Otto-Mauer-Preis-Trägerin Catrin Bolt (36) denkt passive Mahnmäler als aktive Alltagsskulpturen.

Foto: Catrin Bolt © Bildrecht, Wien 2015

Wien – Ein erotisches Knistern liegt in der Luft: zwei Gesichter ganz nahe, die Lippen der beiden Frauen berühren sich fast. Die Schenkel, an die sich die zarte junge Dame im Hemdchen schmiegt, sind allerdings aus Bronze und gehören zur Ybbs, einer mädchenhaften Gestalt am Donnerbrunnen in Wien.

Catrin Bolt: aus der Serie "Statuen umarmen", Wien, 2000
Foto: Catrin Bolt

15 Jahre ist es her, dass Catrin Bolt am Brunnen auf dem Neuen Markt herumkraxelte. Nette Gesten würden nicht viel mehr als ein Schulterzucken auslösen, so die Künstlerin, die heute, Donnerstag, den renommierten Msgr.-Otto-Mauer-Preis der Erzdiözese Wien erhält.

Körperliches, ja sexuell Anstößiges provoziere viel eher. Denn schließlich gelte es etwas zu finden, was Aufmerksamkeit erregt. Nur so gelinge es, Denkmäler, die Jahr und Tag relativ unbeachtet herumstehen, ins Bewusstsein zu rücken und zu vergegenwärtigen. Das Problematische seien nicht die in ihrer Zeitlichkeit verankerten Denkmäler oder die Sockel, sondern "dass sie auch in den Köpfen auf einem Sockel stehen". Ein Podest, das jene "aus einem diskutierbaren Kontext enthebt".

In Kärnten war dies für Bolt, die 1979 in Friesach geboren wurde, besonders dringlich. Denn dort nimmt die Fotoserie Statuen umarmen just 1999, als Jörg Haider Landeshauptmann wurde, ihren Anfang. Sie griff die Kriegerdenkmäler zum Kärntner Abwehrkampf 1918 auf, dem historischen Bezugspunkt für den ewigen Ortstafelstreit. "Sie sind so unantastbar", sagt Bolt, die damals beschloss, die Szenen zu verändern, indem sie zu den Statuen auf die Sockel stieg. Sie warf sich den erstarrten Kämpfern an den Hals oder schmiegte sich in die bewaffneten Arme, brach so das militante Gehabe als Demonstration von Macht auf.

Catrin Bolt: aus der Serie der "Guerilla-Skulpturen (Fluss)" (2011)
Foto: Catrin Bolt © Bildrecht, Wien 2015

Damals begann auch Bolts intensive Beschäftigung mit dem öffentlichen Raum. Diesen nutzt sie gerne für ihre Methode der "konstruktiven Missverständnisse": In Viehofen bei St. Pölten, dort, wo heute ein künstlicher See und ein Freizeitpark Badende und Jogger anlocken, befand sich – von vielen vergessen oder verdrängt – einst ein Zwangsarbeitslager für ungarische Juden und Jüdinnen.

Wer seit 2010 an den See kommt und zur Orientierung auf die dort aufgestellten Tafeln mit Plänen blickt, den schickt Bolt in der Zeit zurück: Auf den Luftaufnahmen von 1945 ist weit und breit kein Wasser zum Planschvergnügen auszumachen, sondern nur die Baracken der einstigen Lager.

Bolt spielt mit den Wahrnehmungsgewohnheiten der Leute und setzt dabei auch auf deren Neugier. In Graz kann man seit 2013 zwischen Jakomini- und Grießplatz auf brutale Wortfetzen auf dem Asphalt stoßen: "Schlug mich mit seiner Faust so stark ins Gesicht, dass mir das Nasenbein schwer verletzt wurde" oder "Wurde alles klein und dünn geschlagen", liest man in schwarzen, auf den Gehsteig gepinselten Lettern.

Lauftext von Catrin Bolt in Graz
Foto: Catrin Bolt

Es sind Auszüge aus den Erinnerungen des ehemaligen Rabbiners David Herzog, der bei den Novemberpogromen durch die Stadt gezwungen wurde. Im Alltag stoße man stets auf die gleichen Sätze, so Bolt. Sie hofft darauf, dass man einmal die ganze Geschichte erfahren möchte und der vollständigen, 760 Meter langen Route folgt.

Gedächtniskultur fällt den Leuten so quasi direkt vor die Füße: Bolt löst sich von der Vorstellung, Mahnmäler müssten sich als fixe Objekte manifestieren. Alltagsskulpturen Mahnmal hieß denn auch die Wiederholung (mit weißer Straßenmarkierungsfarbe) dieses Lauftext-Prinzips, das auch das verharrende Innehalten, die Passivität in eine Aktivität verwandelt: eine Erinnerung des Abschreitens.

Sehr, sehr temporäre Skulptur von Catrin Bolt aus der Serie "Skulpturenpfad Garikula" (2005).
Foto: Catrin Bolt © Bildrecht, Wien 2015

Bolt inszeniert ganz generell den Blick der Betrachter. Nicht nur, wenn sie in Armenien Sehenswürdigkeiten fotografisch fakt und als Postkarten in Souvenirshops schmuggelt. Was ihre Arbeiten eint? Die "Leute ein wenig reinzulegen", antwortet Bolt, die es darauf abgesehen hat, die Denkschemata der Leute zu verschieben. Plastikfolien werden vor ihrer Linse zu Landschaften: ein spielerischer Zugang zu ihr sehr wichtigen Umweltschutzthemen, der möglicherweise vor der Gefahr der "Zeigefinger-Kunst" schützt.

Catrin Bolt: "Plastiklandschaft, Galerie nectar" (2015)
Foto: Foto: Catrin Bolt, © Bildrecht, Wien 2015

Vergängliches im Ewigen

Mistkübel oder weggeworfene Computermonitore verwandelt sie fotografisch zu monumentalen Architekturen, die an Museen moderner Kunst (MoMA-Serie) denken lassen. "Sie wirken wie etwas ewig Haltbares, obwohl Kunst – zumindest heute oft – sowas total Vergängliches hat." Oder 2007 in der Galerie Winter, als man mögliche Ausstellungsobjekte nur in einem Film betrachten konnte – sie also als Blickregisseurin die Inszenierungsmacht hatte. "Das sind jedoch Dinge, die sich nicht so gut verkaufen lassen."

Auch im Jesuiten-Foyer, wo Bolt anlässlich der Auszeichnung eine Schau gewidmet ist, zeigt sie keine Werke. Vielmehr hat sie ihren Wohn- und Arbeitsraum komplett dorthin transferiert, samt Klavier, Bibliothek, der Tarantel hinter Glas, der von der Großmutter geerbten Zuckersammlung oder der von Punk dominierten Plattensammlung. Dass kein Computer dabei ist, ist nicht etwa inkonsequent: Bolt hat zuhause einfach keinen solchen Zeitfresser.

Das umgezogene Inventar versteht sie nicht als Installation, sondern als benutzbares Interieur. Bei der Eröffnung werde es hoffentlich sehr belebt und benutzt, wünscht sich die Künstlerin, die auch den intimen Einblick, den dieses Experiment gewährt, nicht scheut. Sogar ihre Notiz-Tagebücher – vorn Ideen, hinten Privates – finden sich dann vor Ort. "Ich habe ganz viele, ganz schlechte Ideen", sagt Bolt, lacht dabei herzlich, räumt aber ein: "Die sind aber total wichtig, denn irgendwann kombinieren sich zwei schlechte Ideen, und zwischendrinnen entsteht etwas sehr Interessantes."

Interessant ist auch der Titel ihrer Ausstellung, Kapital und Interessen, meine Schulden groß und klein werden einst verrechnet sein, der sich auf Tue Rechnung! Donnerwort, einer Kirchen-Kantate von Johann Sebastian Bach, beruhend auf einem Text von Salomon Franck von 1715 bezieht. Franck verwendet darin ausdrücklich monetäre Begriffe für Schuld. Das passt für Bolt einfach ganz wunderbar zu unserer jetzigen Zeit. Mit ihrem Projekt der Gastfreundschaft hat das aber nicht unmittelbar zu tun. (Anne Katrin Feßler, 2.12.2015)