Das mit dem Gegenlicht war natürlich blöd. Andererseits passte es auch. Schließlich ist Haile Gebrselassie Gott. Oder ein Heiliger. Oder – zumindest – der Messias. Schon im Religionsunterricht habe ich gelernt, dass man sich zwar einerseits "kein Bildnis machen" soll, und deshalb immer irgendwas Strahlenkranzig-Blendendes abbildet – und andererseits auch alles, was sich da im und am christlichen Firmament trotz "keine anderen Götter neben mir" tummelt, einen Heiligenschein bekommt. Also im Gegenlicht platziert wird.

Foto: THomas Rottenberg

So gesehen saß Haile Gebrselassie genau richtig, als wir Ende November, am Tag nach dem Great Ethiopian Run, zur Privataudienz in den achten Stock seines Büroturms im Zentrum von Addis Abeba gebeten wurden: Gott lud uns, eine kleine Läufergruppe aus Österreich, ein. Und weil wir als Fans kamen und es einen Unterschied zwischen "professionellem Pressetermin" und einem "Meet & Greet" gibt, war es ein Gebot der Höflichkeit, im ebenso nüchternen wie sich der ziemlich waagrecht hereinlachenden Morgensonne voll öffnenden Büro von Haile Gebrselassie nicht umzubauen oder die Sitzordnung umzudrehen.

So was gehört sich nicht – und meine Mitreisenden staunten (höflich gesagt) ohnehin schon, mit welcher Selbstverständlichkeit ich mich als Journalist über sichtbare und unsichtbare Absperrungen und Grenzlinien hinwegsetzte: Berufskrankheit. So ein Trip kann durchaus heilend-erdend-relativierend sein.

Foto: THomas Rottenberg

Egal. Gott jedenfalls hatte Zeit für uns. Und das, obwohl wir ihn ja schon am Tag vor dem Lauf der 40.000 durch die äthiopische Hauptstadt ein bisserl für uns gehabt hatten: Die 42-jährige Lauflegende (ich erspare es mir und Ihnen, hier seine Vita, seine Erfolge und seine Rekorde runterzubeten. Das steht alles auf Wikipedia und in 100.000 Porträts und Features nachzulesen.) war am Tag vor dem Great Ethiopian Run schließlich zur "Pasta Party" für die 700 nicht-afrikanischen Läuferinnen und Läufer in Hotel Hilton gekommen und hatte den Saal genau so "gerockt", wie er es in Wien, Paris und 1000 anderen Städten getan hatte, wenn er ebendort an- und aufgetreten war.

Thomas Rottenberg

Nur: Addis Abeba ist anders. Für uns – aber auch für den charismatischen Ausnahmesportler: Haile – Äthiopier reden einander mit Vornamen an, da der Nachname der Rufname des Vaters oder der Mutter ist – ist in Addis, in Äthiopien und (angeblich – und ich bezweifle es nicht) in halb Afrika eine Ikone. Ein Stück Selbstbewusstsein und Self-Empowerment. Der Mensch gewordene Beweis, dass es auch hier möglich ist, sich selbst aus einer Welt, in der Armut, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit omnipräsent sind, hoch zu arbeiten. Mit nichts, als den eigenen Händen. Oder eben den Füßen.

Foto: THomas Rottenberg

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Haile Gebrselassie kam aus dem Nichts. Und hat alles erreicht. Auf den ersten Blick als gefeierter Sportstar. Auf den zweiten als Werbe- und Imageträger, dessen Gesicht in Addis Abeba auf Plakaten für eine ganze Menge Produkte omnipräsent ist.

Auf den dritten als Unternehmer: Haile Gebrselassie ist ein Imperium. Ein Konzern: Er ist Generalimporteur einer Fernost-Automarke, besitzt Büro- und andere Immobilien, betreibt Freizeit- und Eventstätten – und seine Frau ist Kopf einer großen Fitnesscenterkette.

Foto: ap/sladky/file

Darüber hinaus investiert er in Hotels – und bringt ein wenig außerhalb von Addis Abeba gerade ein Sport-Resort so auf Vordermann, dass es auch gehobenen europäischen Ansprüchen für Trainingscamps entsprechen soll. Und wird: Der Läufer weiß von 1.000 Auslandsaufenthalten nicht nur, was verwöhnte Europäer an Komfort erwarten, sondern auch, welche professionellen Trainingsbedingungen und -features die ohnehin fast unschlagbaren afrikanischen Läufer, dann wohl noch unbesiegbarer machen.

Foto: THomas Rottenberg

Das war im Übrigen auch der Grund unseres Besuches bei ihm: Unser Trip war vom niederösterreichischen Lauf- und Triathlontrainer Harald Fritz organisiert worden. Einerseits, weil wir bei der legendären äthiopischen Laufparty dabei sein wollten. Aber auch, weil Fritz die Möglichkeiten für Lauf- und Tri-Camps in Äthiopien ausloten wollte. Und ein besseres Label als "Haile Gebrselassie" ist da wohl schwer vorstellbar – obwohl auch in Afrika eins gilt: Trainieren und laufen muss man schon selbst.

Foto: THomas Rottenberg

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Denn auch wenn es unumstritten ist, dass die Kombination aus Lage, Höhe (Addis Abeba liegt auf 2400 Metern Seehöhe, Hailes Yaya Village etwa auf 2800) und langen, alltäglichen Fußwegen einen Teil der afrikanischen Lauf-Allmacht ausmachen, genießen auch diese Athleten heute professionellste Betreuung. Vom Training bis hin zu Vermarktung und Managment (zu diesem "afrikanischen Markt für Läufer" kommt nächstes Mal hier ein bisserl mehr): Auch wenn Abebe Bikila 1960 in Rom (s. Bild) beim Marathon den erste Olympiasieg eines schwarzafrikanischer Athleten barfuß errang, ist derlei heute nur noch Folklore. In den Alpen käme heute ja auch niemand mehr auf die Idee, sich mit dem Material eines Anderl Molterer die Streif runter zu lassen – und von Medaillen zu träumen.

Foto: ap/file

Doch Folklore ist wichtig. Wenn sie der Grundstein dessen war, was Gegenwart und Zukunft darstellen: Dass Haile Gebrselassie "seinen" Ethiopian Run barfuß beendete, war eine Hommage an und eine Ehrung des großen, 1973 verstorbenen äthiopischen Bikila.

Und einer dieser Momente, in denen sich die wahre Größe eines ganz Großen zeigt: Natürlich könnte sich einer wie Haile einfach feiern lassen. Sich als jene Instanz und Autorität gerieren, die zu besiegen andere Läufer – etwa dem fast ebenso großen Bekele Kenesia, der hier nächste Woche auch noch eine Rolle spielen wird – fast in ein moralisches Dilemma stürzt.

Foto: Robert Bauer

Aber Haile lacht dieses für ihn so charakteristische Lachen – und erweist jedem, der ihm über den Weg läuft genau jenen Respekt, der ihm selbst entgegen gebracht wird: Ich habe selten jemanden kennen gelernt, dem das "alle Menschen sind gleich" so aus den Augen strahlte, wie diesem kleinen großen Mann.

Foto: THomas Rottenberg

Natürlich kann ich mich da jetzt auch gewaltig irren. Aber ganz ehrlich? Ich glaube es nicht. Nicht, weil ich mir so viel auf meine Menschenkenntnis einbilde. Sondern weil es aus Haile Gebrselassies Perspektive unsinnig wäre, sich so zu geben, wie er mir und allen, die mir von Treffen oder Erlebnissen mit ihm erzählten, gegenübertrat: Voll Empathie, aufmerksam, freundlich, humorvoll, nahbar und unendlich positiv. Und ohne jede Affektiertheit, Attitüde oder Überheblichkeit – sogar dann, wenn die Zeit und die Aufmerksamkeit, die er anderen widmete, auf Kosten seines eigenen Komforts gingen: Wer tut sowas schon, wenn es nicht echt ist – wo es ihm doch nichts bringt.

Foto: THomas Rottenberg

Außer Karmapunkten – nur kann man mit denen nicht einkaufen gehen. Auch nicht mit den Herzen und der Sympathie derer, die einem begegnen oder zufliegen: Unsere Plauderei mit dem Superstar war alles andere als tiefschürfend oder substantiell. Aber darum ging es nicht. Keine Sekunde lang.

Foto: THomas Rottenberg

Trotzdem hatte jeder von uns nach den 20 Minuten im 8. Stock nicht nur Fotos und Autogramme, sondern vor allem das Gefühl, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben: Weil es alles andere als selbstverständlich ist, dass einer, der laufen kann wie Haile Gebrselassie, "Hobetten" und Normalos tatsächlich auf Augenhöhe gegenüber tritt.

Foto: THomas Rottenberg

Dass er läuferisch, sportlich und auf 1.000 andere Arten immer wieder als Vorbild herangezogen wird, wurde für mich da fast irrelevant: Auch wenn das Gegenlicht ihm einen Heiligenschein verlieh, saß da nämlich einfach ein Mensch. Und das war wundervoll.

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise wurde privat bezahlt, Ethiopian Airlines unterstützte die Anreise durch ein Upgrade. (Thomas Rottenberg, 4.12.2015)

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thomas rottenberg