Das Wort Schauspieler geht ihm schwer über die Lippen. "Du kannst Tschuschenspieler zu mir sagen", sagt Murathan Muslu und setzt ein breites Grinsen auf. Er ist zu spät gekommen zum Mittagstermin, in der einen Hand einen Werkzeugkoffer, in der anderen einen Rucksack. Der Mann mit den abgeschlagenen Schneidezähnen wirkt ein bisschen verloren in dem Wiener Innenstadtcafé. Es ist kein Ort, an dem Muslu normalerweise anzutreffen ist.

Murathan Muslu in Mänteln von Burberry & Everlast, Hose von Adidas, Loafers F. Pensato, Tanktop Intimissimi, Ring & Uhr von Cartier.
Foto: Christoph Pirnbacher

Sein Revier ist der 16. Wiener Gemeindebezirk. Hier, in einem Gemeindebau am Ende der U3, ist er als Sohn türkischer Gastarbeiter aufgewachsen. Er ist von Schule zu Schule getingelt, ohne je einen Abschluss zu machen. Hier leben seine Kumpels, hier lebt seine Familie. "Ich bin ein Ottakringer, in dem Bezirk kenne ich jede Gasse."

Unter den Stadtbahnbögen der U6 hat ihm einst ein Freund ein Tape des New Yorker Wu-Tang Clan vorgespielt. Eine Hip-Hop-Formation, die einen neuen Sound in die Ghettowelt brachte, düster, pessimistisch. "Ich wusste sofort, dass ich so etwas auch machen wollte." Texte schreiben, Beats sampeln, auf einer Bühne stehen.

"Deine Texte müssen von deinen Gefühlen erzählen", wird Muslu Jahre später in einer seiner Filmrollen sagen. Sua Kaan heißt die Formation, die er Ende der Neunziger zusammen mit Freunden gründet. Su heißt auf Türkisch Wasser, Kan Blut. "Wir geben nicht auf", rappt die Gruppe: "Wenn ich falle, dann stehe ich halt auf."

In den Musikvideos der Gruppe ist eine Bande grimmiger Buben zu sehen, die Kappen oder Hoodies tief über den Kopf gezogen. Alle mit Migrationshintergrund, die Sprache ottakringisch-türkisch gefärbt. Das Video zu "Balkanaken" (2007) wird innerhalb weniger Wochen zum meistgesehenen Rap-Video Österreichs, ein FPÖ-Politiker warnt in einer Pressemitteilung vor dem "aggressiven Video ausländischer Jugendlicher". 2010 ist die Gruppe für den Amadeus nominiert.

Making of des Fotoshootings.
derstandard.at/von usslar

Umut Dag heißt der Regisseur der meisten Sua-Kaan-Videos. Damals ist Dag noch Student an der Wiener Filmakademie bei Michael Haneke. Als Dag seinen Abschlussfilm dreht, fragt er Muslu, ob er die Hauptrolle in dem 41-Minüter "Papa" übernehmen wolle. Der Film handelt von einem rappenden Vater, der erst dann Verantwortung für seine Söhne übernimmt, als ihn seine Frau verlässt.

Die Rolle ist Muslu auf den Leib geschrieben. Aus dem Rapper, der sich Aqil nennt, wird ein Schauspieler ohne Schauspielausbildung. "Es war ein Freundschaftsdienst für Umut. Er hat uns bei den Musikvideos geholfen, ich ihm bei seinem Abschlussfilm."

Als Musiker trägt Muslu den Namen Aqil.
SUAKAANMUSIC

Der Dreh dauert gerade einmal zehn Tage. Danach geht das Leben des Murathan Muslu wieder seinen gewohnten Gang. In seiner Freizeit rappt er oder schaut sich eine seiner 600 VHS-Kassetten mit Hollywoodfilmen an; um Geld zu verdienen, arbeitet Muslu am Bau. "Als Installateurshelfer, das ist in der Hierarchie wie ein Tellerwäscher, nur besser bezahlt."

Muslu in einem Polo von Tom Ford, einem Pulli von Balenciaga, einem Dinnerjacket von Boss und einer Hose von Dior. Ring: privat.
Foto: Christoph Pirnbacher

Als 2011 "Papa" rauskommt, sind alle voll des Lobes. Für den Regisseur, für den Hauptdarsteller. Seine Rauheit, seine Kraft. "Murathan ist einer dieser Menschen, die dich überraschen, obwohl sie genau das machen, was vorhersehbar ist", sagt Umut Dag heute. "Ich wusste sofort, welches Potenzial in ihm steckt. Und ich wollte der Erste sein, der ihm eine Hauptrolle gibt."

Auf jene in "Papa" folgt eine in "Kuma", einem türkischen Milieudrama, in dem Muslu einen schwulen Sohn spielt, der mit einer Bauerntochter aus Anatolien verheiratet wird. Statt mit ihm schläft sie unter den Augen der Mutter mit seinem Vater. Der Kraftkerl Muslu spielt den sensiblen Sohn, frisch rasiert und mit Kontaktlinsen. Nur einmal haut er auf den Tisch, als seine Braut in die Türkei zurückgeschickt werden soll.

Es ist keine Rolle, für die man Schauspielpreise kriegt, dafür ist sie zu zurückgenommen. Man kann an ihr aber wie unter dem Brennglas studieren, was Murathan Muslu so besonders macht, seine Präsenz, auch wenn er kaum etwas zu sagen hat, die Präzision jedes Augenaufschlags und jeder Handbewegung, das Wechselspiel aus Gleichgültigkeit und größter Emotionalität.

Der Hut ist von Mühlbauer, das Tuch von Vetements, das Shirt von Comme des Garçons, die Zwirnsocken sind von Calzedonia und die Trackpants von KTZ X Been Trill.
Foto: Christoph Pirnbacher

Als "Risse im Beton" rauskommt, der Film, mit dem Muslu seinen Durchbruch schafft und für den er beim Filmfestival Diagonale und dem österreichischen Filmpreis zum besten männlichen Schauspieler des Jahres 2015 gewählt wird, vergleicht ihn Michael Haneke mit Marlon Brando und Javier Bardem.

Vater sucht Sohn

Wieder ist Umut Dag der Regisseur, wieder spielt Muslu einen Rapper – beziehungsweise einen ehemaligen Rapper. Nach zehn Jahren im Gefängnis muss sich der innerlich gebrochene Erkan – so der Name von Muslus Filmfigur – im Leben erst wieder zurechtfinden. Seine Frau hat ihn weggewiesen, sein Sohn erkennt ihn nicht. Die Menschen in diesem Film reden nicht, sie prügeln aufeinander ein. Der Wortschatz ist begrenzt, die Sehnsucht groß. Muslu trägt Vollbart, aus dem Jüngling ist ein an Herz und Seele verletzter Mann geworden.

In "Risse im Beton" spielt Muslu einen ehemaligen Rapper.
Filmladen Filmverleih

Es ist die erste Rolle, auf die sich Muslu minutiös vorbereitet. Um zu erahnen, was das Gefängnis aus einem Menschen machen kann, will er ein paar Tage einsitzen (was ihm allerdings verwehrt wird). Schauspielunterricht nimmt er auch jetzt nicht: "Ich habe die Figur verstanden", sagt er: das Milieu, den Stolz, die Gewalt. Der Film wird zur Berlinale eingeladen, gewinnt Preise. Langsam werden auch andere Regisseure auf den ungewöhnlichen Schauspieler aufmerksam.

"Das Einzige, was ich mir geleistet habe, ist eine Wohnung mit großem Badezimmer."

Zwischendurch hackelt Muslu noch immer auf Baustellen, an seinem Privatleben ändert sich nicht viel: "Das Einzige, was ich mir geleistet habe, ist eine Wohnung mit großem Badezimmer." Natürlich in Wien-Ottakring.

Muslu spielt in mehreren "Tatort"-Folgen (und auch in Til Schweigers "Tatort"-Kinofilm) und wird für die dritte und vierte Staffel als Ermittler in den "Cop Stories" besetzt. Wo immer im österreichischen Kino und Fernsehen eine Figur mit Migrationshintergrund zu besetzen ist, ist Muslu im Gespräch.

Linkes Bild: Murathan Muslu in einem Sweatshirt von Vetements und einer Hose von Dior, in der Hand trägt er Samt-Loafer von Fernando Pensato. Rechtes Bild: Sweatshirt Diesel, Boxershort Daniken.
Foto: Christoph Pirnbacher

Der gewalttätige Boxer, der Zuhälter, der Handlanger des Gangsterbosses, der zwielichtige Immobilienmakler: "Muslu wird meist in Rollen besetzt, die einem bestimmten Klischee entsprechen", seufzt Umut Dag. Der Schauspieler selbst sieht das gelassener: "Ich bin jedes Mal von neuem erstaunt, dass mir überhaupt jemand eine Rolle gibt."

Auch fünf Jahre nach seiner ersten Schauspielrolle traut Muslu seinem Erfolg noch nicht über den Weg. "Warum fotografiert ihr ausgerechnet mich?", fragt er ein ums andere Mal während des Fotoshootings.

Am Tag zuvor hat er noch am Bau ausgeholfen, am Tag nach dem Interview ist die Kostümprobe zu Stefan Ruzowitzky neuestem Film "Die Hölle" angesetzt. Ein Thriller, in dem Muslu den Exfreund der Hauptdarstellerin spielt. Ein Mann mit Migrationshintergrund. Oder, wie Muslu breit grinsend sagt: ein Tschusch. (Stephan Hilpold, RONDO, 3.3.2016)