Blick in eine ungewisse Zukunft: Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze nahe Idomeni.

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Der Aufbau sozialer Marktwirtschaften nach 1945 war zweifellos ein Erfolg. Was als Wirtschaftswunder in die Lehrbücher eingegangen ist, bedeutete nicht nur einen kontinuierlichen Anstieg des privaten Konsums, sondern ermöglichte auch die Etablierung sozialer Sicherungssysteme, die Ausweitung der Bildungsangebote, kostenlose Gesundheitsversorgung und die Stabilisierung der Demokratie. Doch seit den 1970er-Jahren mehren sich die Krisen. Die ökologischen Folgen des Konsumwachstums lassen sich nicht weiter verdrängen; der Konkurrenzdruck in den Unternehmen und auf den Arbeitsmärkten nimmt zu, der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit von sozialem Ausgleich ab. Statt sinkende Wachstumsraten bei sich sättigenden Märkten als neue Normalität anzunehmen, wurde versucht, die Wachstumsmaschine mit immer höherer Verschuldung in Gang zu halten.

Der politische Ton wird rauer

Die sogenannte Flüchtlingskrise stellt unsere Wohlfahrtssysteme nun vor eine Zerreißprobe. Der politische Ton der Auseinandersetzungen wird rauer, rechtspopulistische Bewegungen erhalten starken Zulauf, die Willkommenskultur wird von einer Abschreckungskultur abgelöst. "Österreich darf nicht zum globalen Sozialamt werden" – dieser Satz aus einem Leserbrief bringt die Stimmung wohl auf den Punkt. Der Unmut gegen Flüchtlinge wird häufig von jenen geschürt, die selbst gut situiert sind und nichts zu verlieren haben. Der Zulauf zu den Rechtspopulisten ist – das haben die Gemeinderatswahlen in Oberösterreich gezeigt – dort am stärksten, wo es keine Flüchtlingsquartiere gibt. Wenn Menschen, die ihre Empörung äußern, danach gefragt werden, ob sie selbst negative Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht haben, geben diese in der Regel zu, dass dem nicht so ist.

Und doch sind die Ängste, auch wenn es nur gefühlte Ängste sind, ernst zu nehmen. Es geht um die Frage, wie ein robuster Sozialstaat aussehen muss, der Herausforderungen wie die aktuellen Flüchtlingsbewegungen unter Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen bewältigen kann. Die populistische Antwort lautet: "Die Grenzen dicht. Keine weitere Belastung unserer Sozialsysteme." Die Alternative wäre ein offensiver Ausbau des Sozialstaats und die politische Bereitschaft einer breiten Mehrheit, diesen auf neue finanzielle Beine zu stellen. Eine Aufgabe, die aufgrund eines sinkenden Erwerbsarbeitsvolumens im digitalen Zeitalter ohnedies ansteht. Unsere Wirtschaft ist hochproduktiv, aus ökologischer Sicht zu produktiv. Doch wird immer mehr Arbeit von Maschinen verrichtet. Die Automatisierung erfasst mittlerweile auch den Dienstleistungssektor – vom Fahrkartenautomaten über den Bankomaten bis hin zur Selbstbedienungstankstelle.

Ökonomie für Hungernde, nicht für Satte

Pointiert ausgedrückt: Wir brauchen Obergrenzen für privaten Reichtum statt Obergrenzen für Flüchtlinge. Karitatives und zivilgesellschaftliches Engagement sind wertvoll – beides wird jedoch nicht reichen. Kollektives Teilen erfordert gesellschaftliche Vereinbarungen über faire Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Integration kann nur gelingen, wenn alle Teilhabechancen am Arbeitsmarkt erhalten, was auch eine Neuverteilung der Erwerbsarbeit erfordern wird.

Österreich zählt zu den reichsten Ländern der Erde. Eine Debatte über "Fairteilung" würde daher auch mehr Gelassenheit ermöglichen. Führen wir diese Debatte nicht, steht die Gesellschaft auch ohne Flüchtlinge vor einer Spaltung in Gewinner und Verlierer. Kollektives Teilen wird die Zukunftsübung für Demokratien sein – auf nationaler wie internationaler Ebene. Denn die Flüchtlinge erinnern uns auch daran, wie ungerecht die Welt ist. Wir brauchen eine Ökonomie für die Hungernden, nicht eine für die ohnedies bereits Satten. Eine spannende Aufgabe für die Wirtschaftswissenschaften wie für die Politik. (Hans Holzinger, 18.3.2016)