Herrschaftszeiten aber auch. Andreas Schicker hat das Ladegerät in der Steiermark vergessen. Nun piepst sein linker Arm vor sich hin, zuerst unauffällig, dann hektisch. "Der Akku ist schon sehr schwach", sagt der 29-Jährige. Ein letztes Rotieren, ein letztes Zucken, dann verstummt der Motor. Schicker nimmt die Hand ab und legt sie zur Seite.

Umgang mit der Prothese? "Am Anfang musste ich vor jedem Griff nachdenken."

Eben noch wollte der Steirer die verschiedenen Griffe seiner Prothese vorführen, nun erklärt er deren Bedienung – und die verläuft nicht unbedingt intuitiv: "Am Anfang musste ich vor jedem Griff nachdenken. Will man etwa die Hand öffnen, muss man das imaginäre Handgelenk nach oben bewegen." Die unnatürlichen Reaktionen der Prothese fordern Routine, die Bewegungen erfolgen zudem etwas verzögert. "Mittlerweile hat sich mein Gehirn eingestellt. Alles Gewöhnungssache, ich komme damit gut zurecht."

Dort, wo einst die linke Hand war, wechseln sich nun zwei Prothesen ab.
Foto: Maria von Usslar

Am 23. November 2014 verlor Schicker seine Hand bei einem Unfall, seither lernt er im Umgang mit dem Ersatzstück laufend hinzu. Vorbei die Zeiten, als Joghurtbecher der Reihe nach vom Tisch fielen. Als er im Supermarkt die Hand versehentlich zum Drehen brachte und das Kleingeld verstreute. "Es ist gewöhnungsbedürftig, hat aber auch Vorteile", sagt Schicker mit einem Schmunzeln im Gesicht: "In den Fingern wird mir nicht mehr kalt."

Im burgenländischen Steinbrunn sollte man dieser Tage tatsächlich nicht kälteempfindlich sein. Der Zweitligist SC Wiener Neustadt bereitet sich im dortigen Landessportzentrum intensiv auf kommende Aufgaben vor, das Klima ist rau, die Kicker sind willig. Schicker gibt seit Juni neben Günter Kreissl den Co-Trainer, nun strebt er parallel eine Rückkehr als Profifußballer an.

Co-Trainer mit Zielen

Der Zeitplan steht: "Im Herbst möchte ich für unsere zweite Mannschaft antreten, im Frühjahr dann bei den Profis." Ein erster Testlauf ist absolviert, Anfang Oktober wurde Schicker in einem freundschaftlichen Match gegen den SV Grödig eingewechselt: "Ein wichtiger Schritt, im Umgang mit dem Ball bin ich wieder ganz der Alte."

Gleichzeitig muss er, der bereits 162 Spiele in der Bundesliga absolviert hat, etwas einschränken: "Mein letztes Pflichtspiel liegt bald eineinhalb Jahre zurück, vor dem Unfall hatte ich mir einen Kreuzbandriss zugezogen. Körperlich besteht Aufholbedarf, ich bin bei sechzig Prozent."

Auf dem Rasen nutzt Schicker nicht die mechanische, sondern eine weichere, funktionslose Prothese. Mit ihr will sich Schicker ohne Furcht dem Limit nähern. "Kürzlich wurde ich im Training von hinten niedergestreckt. Ich bin richtig auf die Pfeif'n gefallen. Solche Szenen brauche ich, ein richtig gutes Gefühl", sagt er mit dem im Profisport gebotenen Masochismus.

Beim Training des SC Wiener Neustadt in Steinbrunn, Andreas Schicker hat Humor: "Ein Handballspiel? Für mich nicht so super".
derstandard.at/von usslar

Mit jener fatalen Novembernacht hat Schicker abgeschlossen. "Ich will nicht sudern, ich brauche kein Mitleid. Es war eine Dummheit, und ich habe den Preis bezahlt. Man muss froh sein, dass nicht mehr passiert ist." Der Kicker hatte in seinem Heimatort Bruck an der Mur mit einem Knallkörper der Kategorie 4 hantiert. Beim Kauf von Silvesterraketen nahm er das Sprengmittel statt des Restgeldes an.

Selbst Berufspyrotechnikern – und nur diesen ist der Erwerb und die Zündung eines solchen Kalibers gestattet – wird bei der Explosion zu einem Abstand von mindestens 30 Metern geraten. Schicker aber hielt den Knallkörper noch in Händen.

Ein Tuscher und ein Surren

Was ihm in der Dunkelheit verborgen blieb: Die Zündschnur war zu kurz, möglicherweise bereits angesengt, es krachte ohne Verzögerung. "Zuerst war da ein Mordstrumm-Tuscher und dann ein großes Surren. Ich wusste im ersten Moment nur, dass ich Hilfe benötige."

Erst bei der nahegelegenen Polizeistation fiel Schicker schließlich die Tragweite seiner Verletzungen auf. "Ich wollte klingeln, aber da war keine Hand mehr." Auch die zweite Hand schien schwer verletzt. Die pragmatische Reaktion: "Ich habe mit dem Ellbogen angeläutet."

Eine Amputation war nicht mehr zu verhindern, seither muss der Linkshänder mit rechts auskommen, wohlgemerkt ohne die Endglieder bei Daumen und Zeigefinger. "Die rechte Hand war einbandagiert und zwei Monate nicht zu gebrauchen."

Gute Laune im Training, harte Arbeit in der Kraftkammer und die für einen Profifußballer geradezu obligatorischen Tätowierungen. Zwar nur als Strumpf über der Prothese, aber immerhin.
Fotos: Maria von Usslar

Erst durch die halbjährige Rehabilitation in der Klinik Tobelbad kehrten die motorischen Fähigkeiten zurück. Die Umstellung von links auf rechts sei das geringste Problem gewesen. "Man lernt verdammt schnell, wenn man keine Alternative hat. Ähnliches gilt für den Umgang mit der Prothese", sagt Schicker und zückt sein Smartphone.

Gefühl? "Da spürt man rein gar nichts. Da kann man mit der Säge durchfahren."

Ein Video zeigt ihn bei ersten Testeinheiten mit der künstlichen Hand, er greift nach Bauklötzen und lässt sie wieder los. Drei verschiedene Produkte standen zur Auswahl, letztendlich entschied sich Schicker für jenes der Firma Ottobock mit dem wohlklingenden Namen Michelangelo.

Nicht für feine Sachen

Die Sixtinische Kapelle wird der Fußballer trotzdem nicht restaurieren. "Für die feinen Sachen ist eine Prothese nicht geeignet." Wenn Schicker zugreift, muss er das Objekt der Begierde auch ansehen. "In einer Tasche könnte ich das Handy nicht von einer Kaugummipackung unterscheiden." Nüchternes Fazit: "Die Prothese ist ein super Hilfsmittel, kann aber keine Hand ersetzen."

Schicker erzählt, wie manche Medien im ersten Überschwang fälschlicherweise von Gefühlswahrnehmung sprachen: "Da spürt man rein gar nichts, kein Kalt und kein Warm, da kann man mit der Kreissäge durchfahren."

Das Ziel, auf den Fußballplatz zurückzukehren, hat Schicker nie aus den Augen verloren. "Ich war nie depressiv, habe sofort nach vorne geschaut und immer an das Comeback geglaubt."

Die Eigenschaften der Prothese im Überblick. Sie wird über die Muskeln im Arm gesteuert.

Nun könnte sich der Laie fragen, weshalb ein Fußballspieler überhaupt auf seine Hände angewiesen ist? Schicker gibt Aufklärung: "Wenn man aus einem Meter Höhe auf den Boden fällt, braucht es einen Stoßdämpfer, dann muss man sich abstützen können." Als linker Außenbahnspieler ist Schicker zudem für die Einwürfe verantwortlich. Auch bei Lauf- und Kopfballduellen wird an der Grenze des Reglements und darüber hinaus mit den Händen gearbeitet. Obendrein ist es eine Frage des Gleichgewichts.

Spielen ohne Prothese? "Nicht ideal, es hat immer etwas gefehlt."

Um den Fremdkörper so klein wie möglich zu halten, wollte Schicker zunächst nur einen Schutzkelch tragen. Die Idee wurde verworfen. "Es hat immer etwas gefehlt. Wenn ich also auf höchstem Niveau spielen will, muss ich die Sportprothese tragen." Deren Gewicht beträgt rund ein Kilogramm und entspricht etwa jenem der verlorenen Extremität.

Auf dem Platz denkt Schicker kaum noch an seine Verletzung, der Lernprozess geht allmählich in Normalität über. Auch die Kollegen gehen wieder mit Respektlosigkeit zur Sache: "Am Anfang haben sie nach jedem Zweikampf gefragt, ob eh alles okay ist. Mittlerweile bin ich als Spieler wieder voll integriert." Nachsatz: "Ich kann mich schon durchsetzen. Selbst mit dem Stumpf habe ich einen ganz guten Hebel."

Genehmigung durch die Fifa

Um in Pflichtspielen tatsächlich mit einer Prothese antreten zu dürfen, musste Schicker noch einen Haufen Papierkram erledigen. Am Freitag erhielt er letztendlich die ersehnte Genehmigung. Nach Begutachtung der Causa durch die Fifa gab auch der Österreichische Fußballverband grünes Licht. Eine Verletzungsgefahr sei weder für Schicker noch für die Gegenspieler gegeben.

Wie die Fifa dem Standard bestätigt, ist Schicker somit der weltweit erste Fußballprofi mit einer Armprothese. Das spornt ihn an, sorgt im Training für zusätzliche Motivation: "Das ist für mich eine ganz tolle Geschichte. Ich will zeigen, was möglich ist."

Im Labor gibt Andreas Schicker den Testanwender.
Foto: Ottobock

So wie der im März verstorbene Steirer Martin Hofbauer. Er erhielt 2013 als erster Kicker mit Beinprothese die Spielberechtigung, war allerdings nur im Amateurbereich aktiv. Oder Robert Schlienz. Der Deutsche verlor 1948 seinen linken Unterarm bei einem Autounfall, trotzdem gelang der Vereinslegende des VfB Stuttgart – ohne Prothese – der Sprung ins Nationalteam.

Beim deutschen Prothesenhersteller Ottobock hat Schicker nicht nur einen "kleinen Sponsorvertrag" unterschrieben, er ist in der Forschung der Wiener Dependance auch wöchentlich mehrere Stunden als Testanwender tätig. Ziel ist es, die Steuerung zu verbessern, sie intuitiver zu gestalten. "In meinem Kopf ist die Hand ja noch da. Man spricht von Phantomgefühl."

Ein instinktives Drehen der Hand soll auch die Prothese zum Drehen bringen. Der gesamte Bewegungsablauf soll dem natürlichen Muster näherkommen, die Technik sich dem Menschen anpassen und nicht umgekehrt.

Der Hersteller profitiert im Labor von des Sportlers Lernfähigkeit. Im Gegenzug ist Schicker immer mit dem neuesten Material vertraut: "Ich bin abhängig von den Prothesen. Und so lerne ich, mit den modernsten Produkten umzugehen. Ich werde ja noch einige erleben."

Bei sporadisch auftretenden Problemen mit der Prothese hilft Schicker auch der gute Draht zum Unternehmen, Anruf genügt. "Falls irgendetwas nicht funktioniert, kann ich direkt rüber." Oder falls ihm das Ladegerät abhandenkommt. Kann ja passieren. (Philip Bauer, 31.10.2015)