Otto F. Kernberg beschäftigt sich seit 60 Jahren intensiv mit der Psychoanalyse.

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"Wahrheit ist wichtiger als affirmative Anhängerschaft,", ist ein Leitsatz, der ihn seine gesamte berufliche Laufbahn begleitet.

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Der Hörsaal A der Medizinischen Universität ist bis zum letzten Platz gefüllt. Die psychoanalytische Gesellschaft Wiens scheint zur Gänze vertreten zu sein, auch Mitglieder anderer psychotherapeutischer Richtungen sind im Publikum und warten gespannt auf Otto F. Kernberg – Psychiater, Psychoanalytiker, psychoanalytischer Psychotherapeut.

Wie nur wenige andere blickt er auf mehr als ein halbes Jahrhundert Geschichte und Entwicklung der Psychoanalyse zurück. Die von Sigmund Freud begründete Lehre ist einem ständigen Wandel unterlegen. Eine Vielzahl unterschiedlicher, teils einander widersprechender Strömungen sind im Laufe der Jahrzehnte entstanden.

Freuds Tochter Anna führte die Gedanken ihres Vaters fort, erweiterte und vereinte sie in der Ichpsychologie, die das Individuum im Zentrum des Interesses sieht. Melanie Klein wiederum legte den Schwerpunkt verstärkt auf die Bedeutung der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind, und entwickelte die sogenannte Objektbeziehungstheorie. Zwischen Vertretern dieser beiden Ansätze kam es in Folge zu heftigen Kontroversen.

Kernberg, ein Brückenbauer

Dass ein Wettstreit nicht zu einer Verhärtung von Fronten führen muss, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit mehreren Seiten zu einem befruchtenden Ergebnis führen kann, dafür steht Otto F. Kernberg. "Wahrheit ist wichtiger als affirmative Anhängerschaft,", ist ein Leitsatz, der ihn seine gesamte berufliche Laufbahn begleitet und ihn vor einer ideologischen Vereinnahmung seitens im Widerstreit liegender psychoanalytischer Ausrichtungen bewahrt hat. Die Wahrung von Objektivität und unabhängigem Geist sowie seine Offenheit für unterschiedliche Sichtweisen haben ihn zum Brückenbauer zwischen klassischer und moderner Psychoanalyse gemacht.

Otto Friedmann Kernberg wird 1928 in Wien geboren. Der Einmarsch Hitlers veranlasst seine Familie 1939 zur Flucht nach Valparaiso, einer Stadt an der chilenischen Pazifikküste. Der Abschied von Wien fällt dem damals 11-Jährigen schwer. Anfängliche Sehnsucht und Heimweh nach seinem Geburtsland versucht er durch intensiven Kontakt zu österreichischen Emigranten zu lindern. Das eröffnet ihm den inneren Raum für die Hinwendung zu seiner neuen Heimat Chile, wo Kernbergs Karriere beginnt.

Kernberg studiert zunächst Medizin an der Universität in Santiago de Chile. Angeregt durch seinen damaligen Professor sowie durch seinen Onkel Manfred Sackel, ebenfalls Mediziner, entscheidet er sich für eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und Psychiater. Sein Interesse an psychotischen Patienten führt ihn 1959 an die Johns Hopkins Universität in Baltimore/USA, wo er erstmals in der Psychotherapieforschung tätig wird.

Evidenz und Psyche

Die Evaluierung therapeutischer Prozesse und Behandlungen zwecks ständiger Qualitätsverbesserung werden ihm zum besonderen Anliegen. Bei seiner Rückkehr nach Chile versucht Kernberg die dortige psychoanalytische Gesellschaft von der Bedeutung empirischer Forschung im Sinne des Wohls der Patienten zu überzeugen, findet aber wenig Resonanz, was ihn dazu veranlasst, sich in den 1960er-Jahren dauerhaft in den USA niederzulassen.

"Menschen, die versuchen, Brücken zu bauen, werden am Ende von beiden Ufern aus abgeknallt." Dieses Zitat eines früheren Mentors Kernbergs lässt die Schwierigkeiten erahnen, mit denen er sich wegen seines integrativen Verständnisses konfrontiert sieht.

Aber Kernberg lässt sich nicht beirren. Seine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen theoretischen Zugängen im eher kleinianisch orientierten Südamerika sowie der ichpsychologischen Ausrichtung in der USA führt ihn letztlich zu einer Integration beider Ansätze, konkret zu einer eigenen Theorie. Im Rahmen seiner klinischen Tätigkeit wird er zum Experten auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen. Borderline und pathologischer Narzissmus sind besonders eng mit dem Namen Kernberg verbunden.

Mit der "Übertragungsfokussierten Psychotherapie" gründet er eine neue Methode für die Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen, was auf den Umstand zurückzuführen ist, dass ihm die klassische Psychoanalyse für diese Patientengruppe nicht geeignet scheint. Das Konzept der Persönlichkeitsorganisation, wesentlich für Diagnostik und Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, geht ebenfalls auf ihn zurück. (Daniel Weber, 22.11.2015)