Khider: "Ich kann nicht glauben, dass wir Zäune und Mauern errichten, damit machen wir uns vor der Geschichte lächerlich."

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Abbas Khider, "Ohrfeige". € 20,50 / 224 Seiten. Hanser- Verlag, 2016

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STANDARD: In 20 Jahren wird es Romane und Gedichte geben in einer deutschen Sprache, die es zuvor nicht geben konnte, und das wird ein Reichtum sein, das sagte kürzlich Martin Walser. Sie haben es schneller geschafft. 20 Jahre nach Ihrer Flucht legen Sie Ihren vierten Roman vor.

Khider: Wenn mir früher jemand erzählt hätte, dass mein Leben so verlaufen wird, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ich vermeide es, nach einem Sinn zu suchen. Das Wichtigste ist für mich, gute Bücher zu schreiben. Ich hatte nicht geplant, dass mein Roman so viel Aufmerksamkeit bekommen soll. Ich habe vier Jahre daran gearbeitet. Jetzt hat sich die politische Lage verschärft, und ich bin mittendrin.

STANDARD: Die Literatur kann etwas zeigen, was wir anders nicht sehen würden", sagten Sie einmal. Welche Aufgaben leiten Sie da ab?

Khider: Ich habe oft den Tod umarmt. Mein Leben hier ist ein Geschenk. Daraus möchte ich etwas machen. Ich versuche, mit meinen Büchern etwas Neues zu erzählen, neue Figuren in der Literatur zu erschaffen. Meine Protagonisten bringen andere Wahrheiten zur Sprache. Ich sehe mich innerhalb der Literatur als eine Art Historiker. Meine Aufgabe ist es, die Geschichten der Menschen zu erzählen, die selbst nicht die Möglichkeit dazu haben.

STANDARD: Asyl ist das Thema Ihres Romans "Ohrfeige". Warum haben Sie es aufgegriffen?

Khider: Es gehört zu meinem literarischen Programm. Ich schreibe über Exil und Fremde und die Zerstörung der Persönlichkeit. In meinen früheren Romanen habe ich diese Zerstörung durch die Diktatur beschrieben. In diesem Roman beschreibe ich sie durch ein europäisches Verwaltungssystem. Für mich ist das nicht fremd. Ich habe das alles mitgemacht wie die tausenden Menschen, die jetzt hier sind. Ich war in vielen Asylunterkünften, darunter auch in einem Obdachlosenheim. Ich habe die Schikanen durch die Behörden erlebt. Ich weiß, dass es sogar in der Demokratie diese Unmenschlichkeit gibt.

STANDARD: Elfriede Jelinek legte 2013 den Text "Die Schutzbefohlenen" vor. Er basiert auf einem antiken Drama von Aischylos, in dem genau jener Konflikt zwischen dem Schutz der eigenen Gesellschaft und der Pflicht, Asyl zu gewähren, debattiert und eindeutig zugunsten des Asyls entschieden wird. Wie kommt es, dass dieses abendländische Erbe, das man gerne beschwört, plötzlich vergessen ist?

Khider: Das frage ich mich auch. Die Literatur ist voll vom Thema Flucht. Man denke nur an Das siebte Kreuz von Anna Seghers oder Der Vulkan von Klaus Mann und all die Schriftsteller, die vor dem Nationalsozialismus flohen. Wir sind vergesslich, wir wiederholen immer die gleichen Fehler.

STANDARD: Sie geben Ihrem Protagonisten Karim Mensy einen Asylgrund, der kein politischer ist. Machen Sie es Ihren Lesern bewusst schwer, Stellung zu beziehen?

Khider: Ich wollte die Erwartung der Leser nicht erfüllen. Wenn ich über das Thema Asyl schreibe, nimmt man an, dass es um Folter geht, weil man das durch meine Geschichte nachvollziehen kann. Mit dem Überraschungseffekt wollte ich gegen dieses Schubladendenken – politische Flüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge – anschreiben. Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimatländer verlassen. Karim Mensy ist mit seinem Problem eine seltsame Figur. Bei Kafka findet man solche absurden, komischen Gestalten.

STANDARD: Niemals die Wahrheit sagen, wenn es um die Fluchtgründe geht, lautet in Ihrem Roman die Grundregel.

Khider: Ein System, das Menschen zur Lüge zwingt, um zu überleben, ist Folter. Das wollte ich darstellen. Das System zwingt Menschen, ihre Identität zu ändern, damit sie überleben können. Es wird ständig über Menschenrechte geredet. Aber diese Menschen werden nicht menschlich behandelt. Sie haben keine Würde, sondern Angst. In den Heimatländern hatten sie Angst um ihr Leben, in die Asylländern müssen sie Angst um ihre Zukunft und Identität haben. Mit einem Mal sind sie doppelt fremd, müssen Geschichten erfinden, um akzeptiert zu werden. Dieses System kritisiere ich.

STANDARD: Im Roman besteht die einzige Verbindung zwischen Asylsuchenden und der Mehrheitsgesellschaft aus Almosen, Prostitution und Diebstahl.

Khider: Es gibt keine Beziehung zwischen den beiden. Zu meiner Zeit habe ich in den Asylunterkünften nie einen Besucher gesehen, nur ältere Männer, die vor der Tür auf uns warteten und junge Kerle für Sex bezahlen wollten. Jetzt tauchen Politiker auf, die gekonnt mit dem Thema Flucht spielen. Da zeigt das Fernsehen einen Politiker in seinem Haus inmitten seiner Familie, und drei Schwarzhaarige hocken dabei. Er erzählt davon, wie er Flüchtlingen hilft. Warum lässt er sich jetzt mit diesen Menschen filmen? Das ist wie im 18. Jahrhundert, als die Adeligen den Armen Essen und andere Almosen gaben. Sind das Menschen wie wir, oder sind sie es nicht? Was gegenwärtig passiert, ist eine menschliche Katastrophe.

STANDARD: Wir standen mittendrin, und doch waren wir meilenweit von all dem entfernt", heißt es im Roman. Wie stellt sich die europäische Gesellschaft vom Rande aus betrachtet dar?

Khider: Von außerhalb erscheint Europa als etwas Besonderes. Da gibt es Sicherheit und Menschenrechte. Man kann in Ruhe leben, hat eine Zukunft. Diesen Traum hatte ich auch. Kommt man an, verwandelt sich alles in einen Albtraum. Man muss fürchten, ob man eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis bekommt. Und dann tauchen die zusätzlichen Probleme auf: der 11. September, die Anschläge in Paris, die Silvesternacht in Köln. Plötzlich sind alle betroffen, weil Menschen nicht für sich allein stehen. Plötzlich haben alle Schwarzhaarigen in Fußgängerzonen, Bahnhöfen oder Behörden Probleme. Auch die einfachen Menschen auf der Straße sind irritiert und verhalten sich noch distanzierter. Das gibt uns nie das Gefühl, angekommen zu sein. Man bleibt fremd.

STANDARD: Das überalterte Europa bräuchte junge Menschen. Wie erklären Sie sich diese Abwehr, auch bei manchen Intellektuellen?

Khider: Wir reden über eine offene Welt, die Gleichheit aller Menschen, eine Erde, die uns allen gehört. Die Realität sieht anders aus. Wir machen dicht und lassen die Menschen im Meer versinken. Eine Politikerin wollte sogar auf sie schießen. Ich kann nicht glauben, dass wir wieder Zäune und Mauern errichten, als gäbe es eine Welt erster und eine zweiter Klasse. Damit würden wir uns vor der Geschichte lächerlich machen.

STANDARD: 2011 waren Sie überzeugt, dass für die arabische Welt eine neue Zeit anbreche. Sind Sie jetzt enttäuscht?

Khider: Die Araber haben einen Anfang gemacht, aber es wird dauern. Was die Araber jetzt erleben, ist traumatisch. Irgendwann jedoch wird es vorbei sein.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass das Asylproblem vom Westen selbst verschuldet ist, weil er durch seine Interventionen in diesen Ländern eine ausweglose Situation für die Menschen herbeigeführt hat?

Khider: Der Westen ist nicht der einzige Grund, aber er ist Teil des Problems durch seine Unterstützung von Diktatoren und seine Einmischung, ohne nachzudenken. Man schickt Waffen in alle Welt. Warum hat der Westen ein Problem mit dem Iran und dem Jemen und liefert Waffen nach Saudi-Arabien? Wenn ein US-Politiker erklärt, es sei ein Fehler gewesen, in den Irak einzumarschieren, dann empört mich das. Wie kann es sein, dass dadurch das Land für zwanzig Jahre zerstört wurde. Leben da keine Menschen? Ist das Land ein Laboratorium? Im Irak herrscht immer noch Chaos, auch in Libyen. Und falls in Syrien der IS verschwindet, wird es noch lange dauern, bis für die Menschen Ruhe einkehrt. Es gibt im Lande so viele Gruppierungen, die alle bewaffnet wurden und finanzielle Hilfe erhielten.

STANDARD: Was müsste geschehen?

Khider: Wenn wir eine Lösung wollen, ist der erste Schritt, auf die Straße zu gehen und den westlichen Regierungen zu sagen: Diese Menschen fliehen vor euren Waffen. Beendet diese Waffenlieferungen. (Ruth Renée Reif, Album, 28.2.2016)