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Am nördlichsten Punkt der Erde, der sich per Linienflug erreichen lässt, ist der Standort des weltweiten Tresors für Saatgut: Im Svalbard Global Seed Vault sind Samenproben von 5105 Pflanzenarten untergebracht: von Amaranth aus Ecuador bis Kichererbsen aus Nigeria.

Foto: Reuters / Anna Filipova

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Bei Minus 18 Grad Celsius lagern Samenproben aus 217 Ländern in Plastikboxen verpackt und in Regalen gestapelt...

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... – hinter einer von Eiskristallen überwucherten Stahltür.

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Stille. Plötzlich beginnen die Ventilatoren der Kühlanlage zu toben. Von außen ist nur das betonierte, schmale Eingangsportal sichtbar, das aus dem schneebedeckten Berg zu wachsen scheint. Auf dessen Nutzung weist ein improvisiertes, an Holzpfählen angebrachtes Schild auf der Zufahrtsstraße hin: "Svalbard Global Seed Vault". Hier, in einem Tresor auf einer Insel im arktischen Eismeer, lagern Saatgutschätze aus der ganzen Welt.

Brian Lainoff öffnet die zweiflügelige Stahltür am Eingang. Dahinter ein betonierter Vorraum zum Anlegen der blauen Sicherheitshelme und -kleidung. Der großgewachsene US-Amerikaner arbeitet für den Global Crop Diversity Trust. Der Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt ist eine internationale Organisation mit Sitz in Bonn und zuständig für den Seed Vault. Ziel des Crop Trust: die Vielfalt an Saatgut zu bewahren. Lainoff ist aus Deutschland angereist, um den Saatguttresor zu öffnen. Eine seltene Gelegenheit für Journalisten, diesen zu besuchen. Kühle, aber trockene Luft schlägt uns entgegen. Dann, nach zehn Metern, die zweite Stahltür, dahinter führt ein röhrenartiger 120 Meter langer, sanft nach unten abfallender Tunnel geradewegs in den Berg.

Longyearbyen im norwegischen Spitzbergen ist gut 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurde, lagern heute in einem eisigen Berg etwa 865.000 Samenproben von Mais, Reis, Weizen und anderen Nutzpflanzen. In Plastikboxen verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie sollen nach einer Katastrophe helfen, die Erde wieder zu kultivieren, wenn Kriege, Epidemien, Hochwasser, Dürre oder Vulkanausbrüche Ackerland vernichtet haben.

2006 hatte man mit dem Bau der Einlagerungsanlage begonnen, 2008 wurde sie in Betrieb genommen. Nun lagern dort Samenproben von 5103 Pflanzenarten, darunter Amaranth aus Ecuador, Wildbohnen aus Costa Rica, Tomaten aus Deutschland, Gerste aus Tadschikistan, Kichererbsen aus Nigeria, Mais aus den USA oder Reis aus Indien.

Für Betrieb und Verwaltung des Svalbard Global Seed Vault ist das Nordische Zentrum für Genetische Ressourcen verantwortlich, ein Zusammenschluss von Genbanken der skandinavischen Länder und Islands. Zuständig für finanzielle Ausstattung ist der Crop Trust, der die Hälfte der jährlichen Betriebskosten von mindestens 100.000 Euro trägt. Der norwegische Staat zahlt den Rest. Die Baukosten von 6,3 Millionen Euro hat Norwegen übernommen.

2,25 Milliarden Samen

Warum unterstützt Norwegen den Global Seed Vault? "Der Klimawandel schreitet voran, deshalb ist es wichtig, ein Backup zu haben", sagt Norwegens Umweltministerin Tine Sundtoft.

Nach 120 Metern im gut beleuchteten und belüfteten Stollen: die nächste Stahltür. Eiskristalle überwuchern sie ebenso wie die Wände und Rohre in deren Nähe. Dahinter befinden sich die drei Lagerräume, die zusammen über eine Gesamtkapazität für 4,5 Millionen verschiedener Arten von Kulturpflanzen verfügen. Jede Art umfasst im Durchschnitt 500 Samen. Folglich können mehr als 2,25 Milliarden Samen in den drei Tresorräumen gelagert werden, von denen im Augenblick jedoch nur der mittlere benutzt wird. Der Hauptlagerraum ist zehn mal 27 Meter groß, in Längsreihen stehen blau-rot-graue Hochregale – alles Marke Billigbaumarkt.

Spitzbergen sei aus mehreren Gründen ein idealer Standort für die Samenlagerung, erklärt Lainoff: Svalbard ist der nördlichste Punkt der Erde, den man mit einem Linienflug erreichen kann. Norwegen führt keine Kriege, betreibt keine Atomkraftwerke. "Dies ist wahrscheinlich der sicherste Ort auf unserem Planeten", sagt Lainoff.

Die Entscheidung, welche Samen eingelagert werden, treffen die einzelnen Länder und Organisationen. Mit einer Ausnahme: Genetisch verändertes Saatgut muss draußen bleiben. Das schreiben die norwegischen Einfuhrgesetze vor.

217 Länder haben ihre Saatgutproben gesichert. Sogar untergegangene Staaten wie die Sowjetunion, die DDR und Jugoslawien sind im Global Seed Vault vertreten – ihre Proben wurden von den Nachfolgestaaten übernommen. Gleichwohl wurden zuletzt immer weniger Saatgutproben eingelagert. Der Grund: Kleine Genbanken haben Probleme, eine ausreichende Qualität zu gewährleisten. Denn, so Lainoff, die "Proben müssen im Herkunftsland unter den gleichen Bedingungen gelagert werden wie auf Spitzbergen", also bei minus 18 Grad Celsius.

Die Temperatur und niedrige Feuchtigkeit im Tresorraum sorgen für eine geringe Stoffwechselaktivität, was die Samen über lange Zeit hin lebensfähig halten soll. Weizen kann bis zu 1200, Rettich um die 80 Jahre gelagert werden. Gleichzeitig kann das Saatgutlager traditionelle Genbanken nicht ersetzen. Denn keimfähiges Saatgut ist auch bei idealen Lagerbedingungen nicht ewig haltbar.

Erstmalige Rückforderung

Erstmals in der Geschichte des Saatguttresors sind eingelagerte Samen kürzlich zurückgefordert worden. Grund dafür ist der Bürgerkrieg in Syrien. Das bis 2012 in Aleppo beheimatete Internationale Zentrum für Agrarforschung in trockenen Regionen liegt mitten im syrischen Kriegsgebiet, aber fast alle Proben, insbesondere trockenheitsresistente Getreidesorten des Nahen Ostens, konnten rechtzeitig nach Spitzbergen gebracht werden. Mittlerweile wurde das Hauptquartier der Organisation nach Beirut verlegt. Ende 2015 wurden Proben für eine Neuaussaat aus dem Seed Vault herausgeholt. "Es geht vor allem um Gerste, Weizen und Kichererbsen", so Lainoff, "die Saaten wurden in den Libanon und nach Marokko geschickt. Dort wollen Wissenschafter die Samenkörner aussäen, um aus den Gewächsen neue Sammlungen aufzubauen."

Nach Einschätzung der Welternährungsorganisation FAO gingen in den vergangenen 100 Jahren drei Viertel der noch um 1900 verfügbaren Sortenvielfalt verloren. Besonders drastisch ist dies bei Gemüsesaatgut: Einige Sorten wie extra-süßer Zuckermais, Kohlrabi oder Blumenkohl sind nur noch als Hybride auf dem Markt.

Schon jetzt kontrollieren die größten acht Konzerne, darunter Monsanto und Syngenta, laut dem US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium rund 94 Prozent des Saatgutmarkts. Fern ab von Spitzbergen streiten Agrarkonzerne, Bauern und unabhängige Pflanzenzüchter darüber, wer überhaupt das Recht hat, Saatgut herzustellen, und wer befugt ist, es in den Handel zu bringen. Denn wer das Saatgut kontrolliert, kontrolliert auch die Nahrungsmittel. (Michael Marek aus Longyearbyen, 6.2.2016)