Die Freiheitsbewegung der Tibeter wird auch nach dem Tod des Dalai Lama weitergehen, sagt Golog Jigme.

Foto: Regine Hendrich

"Tibet war ein unabhängiger Staat, und egal, wie wirtschaftlich mächtig ein anderer Staat ist: Niemand hat das Recht, unsere Geschichte neu zu schreiben."

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"Das Mindeste, mit dem ich gerechnet habe, waren Gefängnis und Folter": Jigme zu der Entscheidung, den Film "Leaving Fear Behind" zu drehen.

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Golog Jigme ist einer der bekanntesten tibetischen Mönche im Westen. Für einen Dokumentarfilm, den er gemeinsam mit dem Filmemacher Dhondup Wanchen drehte, wurde er inhaftiert und gefoltert, konnte aber entkommen und war fast zwei Jahre auf der Flucht. Jigme ist auch einer der geschätzt 128.000 Exiltibeter, die am 20. März ein neues Parlament und einen Premierminister wählen. Der wird vermutlich wieder Lobsang Sangay heißen. Er ist ein Vertreter des "mittleren Wegs" des Dalai Lama, der auf den Dialog mit China hin zu größerer Autonomie setzt. Auch Jigme sieht den "mittleren Weg" als guten und pragmatischen Ansatz, betrachtet diesen und die Idee eines selbstständigen Tibet allerdings als "zwei Füße, die zusammen stehen".

STANDARD: Sie und Ihr Kollege Dhondup Wangchen haben direkt vor den Protesten im Jahr 2008 Interviews mit Tibetern über ihre Lebensumstände in Tibet geführt. War Ihnen zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass Sie mit diesem Projekt Gefängnis, Folter und vielleicht sogar Ihr Leben riskieren?

Golog Jigme: Das Mindeste, mit dem ich gerechnet habe, waren Gefängnis und Folter. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn ich dafür mein Leben hätte opfern müssen. Meine Entscheidung war aber wohldurchdacht, und ich habe sie bewusst getroffen. Ich glaube aber nicht, dass der Film ein politischer ist. Es ist einer über Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit. Das sind die Ideale, die mich inspirieren und leiten. Ich wollte, dass einfache Tibeter und Tibeterinnen zu Wort kommen. Vom chinesischen Staat wird aber alles politisiert. Wenn die Tibeter sich um die Erhaltung ihrer Sprache bemühen, wird das als politischer und separatistischer Akt gesehen. In einer Diktatur wird alles zu Politik.

STANDARD: Im März 2008 brachen die Aufstände in Tibet aus. Hat sich das für Sie abgezeichnet, als Sie kurz davor Ihre Interviews im ganzen Land führten?

Jigme: Ich war früher immer der Meinung, dass das tibetische Volk kein politisches Bewusstsein hat. Ich hatte den Eindruck, die Tibeter würden schlafen. Die Arbeiten zu diesem Film haben meine Meinung grundlegend geändert. Als wir mit diesen Menschen geredet haben, habe ich erst gemerkt, was sie wirklich dachten und welches Potenzial vorhanden war. Das kam ja ab dem März 2008 auch zum Vorschein. In der Zeit danach wurde ich zweimal verhaftet, ich wurde gefoltert, war auf der Flucht. Inzwischen lebe ich in einem freien Land. Wenn ich zurückblicke, sind es vor allem zwei Akteure, die mich inspiriert und geprägt haben: Das sind einerseits meine Eltern und andererseits diese Menschen, die ich interviewt habe. Es waren der Mut und die Offenheit, mit der sie mit mir gesprochen haben.

STANDARD: Mussten die Interviewpartner auch Konsequenzen ertragen beziehungsweise waren sie sich bewusst, wie gefährlich ihre Auftritte in dem Film waren?

Jigme: Ja, sie waren sich dessen bewusst. Ich war extrem überrascht, dass die Menschen trotzdem ihre Namen und ihre Wohnorte sagen wollten, obwohl ich sie davor warnte. Sie wollten einen Beitrag für die tibetische Sache leisten und voll dahinterstehen. Das sei wichtiger als ihr Leben. Und sie baten mich, diesen Film zu beschützen und dafür zu sorgen, dass ihn so viele Leute wie möglich sehen können. Für mich war die Nähe, die während der Dreharbeiten entstand, sehr berührend. Ich sagte ihnen vorher, dass ich vermutlich für diese Arbeit verhaftet werde, und sie vielleicht auch. Ich versprach ihnen auch, dass ich ihre Namen nicht einmal unter Folter verraten würde. Und musste gleichzeitig gestehen, dass ich gar nicht wusste, wie ich unter diesen extremen Umständen wirklich reagieren würde.

STANDARD: Sie wurden tatsächlich einen Monat und 21 Tage lang durchgehend gefoltert ...

Jigme: ... und ich kann mit großem Stolz und gutem Gewissen sagen, dass ich keinen einzigen Namen verraten habe.

STANDARD: Was hat Ihnen die Stärke dafür gegeben?

Jigme: Ich bin geboren worden in einem Tibet, das bereits unter enormer Repression litt. Tibeter wie ich, wir sehen uns als Freiheitskämpfer. Und deshalb habe ich mir auch in den schlimmsten Foltersituationen immer gesagt, dass das tibetische Volk, dass meine Interviewpartner wichtiger sind als ich.

STANDARD: Tibeter greifen auch zur drastischen Maßnahme der Selbstverbrennung, um gegen die chinesische Vorherrschaft zu protestieren. Seit 2008 stieg die Zahl der Selbstverbrennungen auf 145. Erst Ende Februar gab es wieder zwei Fälle, in Nordindien starb dabei ein Jugendlicher. Die US-Präsidentschaftsbewerberin und Ex-Außenministerin Hillary Clinton versprach, dass sein Opfer nicht umsonst gewesen sein soll. Ein leeres Versprechen?

Jigme: Ich freue mich über die symbolische Unterstützung. Die USA haben ja Tibet lange Zeit symbolisch und politisch unterstützt. Als Clinton und Bush US-Präsidenten waren, wurden auch immer wieder politische Häftlinge auf Betreiben der USA freigelassen. Seit Barack Obama die Präsidentschaft übernommen hat, habe ich das aber nicht mehr erlebt. Während eines China-Besuchs Obamas wurde beispielsweise ein Tibeter getötet. Obama hat sich überhaupt nicht dazu geäußert. Diese Tibeter zünden sich an, um auf die schwierige Situation, in der die Tibeter sind, aufmerksam zu machen. Die internationale Gemeinschaft hat den Ernst der Lage bisher aber nicht wirklich erkannt. Darüber bin ich sehr enttäuscht. Im Moment kommt es mir so vor, als würden die Entscheidungsträger nur Sonntagsreden halten, statt ihr politisches Gewicht auszunutzen und etwas zu tun. China ist ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats, kann aber ungestraft jeden Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verletzen. Als ob Tibeter und Uiguren nicht Teil dieser Welt wären.

STANDARD: Was sehen Sie als Gründe dafür?

Jigme: Ich verstehe bis heute nicht, wie China die Institution der Uno dermaßen manipulieren kann. Ich bin nicht naiv und mir klar darüber, dass die Uno nicht das Sprachrohr der Tibeter sein kann. Aber die Uno-Beamten sollten doch auf Basis der Vernunft und der Rechtslage entscheiden. Ban Ki-moon trägt ja immer eine Brille. Durch die scheint er aber die Probleme der einfachen Menschen nicht zu erkennen. Vielleicht ist es Zeit, dass er einmal die Brille wechselt. Was die bilateralen Beziehungen zwischen China und den westlichen Regierungen betrifft: Natürlich gibt es ein großes Interesse am Handel mit China, am eigenen Profit. Das Prinzip der Ausbeutung muss aber endlich aufhören. Und ich möchte auch klar sagen: Ich sehe sehr viel zivilgesellschaftliche Unterstützung in den westlichen Ländern. Dafür bin ich dankbar.

STANDARD: Hat sich seit den Aufständen 2008 für das tibetische Volk etwas verändert?

Jigme: Die chinesische Repression hat extrem zugenommen. Mit dieser Repression hat sich aber auch der tibetische Freiheitskampf verstärkt.

STANDARD: Am 20. März finden in Dharamsala in Nordindien die Wahlen zur tibetischen Exilregierung statt. Wie ist deren Reputation in Tibet?

Jigme: Als ich noch in Tibet lebte, war für mich, für meine Freunde und Bekannten die tibetische Exilregierung sehr wichtig. Für uns war sie ein Grund, die Hoffnung nicht zu verlieren.

STANDARD: Die Exilregierung vertritt den "mittleren Weg" des Dalai Lama, der auf Autonomie auf dem Verhandlungsweg setzt. Es gibt aber auch Stimmen, die eine Abspaltung Tibets von China fordern. Was bevorzugen Sie?

Jigme: Ich unterstütze die Politik des "mittleren Wegs" und die Forderung nach echter Autonomie. Das ist vernünftig. Grundsätzlich ist es das Ziel der Tibeter, in einer freien und demokratischen Gesellschaft zu leben, wo alle das Recht haben zu sagen, was sie denken. Aber der "mittlere Weg" und die staatliche Unabhängigkeit sind wie zwei Füße, die zusammen stehen. Tibet war ein unabhängiger Staat, und egal, wie wirtschaftlich mächtig ein anderer Staat ist: Niemand hat das Recht, unsere Geschichte neu zu schreiben.

STANDARD: Die zentrale Integrationsfigur der jüngsten tibetischen Geschichte ist der 14. Dalai Lama. Was, wenn er stirbt?

Jigme: Die Freiheitsbewegung der Tibeter wird weiterbestehen, sich vielleicht sogar verstärken. Denn solange es keine Lösung gibt, bleibt sie und wird immer stärker. Interessant wird aber die Reaktion von Chinas Führung werden, die ja nur darauf wartet, dass der Dalai Lama stirbt, um die Situation für sich auszunutzen. Auf alle Fälle betont der Dalai Lama immer wieder, vor allem gegenüber den Jungen: Versucht Erfahrungen zu sammeln und euch zu bilden. Und ihr müsst auch jetzt schon so handeln, als wenn ich nicht mehr in der Welt wäre. Das ist also für alle in Tibet ein Szenario, auf das sie vorbereitet sind. Ich habe viel mit der jüngeren Generation in Tibet gearbeitet. Es ist eine mutige Generation, die mich sehr inspiriert und von der ich mir viel erhoffe. An dieser Stelle möchte ich besonders einen guten Freund nennen, der für mich ein Symbol dieser mutigen Generation ist: Der Autor Shokjang, der sich in seiner Arbeit immer wieder kritisch geäußert hat, wurde erst Mitte Februar nach einjähriger Inhaftierung ohne Prozess zu drei Jahren Haft verurteilt wurde.

STANDARD: Ich zitiere Sie selbst: "Meine größte Hoffnung ist, dass der Tag kommen wird, an dem ich sicher nach Tibet zurückkehren kann." Glauben Sie, dass sich dieser Traum je erfüllt?

Jigme: Ich setze all meinen Glauben und meine Hoffnung darin und in die mutigen Menschen, die sich täglich für Tibet einsetzen. Aber ich bin mir bewusst, dass es nicht genug ist zu hoffen. Ich arbeite auch daran, die Effizienz unserer Freiheitsbewegung zu steigern. Politik ist einem zeitlichen Wandel ausgesetzt. Man hat das ja auch bei der Sowjetunion gesehen, deren Zerfall ein langsamer Prozess war. Wenn man China als Staat mit seinen zahlreichen internen Problemen betrachtet, dann könnte man durchaus vermuten, dass dieses China nicht von Dauer sein kann. Ich setze aber meine Hoffnung nicht in den Zerfall Chinas, das kann ich nicht beeinflussen. Meine Kraft investiere ich in unsere Bewegung und deren Zukunft. Ich kann Ihre Frage also mit Ja beantworten: Ich glaube schon, dass ich einmal nach Tibet zurückkehre. (Manuela Honsig-Erlenburg, 17.3.2016)


"Leaving Fear Behind": Der 25-minütige Film ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt und in mehr als 50 Staaten öffentlich gezeigt worden. Auch Journalisten konnten vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 den Film sehen.