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2015

... war das Jahr, in dem "Star Wars" wieder wie "Star Wars" auszusehen begann (leider zu spät, um auch Peter Jackson klarzumachen, dass weniger mehr sein kann). Fast genauso groß war davor der Trubel um "The Martian": Im Filmbereich ist Phantastik längst zum Mainstream geworden – in der Literatur hingegen führt sie eher ein Nischendasein; zumindest die Science Fiction.

Als kleiner Ausgleich nun ein Überblick über die – subjektiv! – besten Science-Fiction- und Fantasybücher des vergangenen Jahres. Und zwar in zwei Teilen: Erst ein Schnelldurchlauf von Titeln, die bereits besprochen wurden. Und dann noch einige Neuvorstellungen in Rundschau-üblicher Ausführlichkeit. Wer den Teil mit dem bereits Bekannten überspringen will, kommt mit diesem Shortcut direkt zur ersten Neuvorstellung.

Fotos: AP/Disney/Lucasfilm

Ann Leckie: "Die Maschinen"

Broschiert, 541 Seiten, € 15,50, Heyne 2015 (Original: "Ancillary Justice", 2013)

Die beinahe unter einer Preislawine verschüttgegangene Ann Leckie wandelt mit ihrem gefeierten Erstlingsroman auf den Spuren klassischer Space Operas und Planetenabenteuer, versieht dies aber mit einigen Besonderheiten. Deren wichtigste: Die Hauptfigur ist ein künstliches Wesen, das mal als Individuum, mal als Kampftrupp und mal als ganze Armee mit tausenden Körpern agiert. Doch ob einzeln oder kollektiv, stets empfindet sich die wechselnde Entität als ich. Mindboggling!

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Coverfoto: Heyne

Frank Hebben: "Der Algorithmus des Meeres"

Gebundene Ausgabe, 128 Seiten, € 12,50, Begedia 2015

Ein Stückchen Perfektion vom meiner Meinung nach besten deutschsprachigen SF-Autor unserer Tage: In einem abgeschiedenen Hotel an der Küste hat eine kleine Gemeinschaft den stillen Untergang der Zivilisation überdauert – doch was ist wirklich passiert? Frank Hebben zeigt, wie aus einem Niedergangsszenario pure Poesie werden kann.

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Coverfoto: Begedia

Robert Charles Wilson: "The Affinities"

Gebundene Ausgabe, 300 Seiten, Tor Books 2015

Für Science Fiction braucht es nicht notwendigerweise technologische Neuerungen – es können auch soziologische sein. Das führt Star-Autor Robert Charles Wilson hier in faszinierender Weise vor, indem er beschreibt, wie sich neue Formen von sozialen Netzwerken und Interessengemeinschaften bilden. Je stärker sich diese sogenannten Affinities herausschälen, desto mehr zerfällt die Gesellschaft.

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Coverfoto: Tor Books

China Miéville: "Das Gleismeer"

Broschiert, 398 Seiten, € 14,40, Heyne 2015 (Original: "Railsea", 2012)

Hurra, China Miéville macht wieder Spaß! Nach ein paar eher mühsamen Romanen ist ihm für "Das Gleismeer" wieder eingefallen, dass er bei aller Intellektualität (die er ohnehin nie verlieren wird) auch den Abenteuerfaktor nicht vernachlässigen sollte. Und so reisen wir staunend mit dem Zug über eine bizarre Erde der fernen Zukunft, die von einem ozeangroßen Netz aus dicht an dicht gelegten Schienen bedeckt ist. Und unter der Oberfläche graben sich riesige Lebewesen durch den Boden, wie sie wirklich nur ein China Miéville ersinnen kann.

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Coverfoto: Heyne

Terry Pratchett: "Die Krone des Schäfers" und "Mrs Bradshaws höchst nützliches Handbuch"

Klappenbroschur, 383 Seiten, € 18,50, Manhattan 2015 (Original: "The Shepherd's Crown", 2015) bzw.

Gebundene Ausgabe, 144 Seiten, € 13,40, Manhattan 2015 (Original: "Mrs Bradshaw's Handbook", 2014)

2015 war vieles ... leider auch das Jahr, in dem Terry Pratchett von uns ging. Er hinterlässt eines der größten Werke, die die Fantasy je hervorgebracht hat, und das mit diesen beiden Büchern zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht wurde: dem letzten Roman um Junghexe Tiffany Weh und einem kleinen, aber wirklich feinen Begleitbuch zum letzten Modernisierungsschub der Scheibenwelt.

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Coverfotos: Manhattan

James Goss: "Haterz"

Broschiert, 333 Seiten, Solaris Books 2015

"Dexter" à la Internet ... erstaunlich eigentlich, dass dieser vor schwarzem Humor triefende Roman nicht mehr Aufsehen erregt hat. Er passt doch so schön zur Zeit. James Goss lässt seinen Protagonisten losziehen und der Reihe nach all diejenigen umbringen, die im Internet gegen andere hetzen: vom mobbenden Schulmädchen bis zur Schnulzenautorin, die ihre Karriere auf der Online-Vernichtung der Konkurrenz aufbaut. Herrlich böse und saukomisch.

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Coverfoto: Solaris Books

Daryl Gregory: "We Are All Completely Fine" und "Harrison Squared"

Broschiert, 184 Seiten, Tachyon Publications 2014 bzw.

Broschiert, 352 Seiten, Titan Books, 2015

Findet sich vielleicht endlich mal ein Verlag, der die Romane Daryl Gregorys ins Deutsche übersetzt? Schön langsam wird dieses Versäumnis ja echt peinlich! Wie auch immer: In "We Are All Completely Fine" führt der ideenreiche US-Autor Menschen in einer Selbsthilfegruppe der besonderen Art zusammen: Sie alle haben Grausamkeiten überlebt, die verdächtig an Klassiker des Horror-Genres wie etwa das "Texas Chainsaw Massacre" erinnern. "Harrison Squared" ergänzt die Vorgeschichte eines von ihnen – dessen Trauma fußt in der Begegnung mit amphibischen Monstern à la H. P. Lovecraft.

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Coverfotos: Tachyon Publications, Titan Books

James Tiptree Jr.: "Yanqui Doodle" und "Liebe ist der Plan"

Gebundene Ausgaben, jeweils 512 Seiten, € 23,90 bzw. €25,60, Septime 2015

Im Jahr des 100. Geburtstags von Alice B. Sheldon alias James Tiptree Jr. sind zwei der besten Bände in der Tiptree-Reihe des Septime-Verlags erschienen. Vom G.I., der sich nach den Drogen zurücksehnt, die ihn zur Tötungsmaschine gemacht haben, bis zum Zeitreisenden, der auf jene globale Katastrophe zurast, deren Ursache und Opfer er gleichermaßen war. 26 bestürzende und berührende, irrwitzig komische und todtraurige, bösartige und zutiefst menschliche Geschichten vom Besten, was die Science Fiction je hervorgebracht hat.

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Coverfotos: Septime

Jo Walton: "Der Tag der Lerche"

Klappenbroschur, 293 Seiten, € 17,40, Golkonda 2015 (Original: "Ha'Penny", 2007)

Morde in der Upper Class haben gerne mal einen politischen Hintergrund. Das ist in Jo Waltons "Inspektor Carmichael"-Romanen nicht anders – allerdings sind die Umstände von ganz besonderer Art, denn hier hat die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Subtil, aber unerbittlich führt uns die Autorin in eine Alternativwelt, in der das Vereinigte Königreich einen Deal mit Hitler-Deutschland eingegangen ist. Das liest sich ebenso elegant wie gruselig.

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Coverfoto: Golkonda

Stephen Baxter: "Ultima"

Broschiert, 734 Seiten, € 10,30, Heyne 2015 (Original: "Ultima", 2014)

In einem Jahr, in dem so viele Stephen-Baxter-Bücher erschienen sind wie 2015, merkt man erst so richtig, dass sich seine Erzählungen vom Aufbau her doch recht ähneln. Nur der Rahmen wechselt – aber dort wird bekanntlich geklotzt statt gekleckert. Nehmen wir nur die Attraktionen, mit denen "Ultima" aufwartet : Alte Römer im Weltraum! Mikroben, die Sternenportale bauen! Der vorzeitige Untergang des Universums! Nicht mal Leo DiCaprio in "The Revenant" hat so viele Unwahrscheinlichkeiten (üb)erlebt, wie sich in dieser Mischung aus Space Opera und Alternativweltgeschichte drängeln, Hut ab!

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Coverfoto: Heyne

George R.R. Martin, Elio M. Garcia Jr. & Linda Antonsson: "Westeros. Die Welt von Eis und Feuer. Game of Thrones"

Gebundene Ausgabe, 336 Seiten, € 30,90, Penhaligon 2015 (Original: "The World of Ice & Fire: The Untold History of Westeros and the Game of Thrones (A Song of Ice and Fire)", 2014)

Protzig, klotzig: Dieser gewichtige Bildband würde sich auch als Türstopper im Palast von Königsmund eignen. Aus dem Mund eines Gelehrten von Westeros lässt George R. R. Martin die Vorgeschichte zum "Lied aus Eis und Feuer" Revue passieren, bis zurück zu den mythischen Anfängen seiner Welt. Es ist gewissermaßen Martins "Silmarillion".

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Coverfoto: Penhaligon

Robert Silverberg: "Downward to the Earth"

Broschiert, 255 Seiten, Orion Publishing 2015 (Erstveröffentlichung 1970)

Ein ehemaliger Kolonialherr kehrt auf einen in die Unabhängigkeit entlassenen Planeten zurück, legt seine Überlegenheitsattitüde ab und lässt sich auf das Leben und Denken der Einheimischen ein. Er reist über eine exotische Welt von surrealer Schönheit, trotzt Gefahren und Herausforderungen und findet am Ende sich selbst: für mich eine der schönsten Wiederveröffentlichungen des Jahres.

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Coverfoto: Orion Publishing

Ramez Naam: "Crux" und Peter Watts: "Echopraxia"

Broschiert, 750 Seiten, € 10,30, Heyne 2015 (Original: "Crux", 2013) bzw.

Broschiert, 559 Seiten, € 10,30, Heyne 2015 (Original: "Echopraxia", 2014)

Zwei Romane, die meiner Meinung nach gut zusammenpassen – konfrontieren doch beide den Menschen mit technologischem Fortschritt, der ihm über den Kopf wächst. In "Crux" werden Gehirne untereinander vernetz-, aber damit auch hackbar. Und in "Echopraxia" ist die Entwicklung noch viel weiter vorangeschritten: Hier übernehmen die verschiedensten Varianten posthumaner Intelligenzen das Ruder – der Homo sapiens fühlt sich inmitten dieser unmenschlichen Giganten wie ein Reh, das man mit Löwen, Bären und Raptoren in einen Käfig gesteckt hat.

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Coverfotos: Heyne

Clive Barker: "Das scharlachrote Evangelium"

Broschiert, 464 Seiten, € 13,95, Festa 2015 (Original: "The Scarlet Gospels", 2015)

Also, ich hab mich davon hervorragend unterhalten gefühlt! Was vermutlich schon Aussage genug ist, warum Clive Barkers jüngster Roman die Meinungen der Fans spaltet. Barker unterhaltsam? Doch so ist es: Obwohl er mit Privatdetektiv Harry d'Amour und dem Zenobiten Pinhead zwei seiner populärsten Schöpfungen reaktiviert, hat Barker hier nicht wirklich einen Horrorroman, sondern ein Breitwand-Fantasyepos geschaffen. Der famose Schauplatz ist allerdings kein Mittelalter-Themenpark, sondern ... die Hölle.

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coverfotos: macmillan/festa

Zachary Jernigan: "Shower of Stones"

Gebundene Ausgabe, 256 Seiten, Night Shade Books 2015

Fantasy und Science Fiction verschmelzen in einer Welt, in der sich Alchemisten mit magischen Formeln in den Weltraum katapultieren und eine orbitale Gottheit mit Himmelskörpern spielt wie ein Superschurke von Marvel. Der Sohn dieses Gottes sucht derweil nach Mitstreitern, um seinen irre gewordenen Vater zu stürzen. Der Ex-Mormone Zachary Jernigan hadert mit dem Phänomen Religion – aber auf eine Weise wie sonst keiner.

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Coverfoto: NIght Shade Books

Nick Harkaway: "Tigerman"

Klappenbroschur, 446 Seiten, € 17,50, Knaus 2015 (Original: "Tigerman", 2014)

Eines meiner Überraschungslieblingsbücher 2015: Eine subtropische Insel steht vor der Evakuierung, weil eine vom Menschen verursachte Umweltkatastrophe droht. Aus dieser bedrückenden Prämisse macht Fabulierer Nick Harkaway ein witziges, trauriges, actiongeladenes, rührendes, kunterbuntes und immer wieder überraschendes Märchen mit einem Superhelden ohne Superkräfte.

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Foto: Knaus

Josh Malerman: "Bird Box"

Gebundene Ausgabe, 318 Seiten, € 20,60, Penhaligon 2015 (Original: "Bird Box", 2014)

Was wäre, wenn sich auf der Erde Wesenheiten materialisieren, die zwar nicht feindselig, aber so fremdartig sind, das man bei ihrem bloßen Anblick dem Wahnsinn verfällt? Rockmusiker Josh Malerman entwirft in seinem Debütroman ein einzigartig beklemmendes Szenario: Die wenigen, die die "Invasion" überlebt haben, tasten sich seit Jahren in aufgezwungener Blindheit durch ihre abgedunkelten Zufluchtsstätten. Die Hauptfigur muss jedoch zu einer Reise ins Unbekannte aufbrechen – sie tut es mit verbundenen Augen.

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Coverfoto: Penhaligon

Dietmar Dath: "Venus siegt" und Frank W. Haubold: "Götterdämmerung: Das Licht von Duino"

Gebundene Ausgabe, 300 Seiten, € 24,90, Hablizel 2015 bzw.

Broschiert, 450 Seiten, € 15,40, Atlantis 2015

Gut, Frank Hebben spielt in seiner eigenen Liga, aber Lesenswertes auf Deutsch gab's 2015 auch von diesen beiden. Dietmar Dath verlegt gewissermaßen die Geschichte der Sowjetunion auf die Venus und Frank Haubold schließt seine Science-Fantasy-Trilogie "Götterdämmerung" mit Donner und Doria ab. Die beiden Autoren haben ungefähr nichts miteinander gemein – außer dass jeder monomanisch seinen ganz persönlichen Schwerpunktsetzungen treu bleibt und sich nicht daran stört, wenn er damit aneckt.

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Coverfotos: Hablizel, Atlantis

Graphic Novels:

  • Enki Bilal: "Die Farbe der Luft"
  • Ivan Brandon & Nic Klein: "Drifter: Crash"
  • Kelly Sue DeConnick & Valentine De Landro: "Bitch Planet"

  • Gebundene Ausgabe, 104 Seiten, € 25,70, Ehapa Egmont 2015 (Original: "La couleur de l’air ", 2014)
  • Gebundene Ausgabe, 128 Seiten, € 25,80, Cross Cult 2015
  • Broschiert, 136 Seiten, Image Comics 2015

Comics lese ich sporadisch und weniger des Mediums an sich wegen, sondern dann, wenn mich die Geschichten ansprechen. Und das taten 2015 einige: Etwa der Abschluss von Enki Bilals Weltuntergangstrilogie, in der die Erde ihre alte Haut abschüttelt (und den Großteil der Menschheit gleich mit). Oder der vielversprechende Auftakt der "Drifter"-Reihe, einer bunten Weltraum-Fantasy mit Western- und Mysteryelementen. Und nicht zu vergessen Kelly Sue DeConnicks Erfolgscomic "Bitch Planet" um ein interplanetares Frauengefängnis, das den unwahrscheinlichen Spagat zwischen Feminismus und (S)Exploitation-Optik mit Bravour bewältigt.

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Coverfotos: Ehapa Egmont, Cross Cult, Image Comics

Scott Hawkins: "The Library at Mount Char"

Gebundene Ausgabe, 390 Seiten, Crown 2015

Ein Debütroman im allerbesten Sinne, soll heißen: Ein Werk von einem Autor, der die Konventionen des Genres noch nicht allzusehr verinnerlicht hat und deshalb etwas wirklich Originelles abliefert. Nicht nur, dass der aus Georgia stammende Scott Hawkins wunderbar frisch von der Leber weg schreibt und seinen Contemporary-Fantasy-Roman mit jeder Menge verblüffender Einfälle anreichert. Auch der Aufbau der Erzählung wirkt – zum Glück – nicht sonderlich gestreamlinet.

Da ist zum Beispiel die Sache mit den Löwen. An einer Stelle findet sich eine der Hauptfiguren, Steve Hodgson, in der bizarren Situation wieder, zusammen mit einem Löwenpärchen in einem Haus festzusitzen, das von Hunden belagert wird (die Erklärung, wie es dazu kam, spare ich mir hier). Für die Gesamterzählung ist das nur eine Episode am Rande, allerdings schildert Hawkins sie derart ausführlich, dass man sie fast schon als eigenen Handlungsfaden bezeichnen kann. Ein dienstälterer Autor, der Lektorat und Lesegewohnheiten bereits internalisiert hat, würde sich vermutlich dem Argument beugen, dass das von der Gewichtung her nicht passt. Andererseits gehört die ganze Löwenhandlung zum Witzigsten, was ich seit langem gelesen habe. Auf dem Höhepunkt sieht sich Steve gezwungen, der Löwin ein Zäpfchen zu verabreichen, und das kommt dann auch noch – o Wunder aller Wunder – als wirklich bewegender Moment rüber. Große Klasse!

Zur Ausgangslage

"The Library at Mount Char" beginnt damit, dass die zweite Hauptfigur Carolyn, eine seltsam gekleidete Frau in ihren 30ern, blutverschmiert einen Highway entlanggeht, nachdem sie offenbar einen Polizisten ermordet hat. Aus Rückblenden erfahren wir, dass Carolyn einer ganz besonderen "Familie" angehört: Allesamt verloren sie im Kindesalter ihre Eltern bei einer Brandkatastrophe und wurden anschließend von einem Mann adoptiert, den sie schlicht "Vater" nennen. Und der offenbar nichts weniger ist als ein Gott – mit unverkennbaren Anleihen an Jahwe.

Vater stopft das Dutzend Kinder in ein Haus irgendwo in Virginia und unterwirft sie einer Erziehung von bestialischer Brutalität. Als beispielsweise ein Junge rebelliert, wird er tagelang in einem Barbecuegrill (in Form eines goldenen Stiers!) durchgeröstet und anschließend wieder zum Leben erweckt. All das soll dazu dienen, die Kinder in ihre göttliche Aufgabe hineinwachsen zu lassen. Denn Vater führt eine Bibliothek, mit der sich die Geschicke der Welt lenken lassen. Sie ist in zwölf Kataloge unterteilt, und jedes der Kinder hat einen davon zu verinnerlichen. Im Lauf der Jahre werden sie zu so etwas wie den Entsprechungen antiker Gottheiten: Der sadistische David ist als Meister des Krieges ein neuer Mars, Michael wird zum Schutzpatron der Tiere. Carolyn erlernt jede (menschliche und nicht-menschliche) Sprache der Welt und Margaret bereist das Totenreich ... indem sie sich serienweise umbringt und auf bemerkenswert ekelerregende Weise wiederaufersteht.

Gottseidank, normale Menschen

Mit der Zeit werden die Kinder, die sich selbst als "Bibliothekare" bezeichnen und das als Gegensatz zu "Menschen" meinen, eins mit ihrem Prinzip. David etwa ist der Krieg: Er schlachtet im Alleingang ganze Armeeeinheiten ab, wenn ihm danach ist (armer US-Präsident ... ). Da sie dadurch ihre Menschlichkeit weitgehend einbüßen, braucht's natürlich auch ein paar Normalos, um sich auf den Roman bereitwillig einzulassen. Etwa den schon erwähnten Steve, Hauptsympathieträger von "Mount Char": Ein Installateur mit einer Vergangenheit als Einbrecher, der sich aber irgendwie seine unschuldige Seele bewahrt hat und davon träumt, eines Tages Buddhist zu werden und mit seinem Hund nach Tibet zu ziehen. Carolyn engagiert ihn, weil sie und ihre Geschwister seit einiger Zeit durch ein Kraftfeld am Betreten der Bibliothek gehindert werden. Wer dieses Hindernis zu welchem Zweck errichtet hat, wird zum Dreh- und Angelpunkt der Story werden.

Und dann ist da noch Erwin Leffington, ein ehemaliger Kriegsheld von der richtigen Sorte, soll heißen: Jemand, dem sein Status als lebende Legende egal bis lästig ist und der einfach tut, was zu tun ist – auch in seinem neuen Job bei der Homeland Security. Der bärbeißige Erwin sorgt regelmäßig für Lacher, weil er sich schlicht nix scheißt. So etwa liest sich seine Audienz beim Präsidenten: "I wanted to thank you for your help today," the president said, "and your service to your country, of course." He paused. "It's been very memorable, meeting you." – "Yeah. Nice meetin' you, too." He waved a hand dismissively. "Happy to help and shit."

Göttliche Umtriebe

Vergleichbar mit den Protagonisten von Clive Barkers "Cabal" oder "Weaveworld" spielen Steve und Erwin die Rolle der Normalsterblichen, die in übernatürliche Umtriebe hineingezogen werden und uns eine Identifikationsmöglichkeit bieten. Der Rest der Crew würde in seiner Unmenschlichkeit einfach zu abschreckend wirken: Sowohl Vater als auch seine Adoptivkinder ... von den Konkurrenten des Alten mal ganz abgesehen. Denn unser jetziges Zeitalter – das Vierte, ist ja wie bei Tolkien – steht zwar im Zeichen der Herrschaft Vaters, aber andere alte Wesen treiben sich auch noch herum. Bei denen beschränkt sich Hawkins vergnügt auf ominöse Andeutungen – etwa Q-33 North ("sort of iceberg with legs") oder der Duke, zu dem beiläufig angemerkt wird, dass seine Machtübernahme jegliches komplexe Leben auf Erden zum Erliegen bringen würde.

Yep, hier wird auf der großen Bühne agiert. So klein und schäbig erscheint die Lebenswelt der Bibliothekare an der Oberfläche, da wirkt es jedesmal wie ein Weckruf, wenn mal kurz anklingt, in welchen Dimensionen sie wirklich denken und handeln. Etwa wenn Alicia, die in die Zukunft blicken kann, ganz selbstverständlich den Satz einstreut: "I checked all the way to the heat death of normal space." Obwohl die Bibliothekare verwahrloster als der schlimmste Trailerpark-Trash aussehen, halten sie das Schicksal der Welt in ihren Händen. Strichweise wortwörtlich gemeint. Und letztlich geht es um nichts Geringeres als den Kampf um die Realität.

"Shameless" at Mount Olympus

"Mount Char" hat alles: Interessante Charaktere mit wechselvollen Beziehungen untereinander – was ohnehin ein Muss für Contemporary-Fantasy-Romane ist, insbesondere für solche, die weniger originell sind als dieser. Twists und Überraschungsmomente machen sich auch gut; hier kommen sie zumeist in Form einer Gewalttat aus heiterem Himmel. Die richtige Mischung aus Gore (gibt's hier reichlich) und Humor (ebenfalls) sollte ein Autor dann auch noch finden.

Hawkins tut es bravourös, und ein Großteil des Humors ergibt sich daraus, dass die Bibliothekare zwar ungeheuer mächtig, aber dank ihrer Erziehung durch einen bronzezeitlichen Gott auch etwas hintennach sind. So werden Margarets Wiederauferstehungen (=Ent-Faulungen) gleich viel erträglicher, als man eine fantastische neumodische Erfindung namens Mundwasser entdeckt. Die archaische Einstellung der Bibliothekare zu Themen wie Gewalt, Sex oder Körperhygiene ist schockierend und lustig zugleich, und Hawkins versteht es meisterhaft, den Clash der Kulturen in Situationen und Dialoge von surrealem Witz umzumünzen.

Zu all dem kommt als ganz besonderer Pluspunkt des Romans dann noch der Kontrast zwischen oben genannter GROSSER Bühne und dem Umstand, dass wir es bei den Bibliothekaren letztlich doch mit nichts anderem als einer stinknormalen, schwer dysfunktionalen Familie zu tun haben. Nur dass deren Zwistigkeiten den Kosmos erschüttern ...

Kurz gesagt: Großartiger Roman! Volle Sternzahl.

Coverfoto: Crown

Stephen Baxter: "Steinfrühling" und "Bronzesommer"

Klappenbroschur, 632 bzw. 554 Seiten, jeweils € 17,30, Cross Cult 2015 (Original: "Stone Spring", 2010, und "Bronze Summer", 2012)

Wir befinden uns im achten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Das ganze Land zwischen dem Kontinent und den britischen Inseln ist von der ansteigenden Nordsee überflutet ... Das ganze Land? Nein! Ein von unbeugsamen Steinzeitlern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.

Willkommen in Nordland

So ließe sich die Handlung von "Steinfrühling", des ersten Bands von Stephen Baxters fantastischer "Nordland"-Trilogie, in aller Kürze zusammenfassen. Mit Knoff-hoff aus dem Nahen Osten, wo man schon die ersten Städte gebaut hat, trotzten die BewohnerInnen des Gebiets, das heute als Doggerbank unter Wasser liegt, dem ansteigenden Meeresspiegel und veränderten damit den Lauf der Weltgeschichte. Der Damm, mit dem sie ihre Heimatregion Etxelur schützten, wurde zum Generationenprojekt und immer mehr verlängert. Jahrtausende später hält er immer noch das Wasser zurück; von der britischen Hauptinsel bis nach Dänemark erstreckt sich also weiterhin ein riesiges bewohnbares Land. Zugleich ist der aus einer frühen Variante von Beton gefertigte Monsterdamm besiedelt und damit zu einer Art linearer Stadt von hunderten Kilometer Länge geworden.

Nordland selbst ist zwar durch ein komplexes Drainage-System durch und durch gestaltet, originellerweise aber nicht in unserem Sinne kultiviert. Baxter wollte explizit eine Hochkultur entwerfen, die nicht auf Landwirtschaft basiert, und spricht im Nachwort davon, dass es Ansätze zu solchen Zivilisationen im Nordwesten Nordamerikas gegeben habe. In unserem Geschichtsverlauf hat sich bekanntlich das Modell Ackerbau und Viehzucht durchgesetzt. Die Nordländer jedoch, die in ihrer dünn besiedelten Heimat nach wie vor vom Jagen, Sammeln und Fischen leben können, blicken etwas verächtlich auf die Bauernkulturen, die sie als Nachbarn im Süden haben. Ich habe mich beim Lesen von "Bronzesommer" mehrfach gefragt, ob Stephen Baxter wohl ein Anhänger der Paläo-Diät ist: Das ist jetzt schon das x-te Buch, in dem er einem die angeblichen Nachteile einer getreidebasierten Ernährungsweise reindrückt ...

Die nächste Katastrophe

"Bronzesommer" ist im 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung angesiedelt. HistorikerInnen werden aufhorchen: Das ist die Periode des sogenannten "Late Bronze Age collapse", in dem sich eine ganze Reihe früher Hochkulturen – von Mykene über das Hethiterreich bis zum Neuen Königreich Ägyptens – binnen kurzer Zeit verabschiedeten und die Zivilisation an sich vorübergehend einen drastischen Einbruch erlitt. Baxter läutet den Zusammenbruch mit Dürreperioden ein, ehe dann der Ausbruch des isländischen Vulkans Hekla – bei dem wir übrigens auch live dabei sind – die globale Katastrophe perfekt macht. Kein Wunder also, dass man im kollabierenden Nahen Osten bald begehrliche Blicke auf das fruchtbare und irritierenderweise nicht mal "genutzte" Nordland wirft. Invasionsgefahr!

Wie Stephen Baxter seine Romane strickt, haben wir 2015 besonders schön mitverfolgen können, sind ja reichlich Titel von ihm herausgekommen: etwa "Ultima" oder die beiden "Lange Erde"-Romane "Der Lange Krieg" und "Der Lange Mars", die sich zunehmend von Baxter-Pratchett-Kooperationen zu unverkennbaren Baxters entwickelt haben. Das Grundprinzip läuft immer darauf hinaus, dass mittels Ideenreichtum, den Baxter kaum einer nachmacht, eine gigantische Leinwand aufgezogen wird, vor deren Hintergrund insektenkleine Menschen agieren, die alle Hände voll damit zu tun haben, im Strudel der Ereignisse nicht unterzugehen. Ob sie "gut" oder "schlecht" sind, hat – in klarem Gegensatz zu den meisten Genreromanen – keinen Einfluss auf ihre Überlebenschancen.

Das Hauptfigurenhäuflein

Und so lernen wir sie der Reihe nach kennen: Etwa die junge Milaqua, Tochter der gerade erst ermordeten Anführerin des Nordlands, die ihren Platz in der Gesellschaft erst noch finden muss. Für eine Hauptfigur wirkt sie nicht sonderlich sympathisch – allerdings gibt es einige Anzeichen dafür, dass sie unter Asperger oder einer anderen Entwicklungsstörung leidet, die ihre Empathiefähigkeit verringert. Gleich zu Beginn sieht sie ohne große Regung mit an, wie der aufgebahrte Leichnam ihrer Mutter von Möwen kahlgepickt wird – bezeichnend für sie und ebenso für Baxters ernüchternde Erzählstrategie.

Derweil ruachelt sich der trotz aller Brutalität seltsam liebenswerte Krieger/Bandit Qirum im verfallenen Troja irgendwie durch; es liegt erst eine knappe Generation zurück, dass die Stadt von den Griechen in Schutt und Asche gelegt wurde. Er wird dort dem Arschloch des zweiten Bands begegnen: Kilushepa, ehemalige Königin des Hattier-Reichs (womit entweder die Hethiter selbst oder deren direkte Vorläufer gemeint sind). Sie ist in der Sklaverei gelandet, setzt aber skrupellos alles daran, ihre alte Machtposition zurückzuerlangen. Die Straße zum Comeback wird sie ins Nordland und über jede Menge Leichen führen.

Und weit entfernt im Westen ist Milaquas Cousin Tibo damit beschäftigt, einen besonderen Gast abzuholen. Nordland pflegt ja nicht nur seit langem intensive Fernbeziehungen zu den Hattiern, sondern auch zu einigen Kulturen Nordamerikas. Vom Jaguarvolk – offenbar den Olmeken – importiert man Bildhauer, die den Mega-Damm mit den Büsten herausragender NordländerInnen schmücken. Diesmal ist die Wahl auf die junge Caxa gefallen; die darf jetzt also ihre sieben Sachen packen und sich auf das Leben in einer neuen Kultur einstellen. Einer der ersten Eindrücke, die sie von ihrer neuen Heimat bekommt, wird der Ausbruch der Hekla sein, da freut frau sich doch gleich noch mehr.

Nichts für zarte Gemüter

Baxters tendenziell unmenschliche Perspektive – zumindest hier weniger eine erzählerische Schwäche als eine bewusste Strategie – schlägt sich auch im Aufbau des Romans nieder. Das "Schicksal" (also der Autor) spielt einigen anfänglichen Hauptfiguren so übel mit ... dass sie im weiteren Verlauf zu Nebenfiguren werden. Wie schon einmal zu einem früheren Buch gesagt: Besser an keine(n) von ihnen sein Herz hängen, dann ist man auch nicht enttäuscht, wenn Unglück und Tod höchst ungerecht zuschlagen.

Zimperlich ist Baxter in der "Nordland"-Trilogie wirklich nicht. Mal abgesehen davon, dass hier von Anfang an durch Kotze, Pisse, Kot und Blut gewatet wird, müssen wir auch Vergewaltigungen, Verstümmelungen und sonstige Gräueltaten en gros miterleben. Die ganze Trilogie ist eine Lektion in Sachen Unmenschlichkeit historischer Prozesse: Nichts für LeserInnen, die nach Happily Ever Afters lechzen, aber wirklich ganz ausgezeichnet gemacht. Band 3, "Eisenwinter", erscheint im März. Pflicht!

Coverfotos: Cross Cult

Linda Nagata: "The Red"-Trilogie. "First Light", "The Trials" & "Going Dark"

Broschiert, 432/450/456 Seiten, Saga Press 2015

The cold fact is our world is seriously fucked up. Dieses Statement dürfen wir getrost als Motto über die gesamte Military-SF-Trilogie "The Red" stellen. Eine der besten Reihen aus diesem Subgenre, die ich seit langem gelesen habe. Den Einstiegsband "First Light" – eine Wiederveröffentlichung bei Saga Press – habe ich im Herbst rezensiert. Kurz danach hat Linda Nagatas neuer Verlag dann die beiden Fortsetzungen, die bis dahin noch nicht erschienen waren, publiziert. Lohnende Lektüre!

Die Welt

Zur Erinnerung: In "First Light" lernten wir eine Prä-Cyberpunkwelt kennen, in der SoldatInnen als Linked Combat Squads agieren: Durch das Tragen von Skullcaps oder implantierten Skullnets sind sie untereinander sowie mit ihrer Einsatzleitung vernetzt, zudem regulieren diese "emotionalen Prothesen" ihre Gehirnchemie. Überwachungskameras, Gesichtserkennungssoftware, Mikrodrohnen und Systeme wie FaceValue (Software, die Lügen erkennt) sind allgegenwärtig und die gesellschaftlichen Verhältnisse in plausibler Weise noch unsympathischer geworden: Die Schere zwischen den Superreichen – hier Dragons genannt – und der Normalbevölkerung ist noch weiter aufgeklafft, durch Korruption und Lobbyismus wird die staatliche Politik weitgehend von den Waffen produzierenden Konzernen gelenkt.

Im ersten Band ist eine der Dragons, Thelma Sheridan, ausgeflippt und hat in den USA ein paar Atombomben hochgehen lassen. Der Prozess wird ihr nun aber in Niger gemacht; das afrikanische Land ist das einzige, das sich der Macht der Dragons nicht beugt. Dass Sheridan geschnappt werden konnte, ist US-Army-Lieutenant James Shelley, der Hauptfigur der Trilogie, und seiner Einheit zu verdanken. Als Belohnung stehen sie nun ebenfalls vor Gericht – daheim in den USA, weil ihre verdeckte Operation nicht abgesegnet war. Wenn Linda Nagata im ersten Band technische Abläufe in Form von Manövern und Kampfeinsätzen geschildert hat, so wendet sie nun dieselbe Sorgfalt auf juristische Prozesse auf. Aber keine Angst: Es dauert nicht allzu lange, dann wird auch schon wieder zu den Waffen gegriffen. Immerhin droht nun ein nuklearer Angriff rachsüchtiger Dragons auf Niger.

Military SF und mehr

In Teil 2 und 3 werden Schiffe geentert, Bunker gestürmt, Massenvernichtungswaffen gesucht und gefunden, es gibt Verhöre, Verfolgungsjagden und Schusswechsel, kurz: Es ist wie "Strike Back" auf Cyberpunk und dürfte jeden Fan von Military SF vollauf befriedigen; und es wird auch nicht darauf vergessen, jedem minutiös geschilderten Einsatz einen klingenden Codenamen wie Cryptic Arrow oder Gold Devil zu verpassen. Erzählt wird das alles in dem No-Nonsense-Stil, der Shelleys nüchterne Sicht auf die Welt widerspiegelt: As he steps away, I pull the gun. He swears and shoots a round into my side. I get one into his throat. Given that we're both wearing armored vests, I win.

Mit professioneller Action alleine wäre die Trilogie aber nicht so hervorragend, wie sie ist. Nagata zwingt ihre ProtagonistInnen – obwohl bei weitem keine Peaceniks – laufend dazu, ihre Handlungen zu hinterfragen. I wanted to serve. I wanted to be the good guy, to do the right thing. But how do you know if the sacrifices you're asked to make are worthwile? If the blood on your hands means something? You don't know. You can't. That's the soldier's dilemma. What it comes down to is trust. Do you trust those who send you into battle?

Und als wäre die Kriegsbühne der Weltpolitik nicht eh schon unübersichtlich genug, ist da ja auch noch dieser eine vollkommen undurchsichtige Akteur, der der Trilogie ihren Namen gegeben hat: The Red, eine autonome Künstliche Intelligenz, die ihre ganz eigenen Motive hat, in die Geschicke der Menschen einzugreifen. Im ersten Band trat sie als höchst ambivalenter Schutzengel Shelleys auf, der ihn vor gefährlichen Situationen warnte ... nur um ihn in noch gefährlichere zu stürzen. In Band 2 und 3 werden Shelleys Zweifel noch stärker: Erst fürchtet/hofft er, Red hätte das Interesse an ihm verloren – später wird sich immer mehr die Frage nach Reds Zuverlässigkeit aufdrängen. Ist die KI doch nicht das allwissende Mastermind, sondern fehlerhaft oder gar schizophren? Wird sie von jemand oder etwas anderem manipuliert? Oder gibt es gar mehr als eine? Einmal mehr: Do you trust those who send you into battle?

+++ Spoiler-Grenze für die, die "The Trials" noch nicht gelesen haben +++

Am Ende des zweiten Bands ist Shelley buchstäblich aus dem Weltraum gefallen und unbemerkt vom Rest der Welt, die ihn fürderhin für tot hält, aus dem Meer gefischt worden. Monate später gehört er einer verdeckten Einheit an, die im direkten Auftrag von Red steht. Die KI hat sich ins unübersichtliche Militärnetzwerk gehackt und kann so ihre kleine, aber bestens ausgerüstete Privattruppe unbemerkt an Budgets und Infrastruktur der US-Armee schmarotzen lassen, um weltweit gegen Bedrohungen der Menschheit vorzugehen. Bei der Auswahl ihrer Ziele wirkt sie allerdings immer erratischer.

"Going Dark" kommt wie schon sein direkter Vorgänger weniger wie ein Band als wie ein Bündel von Episoden in Novellenlänge daher. Es geht von Einsatz zu Einsatz: Erst in der Arktis Kanadas, dann in Zentralasien, wo jemand mit Raketenabschüssen das Kessler-Syndrom auszulösen versucht (also eine Kaskade von Weltraummüll, die jegliche orbitale Technologie zerstören würde) und schließlich zum Häuserkampf in den Irak, wo eine neuartige biologische Waffe produziert wird. Das hat Seriencharakter – passend dazu, dass Red seit Band 1 Shelleys digital gespeicherte Erlebnisse auf Umwegen an die Medien weiterleitet, wo sie als Reality-Soap ausgestrahlt werden.

+++ Spoiler-Grenze Ende, es wird wieder allgemein +++

Band 1 bleibt der beste Band der Trilogie. Zum einen natürlich, weil der noch mit dem Pfund des Neuigkeitswerts wuchern konnte. Zum anderen aber auch, weil Nagata die Handlung dann auf ziemlich gleichbleibendem Niveau weiterführt und schließlich zu einem zwar runden und stimmigen Ende bringt – aber nicht zu einem Kreszendo. Das ist insofern ein wenig überraschend, als Shelley & Co ja seit Band 1 damit hadern, dass Red ihre Leben wie einen Serien-Plot behandelt: mit allem, was dazugehört, inklusive ständiger Eskalation. Immer wieder wird die Handlung von einer Meta-Ebene aus reflektiert, bis hin zu den Titeln der Bücher: "It's called 'The Trials', plural, because the integrity of all the main characters is tested", sagt eine der Figuren in Band 2 – und genau das geschieht in diesem Buch auch. Ein grandioses Schlussfeuerwerk schien da eigentlich unumgänglich, doch es bleibt aus ... allerdings besteht dafür die Möglichkeit auf weitere Fortsetzungen.

Das ist aber auch schon der einzige – wenn man so will – Makel der Trilogie, die ansonsten mit allem aufwartet, was man sich nur wünschen kann. Inklusive einer Hauptfigur, deren Erlebnisse man unbedingt bis zum Schluss mitverfolgen will. Kennengelernt haben wir Shelley als Zyniker – aber auch erfahren, dass er mal ein Idealist war, bevor er zur Kampfmaschine wurde. Im Lauf der Handlung wird er zur bestmöglichen Synthese aus beidem: Einem Mann, der weiß, was das moralisch Richtige ist, aber nun auch, wie man es durchsetzt. Und so sehr er sich und seine Loyalitäten auch hinterfragen muss, seinen Kern wird er sich bewahren: My uncle calls it true-believer shit. So fuck me. I do believe it.

Coverfotos: Saga Press

K. J. Parker: "Savages"

Gebundene Ausgabe, 388 Seiten, Subterranean Press 2015

Und auch das brachte 2015: Das bestgehütete und meistdiskutierte Pseudonym in der Phantastik seit James Tiptree Jr. wurde gelüftet: K. J. Parker ist 1) ein Mann, 2) tatsächlich ein bekannter Schriftsteller und 3) Tom Holt, Autor historischer Romane mit satirischer Note. Wenn ich mich richtig erinnere, war das ohnehin eine der von Parker-Fans ventilierten Möglichkeiten. Ich selbst hatte keinen Tau.

Wie alle Fantasy-Werke Parkers bereitet auch dieser von Kriegen und Intrigen handelnde Roman allergrößtes Vergnügen – nicht nur, aber vor allem dank Parkers Humor, der so schwarz ist wie geronnenes Blut. Es liest sich, als hätte man auf einer Cocktail-Party den gebildetsten und bösartigsten Gast ausfindig gemacht und würde sich von ihm die Handlung von "Game of Thrones" erzählen lassen. Samt klugen Kommentaren über historische Architektur, Kleidung, Musikstücke, Kunstgeschichte und sogar erotische Literatur sowie Exkursen über Handwerk, Werkzeugbau und Kriegs"kunst" vergangener Epochen. Dass Parker hier über erstaunliches Detailwissen verfügt (und es glorios unterhaltsam rüberbringen kann), zeigte er ja schon im Storyband "Academic Exercises", der einige äußerst lesenswerte Essays enthielt.

Kapitalismus-Fantasy

"Savages" führt uns in Parkers bereits bekannte, technologisch in etwa auf renaissancezeitlichem Stand befindliche Welt zurück, die mit Reichen wie der Vesani-Republik oder dem namenlosen "Imperium" prunkt; Letzteres ist in diesem Roman der Hauptschauplatz. Als neuer Faktor kommen in diesem Band dem Titel entsprechend die "Wilden" hinzu: nomadische Völker, die nördlich der byzantinischen Pracht der genannten Reiche leben und in die nun Bewegung kommt. In "Savages" hat Parker nämlich das Szenario der Völkerwanderung eingebracht. Und er erzählt, wie das Ende der alten Welt mit einer ... Ziege begann.

Mag diese Welt technologisch auch noch nicht über das Katapult hinausgekommen sein – eines wollen wir doch betonen: Sie ist schwer kapitalistisch. Alles wird hier in klingende Münze umgerechnet: Krieg und Frieden, Moral und Ansehen, Menschenleben sowieso. Da jedermanns Gedanken ständig ums Geld kreisen, kann es auch nicht verwundern, dass die seriösesten Charaktere, denen wir hier zu begegnen hoffen dürfen, Hallodris sind. Darüberhinaus ist das obere Ende auf der Schurkerei- und Zynismusskala offen.

Siehe etwa diese bezeichnende Episode: Als das Imperium endlich den Krieg gewonnen zu haben glaubt, lässt es in der Hauptstadt eine große Seeschlacht nachstellen. Dafür muss allerdings erst mal das Armenviertel überflutet werden. Die Hofschranzen reiben sich die Hände: So wird man die Gastarbeiter los und kann danach das Viertel gentrifizieren. Gewinn auf allen Linien! In den Chroniken von Gondor würde man so etwas nicht finden.

Die Hauptfiguren

"Savages" könnte schwärzer nicht beginnen: Ein namenloser Mann aus einer der nördlichen Barbarenregionen muss mitansehen, wie seine Familie abgeschlachtet wird und ihm Rang und Besitz abgenommen werden. Durch eine glückliche Fügung kommt er unbemerkt mit dem Leben davon. Spannenderweise wird dies nun aber nicht zum Ausgangspunkt eines Charles-Bronson-mäßigen Rachefeldzugs, nein. Der Mann, der sich später Raffen nennen wird, hat mit seinem bisherigen Leben auch seine Identität verloren und wird nun gewissermaßen zum Chamäleon. Er zieht in die Hauptstadt, wechselt von einem Beruf zum anderen und ist überall erfolgreich, weil ihn sein Zen-mäßig geleertes Bewusstsein jede Rolle perfekt ausfüllen lässt. Mitunter erinnert Raffens höchst abwechslungsreicher Lebensweg an "Peer Gynt".

Klar vorgezeichnet ist hingegen die Laufbahn des brillanten Offiziers Calojan, der dem Imperium eine Schlacht nach der anderen gewinnt. Dabei wäre er viel lieber Maler geworden, aber was willst du machen. Eine Wahrsagerin macht ihm folgende, gelinde gesagt zwiespältige Prophezeiung: "You'll win all your battles except one, and you'll save the empire from being exterminated nine times. You'll do a great deal of good, but on balance it would've been better for everyone if you'd never been born." Nach solchen Worten beginnt der Arbeitstag doch gleich noch beschwingter.

Aimeric ist ein Student, der ins Ausland gegangen ist, um sich dem Wehrdienst zu entziehen – angeblich, weil er Pazifist ist. Diese Weltanschauung legt er allerdings rasch ab, als er zurückbeordert wird, weil sein Vater – ein Waffenhändler – gestorben ist und ein völlig bankrottes Unternehmen hinterlassen hat. Armut, stellt Aimeric rasch fest, ist ein noch viel unerträglicherer Gedanke als Krieg. Und so entwickelt er in Windeseile einige Konzepte, um die ihn jeder Hedgefondsmanager beneiden würde, um das Imperium neu zu bewaffnen und sich selbst zu sanieren.

Den Falschmünzer Teudel schließlich (He's not criminal through force of circumstance, but by inclination and choice. Harsh words; mostly fair.) lernen wir unter äußerst spektakulären Umständen kennen: Als Sträfling ist er dazu verurteilt worden, in besagter Seeschlacht einen Galeerensklaven zu geben, und sollte im Zuge dessen eigentlich sterben. Sein dramatischer Überlebenskampf vor Publikum ergibt fast schon eine eigene Kurzgeschichte. Tatsächlich kann er sich retten und wird noch eine gewisse Rolle in der imperialen Politik spielen.

Männer, Frau'n, niemand sollst du trau'n

"So many people these days have a morbid obsession with the truth. Nine times out of ten no good comes of it", sagt eine Nebenfigur, ihres Zeichens Urkundenfälscherin. Bezeichnend für einen Roman, in dem fast alle ProtagonistInnen an der Grenze von Sein und Schein agieren. Ob nun ihre Identität selbst ein Konstrukt ist wie bei Raffen, dem Mann ohne Eigenschaften, oder Calojan, der sich selbst als seine eigene Rolle betrachtet. Oder ob sie die Geschicke des Imperiums mit Lug und Trug lenken – unter anderem durch die Fälschung einer "uralten Prophezeiung", als wär's ein Kommentar Parkers zu einem der Standardmotive der Fantasy. (Und vermutlich ist es auch einer.)

Das Bemerkenswerteste an "Savages" ist allerdings, wie lustig der Roman trotz der Unmengen an Blut ist, die darin vergossen werden. Keine Funny Fantasy, mind you, aber ein großer Spaß, als dürfte man sich mal so richtig schön im Schlamm der menschlichen Niedertracht suhlen. Was ist dem Roman zufolge noch mal schnell das Definitionsmerkmal eines Menschen? Dass er stirbt.

Coverfotos: Subterranean Press

David Walton: "Superposition"

Broschiert, 301 Seiten, Pyr 2015

Schon nach wenigen Seiten von David Waltons Roman musste ich grinsen. Zum einen aus Erleichterung, immerhin war im Vorfeld des Erscheinens von "Superposition" überall hochgekocht worden, dass es hier um die Übertragung von Quanteneffekten auf unsere Lebenswelt geht, was einen potenziellen Hirnverknoter befürchten ließ. Ist es aber in keinster Weise – selbst die wissenschaftlichen Aspekte des Romans sind ganz easy-peasy.

... und zum anderen, weil "Superposition" einfach munter geschrieben ist. Folgender Dialog aus einem Wissenschafterhaushalt könnte glatt aus "Big Bang Theory" stammen: "You are so hot," I said. "How hot?" she asked, still toying with the hem of the shirt. "Ionizing radiation hot," I said. "Neutral pion decay hot." Elena snorted. "You're such a romantic."

Zur Ausgangslage

Wir befinden uns in den 2030er Jahren. Die Welt ist technologisch ein bisschen weiter vorangeschritten, wirkt aber alles in allem noch äußerst vertraut. In der Teilchenforschung haben sich die USA die Weltspitze zurückerobert (Ha! Wunschtraum ...), indem sie den New Jersey Super Collider gebaut haben. Dort arbeitete auch Hauptfigur Jacob Kelley, bevor ihm das interne Gerangel um Fördergelder auf die Nerven ging. Jetzt führt er ein ruhiges Leben als Physiklehrer an einem College und hat eine Frau und drei Kinder zuhause: Mehr als die durchschnittliche SF-Romanfigur von heute, aber nichts gegen die sieben Kinder, die US-Autor David Walton ("Terminal Mind", "Quintessence") selber vorweisen kann.

... bis eines Tages Jacobs alter Kumpel und Arbeitskollege Brian Vanderhall vor der Tür steht – mit Flip-Flops im Schnee und insgesamt einen recht verstörten Eindruck abgebend. Brian flutet den skeptischen Jacob mit kaum zu glaubenden Informationen: Dass das Universum ein einziger gigantischer Computer sei, dass sich darin Quantenintelligenzen gebildet hätten, dass es ihm gelungen sei, zu diesen Kontakt aufzunehmen, und dass sie ihm gezeigt hätten, wie sich Quanteneffekte auf die Makrowelt übertragen lassen. Zum Beweis feuert er eine Pistolenkugel auf Jacobs Ehefrau ab, und tatsächlich: Was in der Quantenwelt nichts Besonderes wäre, passiert auch hier. Die Kugel geht durch Elena durch, ohne Schaden anzurichten. Dennoch wird Brian danach natürlich hochkant rausgeschmissen.

Up-Spin und Down-Spin

Was in weiterer Folge geschieht, schildert Walton auf zwei Ebenen im Reißverschlusssystem. Die "Up-Spin"-Kapitel erzählen im Rückblick, wie sich Jacob auf die Spur von Brian und dessen Entdeckung setzt. Dazwischen begeben wir uns für die "Down-Spin"-Kapitel, die einige Monate später angesiedelt sind, in einen Gerichtssaal, wo Jacob der Prozess gemacht wird. Wie wir erstaunt erfahren, soll er nämlich Brian ermordet haben. Nicht nur die Richterin versucht im "Down-Spin" herauszufinden, was passiert ist – dasselbe gilt natürlich auch für uns LeserInnen. Schon bald werden sich bemerkenswerte Abweichungen zwischen dem, was vor Gericht rekonstruiert wird, und dem, was wir parallel im "Up-Spin" zu lesen bekommen, zeigen.

Aber wie soll Jacob auch erklären, was er wirklich gesehen hat? Als er zusammen mit seinem Schwager Marek Swoboda Brians unterirdisches Labor aufsuchte, fand er nicht nur dessen Leichnam, sondern auch eine der Quantenintelligenzen, die buchstäblich aus dem Spiegel sprang, Amok lief und das Labor zerstörte. Jacob und Marek konnten flüchten ... und trafen dabei erneut auf Brian, diesmal quicklebendig. Schon wieder ist ein Quanteneffekt in unsere Welt eingesickert: Erst Brian und später noch andere Figuren vervielfältigen sich, weil nun verschiedene Versionen ihrer selbst gleichzeitig existieren können – aber nicht in irgendeiner Parallelwelt, sondern alle in derselben. Das wird noch zu einigen überraschenden, aber durchaus logischen Twists führen.

Positive Bilanz

Das Quantenwesen zeigt sich übrigens in Gestalt eines Spiegelbilds ohne Seitenumkehr. Und gruseligerweise auch ohne Augen. Zieht man die Quanterei mal ab, kommt man im Grunde also sehr schnell auf traditionelle Motive aus der Schauerliteratur, auf Doppelgänger und die Welt hinter den Spiegeln. Nun wird auch klar, warum Jacobs Schwager (trotz offensichtlich tschechischen Namens) ausgerechnet ein Rumäne sein muss: Nämlich damit jemand dem Wesen einen schicken Namen verpassen kann, der noch nicht tausendfach abgelutscht wurde. Die Wahl fällt auf Varcolac, was wohl sowas Ähnliches wie ein Karpaten-Werwolf sein dürfte. Hauptsache griffig! Und Schauertradition hin oder her, die Quanterei verpasst dem Ganzen immerhin eine einigermaßen befriedigende und sciencefictioneske Erklärung.

Über dem Kampf gegen den mörderischen Varcolac sollte allerdings nicht vergessen werden, dass Brian (Version 1) nicht irgendwie quantenmagisch varcoliert, sondern ganz banal erschossen wurde. Und das muss schließlich auch irgendjemand getan haben. Jemand aus unserer Welt. Deshalb ist "Superposition" genauso sehr Gerichtssaaldrama und Murder Mystery wie ein SF-Abenteuer.

... und insgesamt eine sehr gelungene Mischung. Wer daran Gefallen gefunden hat, für den gäbe es auch bereits einen Nachschlag: "Superposition" ist ein Einzelroman, doch hat Walton nur ein halbes Jahr später mit "Supersymmetry" ein Sequel veröffentlicht, das einige Jahrzehnte später handelt. Bin gespannt, ob sich dafür beizeiten ein deutschsprachiger Verlag interessieren wird.

Coverfoto: Pyr

Brian K. Vaughan & Fiona Staples: "Saga 4 + 5"

Graphic Novels, broschiert, 160 bzw. 144 Seiten, Image Comics 2015, deutschsprachige Ausgaben Cross Cult, 2015

Hat bei den Comics vorhin jemand einen Titel vermisst? Natürlich fehlte da noch meine Lieblingsserie der vergangenen Jahre, die ihre Qualität auch im nun schon fünften Sammelband bewahrt hat: "Saga". Anmerkung vorab: Die Rezension folgt der Originalausgabe, weil ich "Saga" seinerzeit auf Englisch zu lesen begonnen habe und dann auch nicht mehr switchen wollte. Alle fünf Bände sind mittlerweile aber auch auf Deutsch beim Verlag Cross Cult erhältlich.

Band 4 beginnt mit einer Hommage an den ursprünglichen Start der Serie, nämlich einer Geburtsszene aus der Gynäkologenperspektive. Diesmal allerdings erblickt der Sprössling von Prince Robot IV das Licht der Welt, soll heißen: das Baby hat einen Bildschirm als Kopf. Und kommentiert wird der glückliche Moment später noch galliger als die vier Jahre zurückliegende Geburt, mit der "Saga" einst begann: "Nothing drives a man to new pussy faster than seeing a kid come out of the old one."

Trouble in paradise

Wir dringen diesmal also ein wenig tiefer in die Androiden-Kultur ein – eine von vielen Zivilisationen, die in den galaxisweiten Krieg hineingezogen wurden, vor dem sich "Saga" abspielt. Auch hier hat sich der Krieg ökonomisch verheerend ausgewirkt. Dengo, einem Angehörigen der Unterschicht, reicht es – um ein Zeichen zu setzen, entführt er das Baby des Prinzen in den Weltraum und plant eine Revolution. Dengos Schichtzugehörigkeit erkennen wir übrigens daran, dass auf seinem Bildschirmkopf nur Schwarz-Weiß-Bilder laufen. In krassem Gegensatz dazu trägt der alte King Robot, den wir hier – auf einer fetten Doppelseite! – zum ersten Mal sehen dürfen, einen Plasmabildschirm von geradezu lächerlichen Ausmaßen auf den Schultern. Vermutlich hat er auch Surround-Sound, jedenfalls sind seine Sprechblasen in Versalien gehalten. Fiona Staples' Visualisierungen von Brian K. Vaughans Story sind wie immer fantastisch.

Dengos Weg führt ihn zum Planeten Gardenia – eine Art interstellares Hollywood -, wo die beiden Hauptfiguren von "Saga" nach langer Flucht eine Verschnaufpause einlegen konnten: Marko und Alana, Angehörige jener beiden Völker, die den galaktischen Krieg ausgelöst hatten ... und die sich zum Entsetzen aller verliebt und ein Kind gezeugt haben. Auf Gardenia führen sie ein geradezu beschauliches Leben; Alana (am Cover mit Jennifer-Aniston-Gedenkperücke zu sehen) schafft als Soap-Darstellerin das nötige Geld ran. Doch am Rande der größten Liebesgeschichte der Galaxis ziehen trübe Wolken auf: Drogenkonsum, ein sich anbahnendes Gspusi und nicht zuletzt der alltägliche Stress einer Jungfamilie fordern ihren Tribut. Und dann kommt auch noch Dengo.

+++ Spoilergrenze Beginn +++

Band 4 endet mit einer Trennung, zudem taucht im Epilog noch rasch eine ganze Menge alter Bekannter auf; spätestens hier ist der Band nichts mehr für NeueinsteigerInnen. "It helps if you're good with names", wird eine der Figuren später sagen, als wollte sie einen Kommentar zur Serie abgeben. Längst befinden wir uns in einem "Game of Thrones"-artigen Szenario, in dem in rascher Folge zwischen verschiedenen Grüppchen herumgeswitcht wird, die sich in ständig neuen Konstellationen zusammenfinden. Es wird geliebt und gestritten, gelitten, gekämpft und gestorben – und wie bei George R. R. Martin kann auch hier der Serientod unerwartet zuschlagen.

Eine der seltsameren neuen Allianzen gehen in Band 5 die einstigen Todfeinde Marko und Prince Robot IV ein: beide auf der Suche nach ihren entführten Kindern. Und während sich Pazifist und Ex-Soldat Marko mit der Gewaltbereitschaft auseinandersetzen muss, die in ihm steckt, sah sich Alana dazu gezwungen, mit Tochter Hazel (und nicht zu vergessen der knarzigen Schwiegermama!) Dengo zu dessen Ziel zu folgen: einer Gruppe von Revolutionären. Die möchte man für Hoffnungsträger halten, schließlich hat der Krieg die ganze Galaxie ins Unglück gestürzt. Doch obwohl die Revolutionäre jede Menge ausgezeichnete Gründe haben, sich gegen das herrschende System aufzulehnen ... nun, sagen wir: Vaughan schätzt es genauso wie George R. R. Martin, die Grenzen zwischen Gut und Böse durchlässig zu halten.

+++ Spoilergrenze Ende +++

Beim Erstkontakt mit "Saga" fand ich Fiona Staples' Illustrationen anfangs noch gewöhnungsbedürftig. Weniger die knallige Pop-Art-Buntheit als Staples' Wagemut, vollkommen vertraute, ja geradezu banale optische Elemente nach Belieben neu zu kombinieren: Nehmen wir ein Walross und lassen es auf langen Beinen galoppieren. Oder stellen wir eine Babyrobbe hin, ziehen ihr einen Blaumann an und drücken ihr eine Hellebarde in die Flosse (das Bild ist zum Schreien!). Und die Prostituierte da, die grade einen Blowjob spendet ... an der würde sich doch ein Biberschwanz gut machen. Faszinierenderweise hat sich aus diesem Recycling von Versatzstücken tatsächlich ein eigenständiger Look ergeben. Der Beweis, dass alles gut werden kann, wenn man es nur konsequent genug durchzieht.

Band 4 und 5 warten wie gehabt mit optischen Attraktionen am laufenden Band auf. Wenn ein Planet schon Demimonde heißt, na dann ist er eben auch tatsächlich in der Mitte durchgeschnitten, sodass man den halbierten Kern draus hervorlodern sieht. Oder das Raumschiffdesign: Zu dem Baum und dem Totenschädel, die wir bereits kennen, gesellt sich nun auch ein riesiger Huf. Hoffentlich bekommen wir den Rest des Maschinentiers in einer späteren Folge auch noch zu sehen. Extra-Extra-Applaus noch für zwei Szenen mit Drachen-Beteiligung: In der ersten führt ein klassischer Drachenkampf erst zu einer Urin-Explosion und dann zu einem gänzlich unerwarteten Ende. Und die zweite ... ach, Hut ab, Frau Staples, sowas hab ich noch nicht gesehen. Und ich habe schon viel gesehen.

Möge es immer so weitergehen. Jeder Sammelband umfasst sechs Hefte der im Monatsrhythmus erscheinenden Originalserie. Heft #33 ist gerade erst herausgekommen, bis zum Erscheinen von Band 6 dauert es also noch mehr als eine volle Jahreszeit lang. Ächz!

Coverfotos: Image Comics

Laird Barron: "Hallucigenia"

Broschiert, 271 Seiten, € 17,40, Golkonda 2015 (deutschsprachige Originalzusammenstellung)

Schon in der Storysammlung "Occultation" ist mir aufgefallen, dass Laird Barron – US-amerikanischer auteur d'horreur extraordinaire – offenbar ein gewisses Faible für Biologie bzw. Paläontologie hat. Da passt es doch, dass dieser Band und eine der darin enthaltenen Geschichten den Namen eines Tiers aus dem Kambrium tragen, das so seltsam aussah, dass man erst vergangenes Jahr – knapp vier Jahrzehnte nach seiner Erstentdeckung – herausgefunden hat, wo bei ihm vorne und hinten war. Auch wenn das Wort hier eher assoziativ gebraucht wird.

Nicht in fremde Scheunen gehen

Zugleich ist "Hallucigenia" die Erzählung aus Barrons umfangreichem Kurzgeschichtenwerk, die der mehrfach preisgekrönte Autor all denen ans Herz legt, die nur eine einzige von ihm lesen wollen (was ohnehin eine blöde Idee wäre, man würde was verpassen). Die vom asiatischen Horrorkino inspirierte Geschichte setzt sich in Gang, als Wallace Smith, Immobilienmakler Mitte 50, mit seiner deutlich jüngeren Frau durch den Bundesstaat Washington fährt und sich von ihr zu einem Zwischenstopp überreden lässt, um die Landschaft zu erkunden. Ganz schlechte Idee. Die beiden stoßen auf ein Gehöft, hinter dem Menhire ominös in der Gegend herumstehen, und auf eine Scheune, die es wahrlich in sich hat.

Wallace kann sich danach nur noch bruchstückhaft daran erinnern, was er darin vorfand – einen Pferdekadaver und eine Art riesiges Wespennest, wie es ihm nicht zum letzten Mal begegnet sein wird: Und dann sah er sie, die elefantöse Masse, die an der Decke hing, ein obszönes Geschmier aus bebenden Stärkefäden und vielgliedrigen Extremitäten. Ein blutiger Spalt verlief entlang ihrer Achse, aus der zahllose schmierige Stränge hervorquollen. Wallaces Frau ist nach dem Vorfall ein hirntoter Pflegefall, er selbst wird von Halluzinationen geplagt – und dass Menschen aus seinem Bekanntenkreis, die dem Rätsel nachgehen wollen, verschwinden, verbessert seine psychische Gesundheit auch nicht.

Bitte beachten Sie den Spalt

Barron wird gerne mit H. P. Lovecraft in Verbindung gebracht – kein Wunder: Auch bei ihm hat der Schrecken oft ein naturwissenschaftliches Gesicht. Fremde, alte Wesen gehen ihren biologischen Abläufen abseits der Menschenwelt nach ... doch wehe, wenn sich ihnen ein Übergang auftut. Oft sind Barrons Charaktere wissenschaftlich bewandert, von der Quantenphysik bis zur Molekularbiologie (nicht dass ihnen das helfen würde ...). Der Wissens- und Technologiestand ist seit HPLs Zeiten aber natürlich vorangeschritten. Passend dazu auch dieses Detail: Lovecrafts Figuren wurden gerne mal von Büchern oder Briefen in Angst und Schrecken versetzt, deren Inhalt plötzlich ganz dicht an ihre Gegenwart heranrückte – hier ist es ein Tonband.

Die in den Spalten hausen stand drohend auf der Scheune ... Wallace wird in der Folge immer häufiger auf Risse und Spalten treffen. Ob in Skulpturen und anderen Objekten oder in seinem Gedächtnis; und nicht zu vergessen die Kopfwunde seiner Frau, die nicht verheilen will, sondern sich im Lauf der Monate immer weiter öffnet: alles symbolisch für die brüchig werdende Realität, in der sich Barrons Figuren stets wiederfinden.

Globalisierungsgewinner im Pech

Ein Teil von Barrons Œuvre ließe sich in einem gemeinsamen, durchaus Lovecraft-ähnlichen Universum integrieren. Dazu zählt auch das bereits im Rahmen von "Occultation" besprochene "Mysterium Tremendum" – auch hier stößt man im Nordwesten der USA auf ein uraltes Erbe. Ebenfalls in "Occultation" war "Strappado" vertreten; lustig dass aus diesem Band just die beiden Geschichten für "Hallucigenia" ausgewählt wurden, die schwule Paare als Hauptfiguren haben. Und gar nicht lustig, sondern höchst gruselig, wie eine Geschichte binnen weniger Jahre noch an Grauen gewinnen kann. In dieser Erzählung wird eine Jet-Set-Gruppe zum Rohmaterial für ein blutiges Kunstprojekt – schlimm genug. In den Jahren seit dem Ersterscheinen aber haben wir uns an Gemetzel, die als Videoclips inszeniert werden, gewöhnen müssen – das verleiht "Strappado" nachträglich noch einmal eine Extradimension.

Barron rekrutiert seine ProtagonistInnen gerne aus Kreisen der Globalisierungsprofiteure ... und stellt dann wirklich schlimme Sachen mit ihnen an: Ob in "Strappado" oder "Die Prozession des schwarzen Faultiers" (herrlicher Titel!), das überraschenderweise nicht in Südamerika, sondern in Hongkong angesiedelt ist. Dort finden wir eine kleine internationale Kolonie von Expatriates vor, die vermeintlich idyllisch vor sich hin lebt. Jüngster Neuzugang ist der Sicherheitsberater Royce Hawthorne, der einen Industriespion ausfindig machen soll. Während er die Siedlung beobachtet, fallen ihm allerdings immer mehr Seltsamkeiten auf – unter anderem ein Kreis schrulliger alter Damen, die er bald für Angehörige eines Kults hält.

Schon bevor sich die Geschichte in ekelige Höhen emporschwingt, zu denen man einen Soundtrack voller schmatzender Geräusche im Kopf hat, gab es Vorwarnungen. Auf dem Weg nach Hongkong findet Royce im Waschbecken der Flugzeugtoilette eine dunkle Masse, als wäre dort ein menschlicher Fötus abgetrieben worden – real oder Einbildung im Rausch? Später wird er verstörende Bilder im Fernsehen und Kino sehen, unerklärliche Ortsversetzungen erleben und bald kaum noch zwischen Halluzinationen und Erinnerungen unterscheiden können. Einmal mehr zerfällt um eine Barron-Figur Stück für Stück die Realität – und diesmal gibt's am Ende sogar eine Erklärung.

Bitte mehr!

Die vier hier enthaltenen Erzählungen aus den Jahren 2006 bis 2010 sind ein fast schon zaghafter erster Vorstoß, Barrons Schaffen endlich auch auf den deutschsprachigen Markt zu bringen. Hoffentlich ist Golkonda mit "Hallucigenia" ein ähnlicher Erfolg beschieden wie mit dem ersten Storyband Ted Chiangs, der rasch den zweiten nach sich zog. Denn abgesehen von zwei Romanen hat Barron bereits vier Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Jede Menge großartiger Stoff für Nachfolger!

Coverfoto: Hallucigenia

Stephen Baxter: "Xeelee. Endurance"

Broschiert, 448 Seiten, Gollancz 2015

Und zum Abschluss der Stephen-Baxter-Festspiele 2015 noch deren Höhepunkt – zumindest für diejenigen, die seinerzeit von der Storysammlung "Vakuum-Diagramme" gebannt waren. "Xeelee. Endurance" bildet nun, knapp 20 Jahre später, einen Schwesterband dazu. Es umfasst elf Erzählungen von Kurzgeschichten- bis Novellenlänge, die allesamt zu Baxters vermutlich populärster Schöpfung zählen, dem "Xeelee"-Zyklus. Diese Erzählungen sind, abgesehen von einer Originalveröffentlichung, 2004 bis 2015 in "Analog" und diversen Anthologien erschienen und hier in der handlungschronologisch richtigen Reihenfolge zusammengestellt. Wie schon in den "Vakuum-Diagrammen" spannt sich der Bogen von der relativ nahen Zukunft bis in fernste Weiten ... diesmal sogar noch erheblich weiter als zuletzt. Klingt doch verheißungsvoll, oder?

Kurze Einführung für NeueinsteigerInnen

Nur eines darf man sich nicht erhoffen: Wie die alte Nemesis der Menschheit genau aussieht, erfahren wir auch hier nicht. Vor ein, zwei Jahren ging das Gerücht, Baxter schreibe an einer Erzählung, in der wir die stets im Off bleibenden Xeelee endlich auch mal zu "sehen" bekommen würden. Falls er das tatsächlich tut, dann ist sie in diesem Band noch nicht enthalten. Und in nächster Zeit ist er ohnehin anderweitig beschäftigt: Nicht nur mit dem Abschluss der "Lange Erde"-Reihe, sondern auch mit einer nicht von H. G. Wells' Erben abgesegneten Fortsetzung zu "Krieg der Welten". Könnte spannend werden, seine Fortsetzung von Wells' "Zeitmaschine" ("Zeitschiffe") war jedenfalls ein Kracher.

Aber zurück zu den Xeelee: Vermeintliche Nemesis der Menschheit müsste man genau genommen sagen. Denn eigentlich kämpfen die Xeelee seit Anbeginn der Zeit gegen einen ganz anderen Feind. Die sogenannten Photino-Vögel sind Geschöpfe der Dunklen Materie und bestrebt, das Universum ihren Bedürfnissen anzupassen – unter anderem infizieren sie Sterne und unterwerfen sie einem beschleunigten Alterungsprozess. Und obwohl die Xeelee über Technologie verfügen, wie sie höchstens noch bei den Kosmokraten der "Perry Rhodan"-Serie ihresgleichen findet, können sie die Photino-Vögel nicht stoppen.

In diesem Milliarden von Jahren andauernden Konflikt ist der Krieg der Menschen gegen die Xeelee, geboren aus einer Reihe von Missverständnissen, nicht mehr als ein Moment der Irritation. Am Ende schieben die Xeelee die Menschheit ganz einfach sanft, aber bestimmt zur Seite und vollenden ihr großes Projekt: Sie wechseln in ein anderes Universum über und geben das unsere dem unvermeidlich gewordenen Untergang preis.

Und so beginnt es

Vor dem Hintergrund dieser feststehenden und durchaus ernüchternden Future History sind die einzelnen Geschichten aufgehängt wie Perlen. Wir starten mit "Return to Titan" im 37. Jahrhundert, erstveröffentlicht im Jahr 2010 und noch ganz unter dem Eindruck der Cassini-Huygens-Mission geschrieben. Bei Huygens' Landung auf dem Saturnmond Titan haben wir 2005 mitgefiebert und offenbar verpasst, was den Prolog dieser Geschichte abgibt: Nach Abbruch der Datenübertragung wird die Sonde von einer Klaue gepackt und unter die Oberfläche gezogen. Also, das Bild fällt doch immer aus, kurz bevor's am spannendsten wird!

Die Rückkehr nach Titan beschert uns ein Wiedersehen mit alten Bekannten aus dem "Xeelee"-Zyklus: Miriam Berg und Michael Poole, dem Mann, der der Menschheit die Wurmlochtechnologie beschert hat (und der viel, viel später das Ende aller Existenz bezeugen wird ...). Zusammen mit dem moralisch zweifelhaften Jovik Emry, einem Ich-Erzähler mit ironischer Distanz, sind sie auf einer gewinnorientierten und letztlich destruktiven Mission. Und stören dabei, ohne es zu ahnen, zum ersten Mal die Kreise der Xeelee. Das Verhältnis war also von Anfang an belastet.

Per aspera ...

In den nächsten Erzählungen hat sich die Menschheit mit Gegnern herumzuschlagen, die ihr in etwa ebenbürtig sind. Das sind zunächst einmal Menschen selbst: In "Starfall" führen Kolonisten einen lange vorbereiteten Schlag gegen die Zentralwelt des Imperiums, also die Erde. Im Kontext der Gesamthistorie ist das zwar eine weniger bedeutende Episode, sie glänzt aber mit physikalischem Schachspiel und hat eine Anknüpfung an die alte Erzählung "Der Logik-Pool".

"Remembrance" erinnert an ein vergessenes Verbrechen unter der Herrschaft der Squeem, der ersten außerirdischen Spezies, die die Menschen für kurze Zeit unterwerfen konnte. Fast unmittelbar danach kam es zur zweiten und länger anhaltenden Invasion durch die Quax. Die Novellette "Endurance", in diesem Band erstveröffentlicht, schildert das Leben unter der Knute der Quax und enthält – wie die meisten Geschichten hier – sehr viele Anspielungen auf ältere Erzählungen aus dem "Xeelee"-Zyklus. Vorwissen ist da durchaus praktisch. Verallgemeinerbar ist aber auf jeden Fall, wie das moralische Dilemma von Widerstand versus Kollaboration auf eine Familiensituation heruntergebrochen wird. Und Hauptfigur Mara muss zur Kenntnis nehmen, dass ihr allseits populärer Sohn – Mutterliebe hin oder her – ein dummer Arsch ist.

... ad bellum

In "The Seer and the Silverman" haben sich die Gezeiten gewandelt, nun sind die Menschen die Aggressoren. Zu spüren bekommen dies die Silver Ghosts, die für lange Zeit letzte Spezies, die der expandierenden Menschheit Paroli bieten kann; wenn auch nur kurz. Verständlich, dass sich die Menschen nach zweimaliger Fremdherrschaft nie wieder in der Position des Schwächeren wiederfinden wollen. Die Parole "Better a Galaxy in ruins than a Galaxy that is not ruled by us", lässt aber nichts Gutes erahnen. In diese Epoche wird auch der Beginn des sinnlosen Kriegs gegen die Xeelee fallen.

Doch wir switchen gleich nahe an dessen Ende, knapp eine Million Jahre später. In der ebenso schönen wie traurigen Novelle "Gravity Dreams" befindet sich die Menschheit längst auf dem Rückzug. Die Xeelee haben damit begonnen, die Sterne buchstäblich zu verhüllen – nun kann man nur noch versuchen, die verstreuten Splitter der Menschheit einzusammeln und hinter die Front zu retten. "Gravity Dreams" schildert ein solches heroisches Projekt, und Altfans werden sich darüber freuen, dass wir dafür in das Mini-Universum des Romans "Das Floß" zurückkehren.

Am Ende der Zeit

Am Ende des Bands stehen fünf lose verbundene Kurzgeschichten, die auf Old Earth angesiedelt sind – 3,8 bis 5 Milliarden Jahre in der Zukunft. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie sie zu den zeitlich letzten Erzählungen der "Vakuum-Diagramme" passen. Damals schlossen die Xeelee die Menschheit in eine Raum-Zeit-Falte ein, woraufhin diese auf ein steinzeitliches Niveau zurückfiel. Was auch immer in der – laaangen! – Zwischenzeit mit der Erde passiert ist, nun haben wir es mit einer ganz anderen Welt zu tun. Aber einer großartig konstruierten! Einmal mehr tut Baxter das, was er so vortrefflich beherrscht: Er entwirft eine Welt mit veränderten Naturgesetzen und denkt diese dann zu erstaunlichen Konsequenzen weiter.

In diesem Fall haben wir es mit "stratifizierter Zeit" zu tun: Je weiter man nach oben klettert, desto schneller vergeht sie – und der Effekt tritt schon in der Dimension von bloßen Metern in Kraft. Was sich nicht nur auf die Hierarchien und Machtverhältnisse der Gesellschaften auswirkt, die unter solchen Bedingungen leben, sondern auch auf das Leben. Ein langer Hals bedeutet ein kleines bisschen schnelleres Denken – ein evolutionärer Vorteil, der sich im Lauf der Jahrmilliarden auswirkt. Aber nicht nur das Leben entwickelt sich weiter. Es ist so viel Zeit vergangen, dass selbst die Relikte des technischen Zeitalters einer Evolution unterzogen wurden: Intelligente Maschinen, Menschen und Lebewesen von verschiedenen Welten ergänzen sich hier zu einem völlig neuartigen Ökosystem.

Doch egal wie exotisch die Rahmenbedingungen, einige Konstanten bleiben, solange es Menschen gibt. Zum Beispiel gewaltsame Konflikte zwischen verschiedenen Weltanschauungen. Hier sind es einmal mehr Kreationisten, die an einen Schöpfer glauben, und Mechanisten, für die die Welt auf natürliche Weise entstanden ist – ironischerweise haben im Fall von Old Earth und ihrer stratifizierten Zeit allerdings die Kreationisten recht. Und noch etwas bleibt, das sich trotz aller kosmischen Kühle wie ein roter Faden durch alle Erzählungen des "Xeelee"-Zyklus sowie durch Baxters Werk insgesamt zieht: Solange es Menschen gibt, die bereit sind, Grenzen zu überschreiten und etwas Neues zu wagen, solange besteht auch Hoffnung. Sogar über den Untergang des Universums hinaus.

Coverfoto: Gollancz

Olaf Stapledon: "Die Letzten und die Ersten Menschen"

Gebundene Ausgabe, 464 Seiten, € 25,70, Piper 2015 (Original: "Last and First Men", 1930)

Kommen wir abschließend zu dem Mann, der das Genre der Future History miterfunden hat – und zugleich so weit getrieben wie kaum jemand anderes. Insbesondere wegen seiner beiden Werke "Last and First Men" (1930) und "Star Maker" (1937) wurde Olaf Stapledon zu einem Säulenheiligen der Science Fiction erklärt ... eines Genres, von dessen Existenz der britische Philosoph noch gar nichts wusste, als er "Die Letzten und die Ersten Menschen" schrieb.

Vor einigen Jahren ist der Roman in einer Vorschau von Heyne aufgetaucht, dem Verlag, der 1983 die deutschsprachige Erstausgabe veröffentlicht hatte. Die Übersetzung ist übrigens immer noch die gleiche wie damals, lediglich überarbeitet und an reformierte Schreibweisen angepasst (Fotosynthese, urx). Doch obwohl Heyne in seiner SF-Schiene zunehmend auf Reissues setzt, wurde der Veröffentlichungstermin verschoben und verschoben, und nun ist der Überklassiker bei Piper gelandet, siehe da. In einer sehr hübsch aufgemachten Version, nebenbei bemerkt.

"Gebrauchsanweisung"

SF-Fans "Die Letzten und die Ersten Menschen" vorzustellen, erscheint etwa so notwendig, als wollte man Salzburger Festspieldinos die Handlung des "Jedermann" erzählen. Aber es kommen ja laufend neue nach, darunter auch GelegenheitsleserInnen, die sich in der Buchhandlung vielleicht auf gut Glück etwas herausgreifen, das inmitten bunter Weltraumabenteuer der leichteren Art steht ... und die dann mit diesem Werk eine gewaltige Überraschung erleben würden.

Darum sei zunächst einmal gesagt: "Die Letzten und die Ersten Menschen" ist kein Roman im engeren Sinne. Er hat keine herkömmlichen ProtagonistInnen und schon gar keine, die individuell bedeutsam genug wären, dass sie namentlich genannt würden – stattdessen sind die Akteure ganze Zivilisationen. Man könnte das Buch eher als historisch-dialektische Abhandlung betrachten, die fiktive Geschichtsschreibung einer Zukunft vom 20. Jahrhundert bis etwa eine Milliarde Jahre weiter. Immer schneller voranschreitend und betrachtet erst aus der Vogel-, dann aus der Satelliten- und schließlich aus der Hubble-Perspektive.

Außerdem ist das Buch in jeder Hinsicht ein Kind seiner Zeit und würde heute nie und nimmer in dieser Form geschrieben werden; mehr dazu später.

Bye Bye, Europa

Stapledons Zukunft beginnt nach dem "Großen Krieg" (dem Ersten Weltkrieg) und geht ganz richtig davon aus, dass weitere und verheerendere Kriege folgen werden – auch wenn die fiktiven hier natürlich andere sind als der, den Stapledon vor seinem Tod im Jahr 1950 noch miterleben musste. In seiner Historie wird übrigens ganz Europa durch einen US-amerikanischen Giftgasangriff ausgelöscht. Der Weg ist frei für erst den globalen Interessenkonflikt Amerikas und Chinas und schließlich die Amerikanisierung der gesamten Welt.

Im Vorwort betont Stapledon mehrfach, dass er versucht hat, einen Mythos zu erschaffen, nicht irgendwelche Prognosen zu stellen; im Nachwort wird dies von Klaus N. Frick ebenfalls noch einmal hervorgehoben. Trotzdem ist es natürlich witzig, wenn man über oh so passend Erscheinendes stolpert – etwa über den Konflikt Russlands mit der "Europäischen Konföderation" (... und sie zerfiel bei jeder ernsten Krise.). 1930 die USA und China als Hauptrivalen um die globale Vormachtstellung anzusehen, könnte ein Zufallstreffer gewesen sein; die hier beschriebene kulturelle Amerikanisierung der Welt aber auch ein Fall von Hellsichtigkeit.

Höhenflug und Absturz

Die so entstehende Weltgesellschaft ist dann zugleich die erste Gelegenheit, Ideen der kühneren Art einzubauen. Der antizipierte Kult der Bewegung verknüpft sich mit der zu Stapledons Lebzeiten immer stärker boomenden Luftfahrt zu einem bizarren Lifestyle, der Rituale wie dieses pflegt: Unmittelbar nach seiner Geburt wurde er von einer Priesterin zu einem Flug mitgenommen und dann aus dem Flugzeug geworfen. Die Neugeborenen konnten sich dabei an einen Fallschirm klammern, und ihre Väter fingen sie mit den Tragflächen ihrer Flugzeuge geschickt auf. Dieses Ritual diente als Ersatz für Empfängnisverhütung (die als Beeinflussung der Göttlichen Energie verboten war), denn da bei vielen Säuglingen der alte affenartige Greifinstinkt verkümmert war, ließen sie den Fallschirm los und stürzten sich auf dem Flugzeug ihres Vaters zu Tode.

Die Amerikawelt, ein Zerrbild der mobilitätsverliebten Moderne, geht passenderweise am übermäßigen Verbrauch fossiler Ressourcen zugrunde. Auf die Hochkultur folgt ein viel längeres Dunkles Zeitalter, aus dem sich noch einmal eine Art Spiegelbild unserer Ära auf geringerem Niveau erhebt: Ein kurzes Wiederaufflackern, ehe für lange Zeit wieder primitivste Barbarei herrscht. Damit haben wir Jahrtausende überflogen und doch erst an der äußersten Oberflächenschicht gekratzt. Dann was hier sein Ende gefunden hat, ist nur der Erste Mensch, der Homo sapiens. Siebzehn(!) weitere Spezies werden auf ihn folgen, mehr dazu auf der nächsten Seite.

Coverfoto: Piper

Im Wandel der Zeit

Spätestens wenn der Homo sapiens einen extremen genetischen Flaschenhals passiert und aus ihm schließlich der Zweite Mensch hervorgeht, beginnt der Teil des Buchs, der "Last and First Men" zu einem Werk gemacht hat, das die Science Fiction prägte. Wolfgang Jeschke nannte es einen "Steinbruch", von dessen Material unzählige andere AutorInnen zehren konnten. Den Wechsel von Spezies zu Spezies und die extreme Langzeitperspektive finden wir in Stephen Baxters "Evolution" oder auch dem "Xeelee"-Zyklus ebenso wieder wie in Brian Aldiss' "Der lange Nachmittag der Erde". Arthur C. Clarke berief sich genauso auf Stapledon, wie es Stanislaw Lem oder Vernor Vinge taten. Konzepte wie Genmanipulation, Terraforming oder die Vernetzung von Gehirnen: alles hier schon zu finden.

Der Zweite Mensch – in der Tat ein Mensch 2.0 – ist eine in jeder Hinsicht verbesserte Variante: Langlebig, empathisch, körperlich und geistig dem "Prototyp" überlegen ... hat aber das Pech, mit einer Invasion vom Mars konfrontiert zu werden. Nicht durch Tripods oder grüne Männchen übrigens, sondern durch ziemlich originell beschriebene kollektiv denkende und handelnde Wolkenwesen. Sie werden zwar zurückgeschlagen (und ausgelöscht), aber auch die Zweite Menschheit verlassen die Kräfte. Immer wieder werden in der Folge blühende Kulturen nicht nur durch eigene Schuld, sondern auch schon mal durch unglückliche äußere Umstände untergehen.

Auf und Ab

Im Wechsel der Menschenspezies begegnen wir unter anderem philosophisch veranlagten Hünen, in Hightech-Türmen eingebauten Riesengehirnen, pavian- oder seehundgleichen Subhumanen oder den sorglos in den Tag hineinlebenden Fliegenden Menschen, deren Kultur der Unbeschwertheit erstaunlich lange anhält. In einer Zivilisation wird Musik zur Ideologie, eine andere besiedelt die Venus und eine noch spätere den Neptun. Mal züchtet eine Menschenart ihren eigenen Nachfolger gezielt heran, mal lässt ihn die Evolution auf die lange natürliche Weise entstehen, nachdem die Zivilisation wieder einmal zerfallen und Mensch X erneut zum Tier geworden ist.

Die Phasen, in denen jeweils eine Spezies dominant ist, sind übrigens keineswegs homogene Blöcke. Sie umfassen hunderttausende oder auch hunderte Millionen Jahre, und innerhalb dieser Zeiträume setzt sich der stete Wechsel von Hochkultur und Niedergang, von Genozid und Renaissance gewissermaßen fraktal fort. Immer wieder erhoben sie sich von der Barbarei zu einer Weltzivilisation, und immer wieder glitten sie in die Barbarei zurück. Das stete Auf und Ab ergibt eine fast schon hypnotische Wirkung.

Kaum einzuordnen

Heftige Rückschläge miteingerechnet, zeigt sich über den Staffellauf der Spezies hinweg zwar eine Grundtendenz zum geistigen Fortschritt – bis zum Höhepunkt in Form der Achtzehnten Menschen, die auf dem Neptun in einer Art mannigfaltigem Utopia leben und laut Vorwort übrigens diejenigen sind, die dem Autor des Buchs die Geschichte der Zukunft per telepathischer Zeitreise zukommen ließen. Trotzdem kann man nicht sagen, dass sich Stapledons Werk auf so etwas wie eine Botschaft eindampfen ließe, ebensowenig auf eine klare Ideologie.

Stapledons Zukunft verläuft ohne Individualismus, ohne ausgeprägte Solisten und Einzelkämpfer, schreibt Frick im Nachwort. Dass hier alles im Kollektiv stattfindet, dürfte nicht zu knapp der Entstehungszeit des Buchs geschuldet sein, in der nicht nur Kommunismus und Faschismus aufblühten, sondern generell die Idee von einer Massengesellschaft vorherrschte, in der weitgehend identische Individuen sich auf weitgehend identische Weise verhalten. Obwohl "Die Letzten und die Ersten Menschen" von Form und Inhalt her immer wieder an sozialistische Utopien des 19. Jahrhunderts erinnert, lässt sich in ihm genauso stark das christliche Vanitas-Motiv von der Vergänglichkeit des Menschen und seines Strebens finden. Und ebenso dessen pures Gegenteil: die für die Moderne typische Lust am Machbaren und dessen ständiger Ausweitung.

Kind seiner Zeit

Und hier kommt der eingangs erwähnte zweite Aspekt ins Spiel, den man bei der Lektüre des Buchs berücksichtigen sollte: Es ist ein Kind seiner Zeit. Die Erzählung im Kollektiv bedingt zwangsläufig, dass es hier von Generalisierungen nur so wimmelt. Was natürlich im ersten Teil, in dem wir uns noch innerhalb der uns vertrauten Welt befinden, besonders auffällt. Da Stapledon gleichsam in Bausch und Bogen schreibt, haben wir es am laufenden Meter mit nationalen Mentalitäten und sonstigen Stereotypen zu tun, tanztalentierte "Neger" und geschäftstüchtige Juden inklusive.

Frauen kommen fast ausschließlich im Kontext von Sex und Kindeserziehung vor. Großartig die Passage, in der die Tochter der Menschheit nackt aus dem Meer steigt wie ein Bond-Girl und sich dem künftigen Weltpräsidenten mit folgenden unsterblichen Worten an den Hals wirft: "Auf jeden Fall bist du ein Mann, ein echter Mann. Nimm mich! Sei der Vater meines Sohnes! Nimm mich mit in die gefährlichen Städte Amerikas, damit ich für dich arbeiten kann." Ganz zu schweigen von der Beschreibung einer rituellen Schändungszeremonie einer weißen Frau durch einen schwarzen Mann ...

Klischees, Pathos, Verallgemeinerungen oder auch schlicht Rassismus und Sexismus: Das alles ist für heutige LeserInnen sicherlich gewöhnungsbedürftig. Aber letztlich nichts anderes als die Teile, in denen sich Stapledon auf inzwischen obsoletes "Wissen" beruft, das zu seiner Zeit populär war (etwa dass der Säbelzahntiger ausgestorben sei, weil ihn seine Hauer beim Fressen behindert hätten). Eine britische Studie hat sich diese Woche gegen die speziell in den USA aufkommende Praxis gewandt, alte Kunstwerke politisch korrekt zu "airbrushen", also nachträglich ihrer heute als unangenehm empfundenen Stereotype zu entledigen. So etwas ist ein Auswuchs und letztlich nichts anderes als gut gemeinter Vandalismus. Es reicht völlig, sich beim Lesen in Erinnerung zu rufen, dass "Die Letzten und die Ersten Menschen" andere Zeitalter beschreibt ... aber eben auch selbst aus einem anderen Zeitalter stammt. Es bleibt die Wiederveröffentlichung des Jahres.

Urlaub! Urlaub!

Soweit 2015. Was Phantastik betrifft, ein ziemlich gutes Jahr, so alles in allem. Die Rundschau kehrt im März aus dem Urlaub zurück und bringt ein paar alte grüne Bekannte der invasiven Art mit, wenn die vom Zoll nicht aufpassen. Bis dann! (Josefson, 30. 1. 2016)

Coverfortos: Methuen, Magnum, Gollancz, Heyne