes Manifest der Maßlosigkeit.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 ins reiche und dank Erdöls rentenmäßig noch mehrere Generationen lang abgesicherte Norwegen geboren. Der Autor seziert in Min Kamp sein, sagen wir es vorsichtig, nicht unbedingt von seltsamen Vorkommnissen und unerwarteten Ereignissen beziehungsweise Sensatiönchen auch nur mittlerer Aufmerksamkeitswürdigkeit gekennzeichnetes Leben. Geburt, Schule, Arbeit – der Tod kommt zum Schluss.

Bei gerade einmal fünf Millionen Einwohnern verkaufte Knausgård von Min Kamp allein in Norwegen 500.000 Stück seiner Autobiografie, international hat er sich ebenfalls zu einem Bestseller gemausert. Nun liegt mit Träumen der fünfte der sechs von Knausgård bereits 2011 abgeschlossenen Bände auf Deutsch im Luchterhand-Verlag vor – und ihm geht es erwartungsgemäß auch weiterhin nicht ganz so toll.

Die Reihenfolge der Lektüre dieser trotz aller Redundanz und Feier des existenziellen Scheiterns durchaus süchtig machenden Literatur ist vollkommen egal. Nach Sterben, dem ersten Band von Min Kamp, in dem Knausgård im Wesentlichen schildert, wie sich sein Vater totsäuft und was bei der Entrümpelung eines total verwahrlosten Hauses alles an ekeligen Arbeiten anfällt, hat man freies Spiel in seinem Stationendrama.

In Lieben etwa geht es um seine erste Ehe und deren Scheitern. Zwischen quälender Trostlosigkeit, Trott, Leerlauf, Trott, dem Absterben der Liebe und nervenden Kindern versucht hier eine zerbrechliche Künstlerseele Ruhe und Kraft zu finden – und sich möglichst oft in der Schreibstube zu verstecken. Das ist in all seinem Elend und seinen seelischen Befindlichkeiten, die farblich zwischen herbstfahlem Licht und mittelgrauer Nebelsuppe schwingen, mitunter auch hochkomisch, etwa wenn sich Knausgård, ausgehend von einem Kindergeburtstag, zu einer Tirade über Helikoptermütter, Mineralwassermissbrauch und Karottensticks statt Schokokuchen aufschwingt.

Tatsächlich erweisen sich die über die Welt und ihre Gesamtsituation erbosten essayistischen Ausrutscher zwischen all der unerbittlichen, mit sich selbst gnadenlos ins Gericht gehenden Zerknirschungsliteratur als die wahren Pageturner in Karl Ove Knausgårds Werk.

Talent und Trauma

Man muss dazu bemerken, dass es möglicherweise besser ist, nur einen Band pro Jahr davon zu lesen, wenn man es nicht so wahnsinnig gern hat, dass man andauernd hinuntergezogen wird. Wenn man aber wissen will, wie leidensfähig der junge weiße Mann unserer Zeit heute etwa als lebensüberdrüssiger Lehrer im für Badenixen nicht gerade empfehlenswerten norwegischen Bergen ist und als angehender Schriftsteller im nun auf Deutsch vorliegenden 800 Seiten schweren Träumen nicht und nicht an sein Talent glaubt, der bekommt bei Knausgård das volle Programm.

Apropos: Wir verdanken dem Mann auch eine der erschütterndsten Szenen der Literaturgeschichte. In Spielen erzählt Knausgård von einem traumatischen Kindheitserlebnis beim Schwimmunterricht. Die Mutter kaufte ihm eine Badehaube mit Blumenbesatz. Danach, so viel ist sicher, wird man die Welt mit anderen Augen sehen. (Christian Schachinger, 29.9.2015)