Obwohl die Attentate in den USA vom 11. September 2001 weiterhin mit Abstand die folgenschwersten bleiben, was die Opferzahl, aber auch die politischen Entwicklungen danach betrifft, kann man sagen, dass der "Islamische Staat" (IS) Al-Kaida im internationalen Jihadismus den Rang abgelaufen hat. In Europa war die Wirkung beider Organisationen gleich schrecklich – man erinnere sich etwa der Al-Kaida-Attentate in London und Madrid im Jahr 2005. Im Nahen Osten hat der IS eine neue Dimension der Terrorausübung der Zivilbevölkerung gegenüber eingeführt. Aber dem IS ist gleichzeitig etwas gelungen, das Al-Kaida versagt blieb: Er ist nicht nur eine Terrororganisation, sondern arbeitet an der Verwirklichung einer Utopie, an die manche Muslime glauben.

Al-Kaida beschränkte sich auf den Kampf gegen ihre Feinde und konnte keine konkreten Offerte machen, wie, aber vor allem wo ihre Anhänger leben könnten. Das Taliban-Regime in Afghanistan, wo Al-Kaida in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Unterschlupf fand, war eine rein paschtunische, also eigentlich tribale Angelegenheit. Zum "Islamischen Staat" hingegen gehört die Auflösung aller Grenzen, ethnischer und politischer, vor allem auch der nationalstaatlichen. Das Projekt ist das allumfassende "Kalifat" – wozu auch die Hybris einer einzelnen Person nötig war: Abu Bakr al-Baghdadi (eigentlich Ibrahim Awad al-Badri) ließ sich im Juli 2014 in Mossul zum Kalifen ausrufen.

IS, ISIS, ISIL, Daesh

Damals eliminierte der "Islamische Staat in Irak und Syrien" typischerweise die beiden Staatsnamen: Die Grenze zwischen dem Irak und Syrien hatte die Organisation ja auch teilweise zum Verschwinden gebracht. Im STANDARD kürzen wir seitdem die Organisation mit IS ab, es haben sich aber auch, besonders im Englischen, die Bezeichnungen ISIS oder ISIL (das L steht für "Levante") gehalten. Auch das arabische "Daesh" ist nichts anderes als das Akronym der arabischen Wörter für ISIS. Lange Zeit zögerten wir auch, "der" IS zu sagen, wie "der Staat": War IS nicht nur einfach eine Terrormiliz? Leider muss man das heute verneinen.

Seine Herkunft hat der IS im Irak, wie ja auch der Großteil seiner Führung aus Irakern besteht (die Macht in der Organisation ist also noch nicht internationalisiert). 1999 hatte ein Jordanier, Abu Musab al-Zarqawi, der in Afghanistan ausgebildet wurde, seine erste islamistische Organisation gegründet, die den Sturz des jordanischen haschemitischen Königtums zum Ziel hatte. Nach der US-Invasion des Irak im Jahr 2003 fand Zarqawi aber ein lohnenderes Betätigungsfeld: Er zog in den Irak, um die Amerikaner – und die neue politische Elite, die Schiiten – zu bekämpfen. 2004 legte er den Treueschwur auf Al-Kaida ab und gründete die "Al-Kaida in Mesopotamien" (Al-Kaida im Irak/AQI). Das proklamierte Ziel – das bekanntlich erreicht wurde – war, die Schiiten durch Terrorangriffe in den Bürgerkrieg zu treiben.

Im Juni 2006 wurde Zarqawi bei einem US-Luftschlag getötet, und aus AQI wurde im Oktober desselben Jahres ISI: Der "Islamische Staat im Irak" unter Abu Omar al-Baghdadi wurde proklamiert. Als dieser 2010 getötet wurde, war die Organisation bereits stark geschwächt, der irakische Bürgerkrieg von der Staatsmacht – erst einmal – gewonnen. Für den neuen Führer, Abu Bakr al-Baghdadi, war deshalb der 2011 in Syrien ausbrechende Aufstand ein Geschenk, eine Chance zur Wiederauferstehung. 2012 half er vom Irak aus in Syrien eine Al-Kaida-Organisation aufzubauen: die Nusra-Front (Jabhat al-Nusra li Ahl al-Sham). Gleichzeitig schwappte auch die ISI nach Syrien über und begann zu kämpfen und zu erobern.

ISIS sagt sich von Al-Kaida los

Und 2013 passierte das Erstaunliche: Abu Bakr al-Baghdadi wollte ISI und Nusra-Front unter dem Namen "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) vereinigen, Letztere wehrte sich jedoch, worauf die Al-Kaida-Führung (der Nachfolger Osama Bin Ladens, der Ägypter Ayman al-Zawahiri) zuerst vermittelnd und dann von Abu Bakr al-Baghdadi Gehorsam fordernd eingriff: Dieser sagte sich daraufhin unter dem Namen ISIS von Al-Kaida los. Die Welt hatte fortan zwei mächtige miteinander konkurrierende jihadistische Organisationen.

ISIS kontrollierte ab 2013 die syrische Stadt Raqqa, begann aber schon in diesem Jahr wieder zurück in den Irak einzudringen. Im Juni 2014 eroberten ein paar tausend Mann die zweitgrößte Stadt des Irak, Mossul. Der IS-Vormarsch auf die Kurdengebiete hatte ein militärisches Eingreifen der USA aus der Luft zur Folge, zuerst im Irak, dann auch in Syrien. Fast eineinhalb Jahre und viele tausend Luftangriffe danach bleibt der IS unbesiegt. (Gudrun Harrer, 15.11.2015)