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Präsident Erdogan will offensichtlich Mustafa Kemals Atatürk den Rang als Vater der Türken streitig machen.

Foto: reuters/MURAD SEZER

Journalisten sind Terroristen, die Akademikerkaste und oppositionelle Abgeordnete sind das Böse per se, überhaupt das Letzte sind Führungskräfte menschenrechtsorientierter NGOs. So lässt sich der türkische Präsident Erdoğan interpretieren, der nun das türkische Strafrecht verschärfen will. Anlass ist jener Bombenanschlag, bei dem am Sonntag in Ankara 37 Menschen gestorben sind.

Erst jetzt wissen wir, wer wirklich das Attentat begangen hat. Am Donnerstag bekannten sich die radikale Gruppe "Freiheitsfalken Kurdistans" ( TAK) auf ihrer Website zu dem Bombenanschlag: Als Vergeltung für das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten der Türkei. Eines steht in jedem Fall fest: Das Attentat ist ein bedenkliches Zeichen für den inneren Unfrieden im Land. Für Erdogan hingegen stand von Anfang an fest, dass die kurdische PKK verantwortlich war. Flugs ließ er wieder massive Luftangriffe auf kurdische Stellungen im Nordirak fliegen.

Handschellen und Maulkörbe

Erdoğan sieht offenbar seine Friedensmission für "sein" Land darin, nun der Intelligenz und der Opposition Handschellen und Maulkörbe anzulegen. Für ihn stehen auch die angeblichen "Hintermänner" des Bombenanschlags fest. "Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen, besteht überhaupt kein Unterschied", sagte der Präsident der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Weiters führte Erdoğan aus: "Nur weil jemand einen Titel wie Abgeordneter, Akademiker, Autor, Journalist oder Leiter einer Nichtregierungsorganisation trägt, ändert das nichts an der Tatsache, dass diese Person eigentlich ein Terrorist ist." Erdoğans für ihn schlüssiges Resümee: "Wir können nicht mehr dulden, dass jene, die von unseren Sicherheitskräften aufgegriffen werden, weil sie Terrororganisationen unterstützen, durch die eine Tür des Gerichts hineingehen und durch die andere wieder hinaus. Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit."

Starker Tobak

Das ist natürlich starker Tobak, den der türkische Präsident hier kurz vor dem mit der EU geplanten Treffen präsentiert. Keine Kipferln in Form des türkischen Halbmonds, keinen aromatischen türkischen Kaffee serviert die türkische Führung am Vorabend des Brüsseler Flüchtlingsgipfels. Stattdessen bringt die Delegation aus Ankara als türkische Sweets das Selbstverständnis eines knallharten staatlichen Terrorismus und menschenverachtenden Despotismus im Diplomatengepäck mit.

Die Angriffe auf die Medien haben System. Schon Anfang März hatte Erdoğan die regierungskritische Zeitung "Zaman" wie berichtet unter Zwangsaufsicht gestellt. Wenige Tage später folgte die Nachrichtenagentur Cihan, die demselben Eigentümer gehört: der Feza-Mediengruppe des Predigers Fethullah Gülen, eines früheren Freundes und heutigen Feindes von Erdoğan. Cihan erhielt von einem Istanbuler Gericht dieselbe Treuhänderin wie die Zeitung "Zaman". Diese war vor dem Coup mit 650.000 Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung des Landes. Inzwischen wurde die Auflage auf 18.000 reduziert. Aus Sicht des "Zaman"-Kolumnisten Süleyman Bağ wird es in der Türkei in nur wenigen Wochen überhaupt keine kritischen Medien mehr geben.

Justiz in Gefahr

Auch die Justiz ist in Gefahr, unter staatliche Kuratel gestellt zu werden. Als Ende Februar der Verfassungsgerichtshof die Inhaftierung von Can Dündar, dem Chefredakteur der traditionell kritischen Zeitung "Cumhuriyet", und die des Leiters von deren Ankara-Büro, Erdem Gül, wegen "Unrechtsmäßigkeit" aufhob, drohte Erdoğan mit der Auflösung des Verfassungsgerichts. "Cumhuriyet" hatte im vergangenen Jahr über als humanitäre Lieferungen getarnte türkische Waffenlieferungen nach Syrien berichtet.

Wie sich die EU aus dieser menschenrechtspolitischen Klemme ziehen will, werden wir in den kommenden Tagen sehen. Zynismus ist auf alle Fälle angesagt. Mit der menschenrechtlich fatalen Verweigerung einer vernünftigen Verteilung der Flüchtlinge aus Nahost auf alle EU-Mitgliedsstaaten bleibt nun nur das nicht minder fatale, nicht minder zynische Szenario, sich mit der Türkei zu einigen, einigen zu müssen.

Visafreiheit für Türken in EU

Nicht nur Geld, sehr viel Geld fordert die Türkei, sondern auch Visafreiheit für ihre Bürgerinnen und Bürger. Demokratiepolitisch kein schlechter Gedanke: Müssten dann doch verfolgte Journalisten, Intellektuelle und Oppositionspolitiker nicht mehr in der Falle sitzen, wenn die Sicherheitspolizei an deren Türen klopft.

Für manche EU-Politikbetreibende hingegen dürfte die Visafreiheit aus anderen Gründen eine inakzeptable Forderung der Türkei sein: Kämen dann doch auch noch zusätzliche, mehr oder minder hochgebildete Menschen in die EU, die nicht schon im Kindesalter gelernt haben, das Kreuz zu schlagen.

Zurück in die Türkei. "Im Westen geht die Sonne auf" war der Slogan des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, nach dem ersten Weltkrieg des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie die Habsburger-Monarchie war auch der einstige Vielvölkerstaat Osmanisches Reich 1918 als Kriegsverlierer zu einem nationalen Kleinstaat "geschrumpft" worden. Atatürk, der selbsternannte Vater der Türken, boxte damals die westliche Orientierung des Landes durch.

Vater der Türken

Heute will Erdoğan offensichtlich Atatürk den Rang als Vater der Türken streitig machen. Erdoğan sucht den Anschluss an die osmanischen Herrscher, residiert in deren Istanbuler Palästen, lässt sich gemeinsam mit seinen internationalen Gästen auf wie imperiale Thronsessel anmutenden Sitzgelegenheiten nieder und vergisst dabei ganz, dass er dennoch nie als osmanischer Nachfolgeherrscher anerkannt sein wird.

Seine Frau propagiert seit kurzem den einstigen Harem als ideale Vorbereitung für Frauen im Sinne eines freudvollen, sonnigen Ehelebens. Die Erdoğans wissen wohl, was sie wollen. Der Rest der Welt lächelt angesichts solcher antiemanzipatorischer Thesen. Manche sprechen von dem Versuch einer türkischen Anbiederung an arabische Potentaten.

Menschenverachtendes Tauschgeschäft

Amnesty International warnt vor einem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, nennt ein solches ein menschenverachtendes Tauschgeschäft. Aus Sicht der internationalen Menschrechtsorganisationen handelt es sich bei dem Abkommen "um den zynischen Versuch der Politik, die weitere Abschottung der EU als humanitäres Vorgehen zu verkaufen".

Erst vor knapp drei Jahren, am 10. Dezember 2012, wurde die Europäische Union als "Friedensprojekt" in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Das Preisgeld betrug umgerechnet 930.000 Euro. Wie und wo wurde dieses Geld eigentlich investiert? In Bürokratismen oder in humanitäre Projekte? (Rubina Möhring, 17.3.2016)