Am Heiligen Abend mit den Liebsten das perfekte Fest zu feiern ist ein inniger Wunsch vieler Menschen.

Illustration: Armin Karner

Es gibt keine Erwachsenen, es gibt nur Kinder, die so tun wie Erwachsene." Dieser Satz treffe besonders am Heiligen Abend zu, sagt Dominik Borde, Beziehungscoach für Paare und Singles. Weihnachten, das sei das Fest der Sinne, emotionale Eindrücke wirken am Heiligen Abend besonders stark, sagt Borde. Erinnerungen an die eigene Kindheit – gute wie schlechte – werden bei dem Familienfest schlechthin wieder wach.

Bernhards Weihnachtserinnerungen teilen sich in zwei Epochen: in die Zeit vor der Scheidung seiner Eltern und in die Zeit danach. Weihnachten vor der Scheidung, das war in seiner Vorstellung mindestens so idyllisch wie in der Fernsehwerbung. Die Eltern vermochten es, die Kinder am Heiligen Abend in eine Märchenwelt zu entführen.

Der Vater las die Weihnachtsgeschichte, die Mutter bekam beim "Stille Nacht, Heilige Nacht"-Singen feuchte Augen. Bis heute erinnert sich der 32-Jährige an den goldenen Spitz, der ganz oben auf dem Baum prangte, und an die selbstgebastelten Strohsterne, die im Laufe der Jahre zwar an Form verloren, aber trotzdem immer zum Einsatz kamen.

Zum perfekten Weihnachten gehörten sie einfach dazu. Ein Baum ohne Strohsterne war für Bernhard genauso undenkbar, wie das Fest ohne seinen Vater, ohne seine Mutter oder ohne seine Schwester zu feiern.

Mit neun Jahren musste er es dann doch erstmals erleben: Weihnachten ohne den Vater, der schon in den Sommerferien ausgezogen war. Diese Weihnachten waren die traurigsten aller Zeiten, erinnert sich Bernhard heute. Die Mutter reiste mit den Kindern am Tag vor dem Heiligen Abend in den Skiurlaub.

Ein kleines Bäumchen ohne die kaputten Strohsterne und ohne den erhabenen Spitz stand im Hotelzimmer. Beim Singen brach die Mutter in Tränen aus. Später rief der Vater im Hotel an und wünschte Bernhard und seiner Schwester frohe Weihnachten.

So wie Bernhard können auch viele andere Kinder das Fest der Familie nicht mit Mama und Papa gemeinsam verbringen. Im Jahr 2014 wurden in Österreich 37.458 Ehen geschlossen und 16.647 geschieden. In mehr als 10.000 Fällen waren Kinder in die Scheidung involviert. Eine Ehe hält hierzulande durchschnittlich zehn Jahre.

Patchwork und Singleeltern

1.211.000 Kinder unter 15 Jahren lebten 2014 laut Statistik Aus-tria in Familien in Österreich – drei Viertel mit verheirateten Eltern in einem Haushalt, 191.000 Kinder lebten in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und 149.000 in Ein-Eltern-Familien. 139.000, also die überwiegende Mehrzahl der Kinder unter 15 mit Singleeltern, lebten bei ihrer Mutter, 10.000 bei ihrem Vater.

Die Statistiker zählten österreichweit im Vorjahr rund 652.000 Paare mit Kindern unter 15 Jahren, 55.500 von ihnen werden als "Stieffamilien" ausgewiesen – das sind Familien, in die Eltern ihre jeweiligen Kinder aus vorhergegangenen Ehen oder Lebenspartnerschaften eingebracht haben. Kinder in Stieffamilien sind mehrheitlich zu zweit, mehr als die Hälfte dieser Kinder ist unter sechs Jahren alt.

Wie traurig Kinder über die Absenz eines Elternteils zu Weihnachten sind, sei abhängig von der Lebenssituation insgesamt und vom Umgang der Eltern miteinander, sagt Dagmar Bojdunyk-Rack, Geschäftsführerin des österreichweit tätigen Vereins Rainbows, der Kinder und Jugendliche nach Trennung oder Tod der Eltern in Gruppen betreut und Eltern berät.

"Für Kinder steht im Vordergrund, dass sie sich auf Mama und Papa verlassen können und dass die Eltern einen Weg gefunden haben, ihrer Verantwortung gerecht zu werden", sagt Beziehungscoach Borde.

Ob Expartner den Kindern zuliebe Weihnachten gemeinsam feiern sollen, um den Kindern ein Stück familiäre Geborgenheit zum Fest der Familie zu vermitteln, ist eine Frage, die sehr oft an die Beratungsstelle Rainbows herangetragen wird. Vor allem bei Trennungen, die noch nicht lange zurückliegen, rät Bojdunyk-Rack davon ab: "Für Kinder kann der Wunsch, dass die Eltern wieder zusammenkommen, noch viel größer werden, wenn bei so einem Fest alle plötzlich wieder gemeinsam feiern."

Den Kindern werde vermittelt: "Wir sind eine Familie, so wie früher." In den Kindern nährte man somit Hoffnung. Aus dem Wunsch heraus, dass alles wieder so sein kann wie einst, versuchten diese dann, beim Weihnachtsfest zwischen Mama und Papa zu vermitteln. "Kinder spüren die schlechte Stimmung", sagt auch Borde. Ein gemeinsames Weihnachtsfest zwischen den Expartnern sei nur dann ratsam, "wenn einem egal ist, mit wem der andere Sex hat, und eine freundschaftliche Verbindung besteht".

Frühzeitig regeln

Ähnlich sieht das Monika Stvarnik, Sozialarbeiterin bei der Familiengerichtshilfe in Bruck an der Mur. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen werden auf richterliche Anordnung tätig, wenn es darum geht, Kontaktregelungen für getrennte Eltern und deren Kinder zu erarbeiten. Die Frage, wie das Weihnachtsfest verbracht werden soll, bringt sie auch während des Jahres in ihre Clearing-Gespräche ein.

"Väter und Mütter, die zu uns kommen, sind meistens frisch getrennt. Viele haben die Wunden noch nicht verarbeitet, da ist es schwierig, sich für das Weihnachtsfest zusammenzureißen", sagt Stvarnik. Allgemein betrachtet, sei Weihnachten mit viel zu hohen Erwartungen verbunden, "die auch für sogenannte intakte Familien oftmals schwierig zu erfüllen sind", sagt Stvarnik. Eltern seien daher gut beraten, diese Erwartungen herunterzuschrauben. "Das Christkind kann auch mehrmals vorbeifliegen, es können auch mehrere Tage für die Kinder zauberhaft sein", sagt Stvarnik.

Zwei Mal Bescherung, ist das okay? "Kinder können damit sehr gut umgehen, sie genießen unter Umständen die Exklusivität mit einem Elternteil", sagt dazu auch Bojdunyk-Rack.

Zu Weihnachten brauchen Kinder getrennter Eltern vor allen eines: besonders viel Zuwendung. Denn beim Familienfest werden häufig alte Wunden spürbar, die im Alltag sonst als bereits verheilt galten. "Beide Elternteile sollen ihren Kindern zeigen, dass sie für sie da sind", sagt Bojdunyk-Rack.

Die Entscheidung zu treffen, wo und wie gefeiert wird, soll laut Bojdunyk-Rack allerdings in der Verantwortung der Eltern liegen. Den Kindern die Entscheidung zu überlassen, ob sie bei Mama oder Papa den 24. Dezember feiern, würde ihnen abverlangen, sich gegen einen Elternteil auszusprechen.

Das wiederum wäre eine große Belastung für das Kind. Sie warnt auch ausdrücklich davor, Zuwendung mit besonders großen Geschenken auszudrücken – oder zu versuchen, den anderen geschiedenen Elternteil zu übertrumpfen oder seine Geschenke abzuwerten.

Challenge neue Partner

Eine zusätzliche Herausforderung können die neuen Partner der getrennten Kindeseltern sein. Der Verein Rainbows hat für diese Situation folgenden Ratschlag parat: Auch wenn der Patchwork-Papa oder die Patchwork-Mama an anderen Tagen im Jahr eine wichtige Bezugsperson geworden ist, sollte der neu Hinzugekommene sich rund um Weihnachten bemühen, zurückzustecken und nicht die Situation als "Konkurrent" weiter zu verschärfen.

Keinesfalls sollte der leibliche Elternteil ausgegrenzt werden. Aus der Praxis habe sich erwiesen: Je toleranter Stiefeltern der Beziehung des Kindes zum anderen leiblichen Elternteil gegenüberstehen, desto besser ist es dem Kind möglich, eine Beziehung zu diesem Patchworkelternteil aufzubauen, erklärt Bojdunyk-Rack.

"Egal, wie groß der Groll ist, den man gegenüber dem Expartner hegt: Vor dem Kind gilt es den leiblichen Vater oder die leibliche Mutter hochzuhalten", sagt Borde. Feindseligkeiten gegenüber jedem leiblichen Elternteil beziehe das Kind automatisch auch auf sich, sein Selbstwert werde auf diese Weise geringer. "Getrennte Eltern müssen einen Weg finden, dem Expartner zu verzeihen und ihm das Beste zu wünschen. Alles andere ist eine Hypothek für die Kinder – nicht nur für das Weihnachtsfest, sondern für das ganze Leben."

Sehr entspannt sieht Petra mittlerweile das Weihnachtsfest. Sie ist Mutter von drei Kindern, ihre Kinder haben drei unterschiedliche Väter. Sie selbst bezeichnet sich als "der kleinste gemeinsame Nenner" in dieser Konstellation. Am 24. Dezember nachmittags treffen sich alle Kindesväter, deren neue Partnerinnen plus Kinder bei Petra. Für 20 Leute bereitet sie das Essen zu, dann gibt es eine erste Bescherung mit den Geschenken der Väter.

Später begeht Petra im Kreise ihrer Kinder dann den Heiligen Abend. Eine zweite Bescherung feiern dann auch die Väter mit ihren "neuen" Familien. Nicht selten bringt Weihnachten in angespannten Beziehungen das Fass zum Überlaufen. Davon weiß auch Bojdunyk-Rack zu berichten. Mitte Jänner steigen die Beratungsanfragen bei Rainbows um ein Viertel. Wenn Desillusionierung darüber eintritt, dass es wieder einmal nicht geklappt hat, werde oft die Entscheidung getroffen, die Beziehung ganz zu beenden.

Cortisol ist schuld

"Stress in der Vorweihnachtszeit und ein damit einhergehender höherer Ausstoß des Stresshormons Cortisol sorgen dafür, dass wir bei der Bescherung oft gereizt anstatt liebevoll zugewandt sind", sagt Beziehungscoach Borde. Sich davon zu verabschieden, dass Weihnachten wie ein permanenter Werbespot ablaufen muss, und zu akzeptieren, dass Fehler geschehen, sei ratsam. "Wer ein Haar in der Suppe finden will, wird den Kopf so lange schütteln, bis eines drinnen ist", sagt Borde über das weihnachtliche Streben nach Perfektion.

Sich selbst im Vorhinein zu überlegen, welche Haltung man seinen Lieben gegenüber haben muss, damit das Fest gut wird, könne ebenfalls helfen, dass Weihnachten gelingt.

Und Bernhard? Er hat eine Partnerin, mit der er heuer erstmals zu zweit das Weihnachtsfest feiern will. Wie sich herausstellte, gab es vorab großen Diskussionsbedarf. Sie findet Strohsterne altmodisch und hätte lieber bunte Zuckerstangen am Baum.

Bernhard möchte – gemäß der Tradition seiner Eltern – ein opulentes Weihnachtsmahl, vorzugsweise mit Truthahn. Seine Partnerin will Würstel mit Kraut. Auch für diese verzwickte kulinarische Situation hat Beziehungscoach Borde eine Lösung: "Einmal so, einmal so". Kompromissbereit eben. (Katrin Burgstaller, 24.12.2015)