Claudia Wild fürchtet sich nicht davor, unbequem zu sein.

Foto: Katsey

Durch ihre Analysen über Kosten und Nutzen medizinischer Maßnahmen kennt sie die Machtverhältnisse im Gesundheitssystem.

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STANDARD: Gesundheit ist einer der wenigen Wirtschaftszweige, die noch veritable Wachstumsraten aufweisen. Laut Statistik Austria steigen die Gesundheitsausgaben im Mittel um fünf Prozent jährlich. Sie setzen im Rahmen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology Assessment (HTA) die Kosten und Nutzen in Relation. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Claudia Wild: Es ist erstaunlich, dass es trotz massiver Bemühungen, die Kosten zu senken, die gleichen Zuwachsraten gibt wie ehedem. Der Grund dafür: Den Patienten, die normal sterbliche Menschen sind, hat man jahrelang zu verstehen gegeben, dass Medizin alles kann. Damit wurde eine extreme Nachfrage erzeugt. Es lässt sich mit Goethes Spruch aus dem Zauberlehrling vergleichen: "Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los." Jetzt wird man die Patienten nicht mehr los. Sie glauben, dass die Medizin für alles, was passiert, eine Lösung parat hat – angefangen von einer kleinen Lebenskrise bis zum Zecherlwehweh.

STANDARD: Orten Sie Patientenunmündigkeit in gesundheitlichen Fragen?

Wild: Der Mensch hat die Verantwortung für seine Gesundheit an die Medizin abgegeben. Viele sehen nicht, dass sie selbst auch etwas tun könnten. Ein Beispiel: Wenn ein Kind hohes Fieber bekommt, geraten Eltern häufig in Panik und fahren in die Ambulanz eines Spitals. Sie könnten sich auch überlegen, was die Urgroßeltern in ihrem Fall getan hätten, welche Hausmittel es gegen Fieber gibt.

STANDARD: Was ist mit Gesundheitsrisiken, die der Einzelne kaum beeinflussen kann – etwa zunehmenden Stress oder Druck im Arbeitsleben?

Wild: Es ist sicher zu kurz gegriffen, alles auf den Patienten zu schieben. Ich kann nachvollziehen, dass viele – vor allem Kinder, Jugendliche und sozial schwache Menschen – mit der gegenwärtigen Dynamik nicht mithalten können. Der Speed ist gigantisch. Globalisierung heißt, dass die Welt sehr klein geworden ist. Ständige Erreichbarkeit und permanenter Druck: Ich habe den Eindruck, dass psychische Erkrankungen nicht zuletzt auch deshalb dramatisch steigen. Deshalb sollten wir Arbeitsbedingungen wieder entschleunigen. Auch in der Medizin, die wieder auf ein normales Ausmaß zurückgefahren werden sollte.

STANDARD: Das bedeutet konkret?

Wild: Medizinische Angebote sollten auf das Wesentliche reduziert werden. Das heißt nicht, das maximal Mögliche zu tun, sondern das Optimale. Weniger kann auch mehr sein.

STANDARD: Weniger Behandlung, meinen Sie?

Wild: Immer häufiger denken Mediziner darüber nach, wie eine angemessene Versorgung aussehen könnte. Das ist eine regelrechte Grassroots-Bewegung. Besonders in der Onkologie mehren sich die Stimmen, die sagen: "Nun mal halblang – alles, was wir da tun, führt keineswegs zu den Effekten, die wir uns erhofft haben." Mittlerweile rücken Ärzte zunehmend davon ab, bis zum Schluss "auf Teufel komm raus" zu therapieren. Eine angemessene medizinische Behandlung kann auch eine reine Symptomkontrolle oder Symptomlinderung am Lebensende sein anstatt einer Maximaltherapie, die völlig überzogene Hoffnungen schürt.

STANDARD: Stellen wir uns vor, das würde umgesetzt. Hätten Patienten nicht das Gefühl, es würde ihnen Therapie vorenthalten?

Wild: Ich kann den Begriff "vorenthalten" auch umdefinieren. Die Überzeugung, dass weniger mehr sein kann, zeigt sich auch darin, dass es zunehmend als schlechte Qualität gilt, wenn bei Krebskranken in den letzten sechs Wochen bis drei Monaten noch mit einer systemischen Therapie interveniert wird. Vor ein paar Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Therapieabbruch war ein absolutes Tabu. Eine große medizinische Innovation wäre es, Menschen eine gewisse Lebensqualität am Lebensende zu ermöglichen. Statt massiv toxischer Medikamente könnten Arzneimittel zur Symptomlinderung Priorität haben.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Dynamik in der Entwicklung von Medikamenten ein?

Wild: Im Grunde bringt die Pharmaindustrie keine echten Innovationen hervor. In einer aktuellen Studie haben wir festgestellt, dass 45 Prozent der onkologischen Medikamente lediglich eine Lebenszeitverlängerung zwischen ein paar Tagen und drei Monaten bewirken. Nur 13 Prozent der Onkologika, die in den vergangenen sechs Jahren auf den Markt gekommen sind, verlängern das Leben um mehr als drei Monate.

STANDARD: Sind die neuen Medikamente gegen Hepatitis C keine Innovation?

Wild: Schauen wir die nächsten fünf Jahre genau hin – dann sehen wir, ob tatsächlich das eingetroffen ist, was uns versprochen wurde. Unabhängig davon sind laut Innovationsreport der Technikerkasse 95 Prozent der Medikamente, die wir für teures Geld einkaufen, keine Innovationen. Es hat sich gezeigt: Die Preisgestaltung dem freien Markt zu überlassen kann nur schiefgehen. Es braucht eine transparente Preispolitik und "Value-based pricing".

STANDARD: Der falsche Glaube an Medizin?

Wild: Die Klärung der Frage, ob der individuelle Nutzen, also beispielsweise 50.000 Euro pro Krebstherapie, den Nutzen rechtfertigen.

STANDARD: Nach welchen Kriterien sollte entschieden werden, ob eine Behandlung wirkungsvoll ist?

Wild: Letztendlich muss der individuelle Nutzen für den Patienten im Mittelpunkt stehen. Deshalb plädiere ich für verpflichtende Patientengespräche, bei denen den Betroffenen reiner Wein über ihre Situation eingeschenkt wird, ob und welche Therapieoptionen es gibt. Zusätzlich muss über Nutzen und Risiken aufgeklärt werden. Im Fall einer Krebserkrankung braucht es eine klare Kommunikation darüber, wie wahrscheinlich eine Lebenszeitverlängerung von mehr als drei Monaten ist.

STANDARD: Sie sprechen sich für ein nachhaltiges Gesundheitssystem aus. Was bedeutet in diesem Zusammenhang Nachhaltigkeit?

Wild: Ein nachhaltiges Gesundheitssystem bedeutet, die Weichen dafür zu stellen, dass auch die nächsten Generationen, sprich; unsere Kinder und Enkelkinder, noch ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen haben werden. Wir bräuchten eine Reflexion darüber, wie wir in der westlichen Welt leben wollen. Ob wir uns mit der immer größer werdenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich abfinden – und ob wir Konsumwahnsinn und Profitmaximierung, die auch in der medizinischen Versorgung um sich greifen, weiter fördern? Der Glaube an das grenzenlose Wirtschaftswachstum ist eine Illusion. Deshalb brauchen wir eine Neudefinition von Fortschritt.

STANDARD: Wird das etwa nicht versprochen?

Wild: Wir sind ferngesteuert von einem Innovationsbegriff, der ausschließlich technologisch besetzt und damit produktorientiert ist. Ein neues, teures Handy, das mehr Features als das alte hat, steht für Innovation. Wenn ein Arzt mit einer Patientin eine Stunde ein Gespräch über ihr Übergewicht führt, dann gilt das nicht als innovativ. Wenn in diesem Gespräch ein Verständnis dafür entsteht, dass die Patientin eine maßgebliche Verantwortung für sich selbst trägt, dann wäre das für mich ein sozialer, qualitativer Fortschritt. Soziale Innovation passiert also dort, wo Menschen mit Menschen zusammenarbeiten und dadurch etwas in Bewegung kommt.

STANDARD: Wie kann ein Gesundheitssystem nachhaltiger werden?

Wild: Einerseits muss der Fokus wieder auf den ganzen Menschen gerichtet werden, derzeit liegt das Augenmerk auf einzelnen Körperteilen. Es gibt aber körperliche Erkrankungen, die sich psychisch manifestieren oder vice versa. Andererseits müssen wir akzeptieren, dass es so etwas wie Tod und Sterben gibt. Dafür sollte sich also jeder Einzelne mit seiner eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Ein weiteres Schlagwort ist "Health Literacy", also Gesundheitskompetenz. Ein Diabetiker sollte wissen, warum er Diabetes Typ 2 hat. Er muss verstehen, dass es sich dabei um keine gottgegebene Erkrankung handelt, sondern dass sein Lebensstil einen maßgeblichen Einfluss hat.

STANDARD: Umfragen zufolge ist es um die Gesundheitskompetenz der österreichischen Bevölkerung eher schlecht bestellt. Wie sehen Maßnahmen zur Verbesserung aus?

Wild: Wirklich groß denken würde bedeuten, dass 25 Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben in Bildung investiert werden, beispielsweise in eine tägliche Lernnachhilfe. Denkbar wären Einheiten, in denen die Körperwahrnehmung geschult wird – mit gutem Essen in den Schulen und ausreichend Betreuungspersonal. Kinder könnten so eine gewisse Sensibilität und Eigendynamik im Umgang mit ihrem Körper entwickeln. Durch das Stärken der Selbstwahrnehmung und der Mündigkeit junger Menschen ist es langfristig möglich, massiv an der Nachfrageschraube im Gesundheitssystem zu drehen.

STANDARD: Könnten auch Anreizsysteme die Gesundheitskompetenz erhöhen? Nach dem Muster: Wer sich zu individuellen Gesundheitszielen verpflichtet, zahlt beispielsweise weniger Beiträge an seine Krankenkasse.

Wild: Prävention "zahlt sich aus". Das stimmt. Allerdings wird es nicht reichen, mit einem Bonus-System die davon galoppierenden Gesundheitskosten einzudämmen. Die Frage ist, welche Bevölkerungsgruppen von solchen Boni profitieren werden und wer genau damit erreicht werden kann? Eine zentrale Kritik am Bonussystem ist, dass Anreize ohnedies wieder nur jenen zugutekommen, die sich schon bisher einen gesunden Lebensstil leisten können und auch praktizieren. Viel wichtiger wäre es, Prävention ins Lebensumfeld der Menschen zu bringen.

STANDARD: Eine Studie von Transparency International Deutschland kommt zu dem Schluss, dass fehlende Transparenz die Ursache für Verschwendung, Missbrauch und Betrug im Gesundheitswesen ist. Stimmt das auch in Österreich?

Wild: Ich glaube, es ist ein tabuisiertes Problem. Nicht zuletzt deshalb, weil manche Dinge nur schwer dingfest gemacht werden können. Die Grenzen sind fließend. Ist eine Überverschreibung von Arzneimitteln schon Korruption? Wenn etwa ein Arzt seinen Patienten dreimal so viele Medikamente oder Interventionen als üblich verschreibt und dann Kickbackzahlungen erhält, dann ist das für mich Korruption. Zudem betrügen nicht nur Ärzte, sondern auch Patienten, indem sie sich Leistungen mit einer fremden E-Card erschleichen. Es gibt kein Problembewusstsein, und die Politik hat nicht den Mut, das zu thematisieren.

STANDARD: Was ist der Grund dafür, dass die Politik nicht reagiert?

Wild: Ärzte sind ganz offensichtlich eine sozial mächtige Gruppe. Die Politik hat Angst, dass sie in den Streik gehen. Das kann ich nicht nachvollziehen. Man will den sozialen Frieden nicht gefährden, deshalb stellt man die herrschenden Verhältnisse nicht infrage.

STANDARD: Ab 1. Juli 2016 hat sich die Pharmaindustrie verpflichtet, geldwerte Leistungen an Ärzte und deren Fortbildung an Patientenverbände offenzulegen. Was wird das bringen?

Wild: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Medizinprodukteindustrie wird ein Jahr später auch nachziehen. Transparenz ist zunächst einmal eine Maßnahme der Prävention von Missbrauch, aber auch ein demokratisches Mittel, der kritischen Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, selbst Schlüsse zu ziehen, warum manche Medikamente besonders häufig verschrieben werden.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Wild: Untersuchungen in meinem Institut haben gezeigt, dass primär dort Geld in Ärztefortbildungen und zu Selbsthilfegruppen fließt, wo es hochpreisige Arzneimittel gibt: in der Onkologie, in der Rheumatologie, in der Neurologie. Bei den finanziellen Mitteln, die da bereitgestellt werden, handelt es sich um ganz banale Marketingmaßnahmen. In Österreich besteht in dieser Hinsicht noch kaum ein Problembewusstsein. Auch werden die Geldflüsse zukünftig kumulativ offengelegt. Demnach werden nicht die Namen der einzelnen Ärzte genannt, sondern nur Gesamtsummen. Es sei denn, die Ärzte selbst würden zustimmen. Das wäre wünschenswert. Zu fordern ist deshalb, dass jeder Organisator von Ärzteveranstaltungen die Verwendung von Sponsorgeldern detailliert deklarieren muss.

STANDARD: Ist das der wichtigste Reformbedarf?

Wild: Dringend notwendig wäre eine reflektierte Ärztevertretung, die Kritiker auch als Teil des Systems ins Boot holt. Das heißt, jene Ärzte, die überzeugt sind, dass die Medizin bereits weit über das Ziel hinausgeschossen hat, müssten wieder in die Denke des Systems aufgenommen werden, statt sie immer weiter von der Ärztekammer zu entfernen. Wir brauchen vernunftbegabtes gemeinsames Handeln, denn eine angemessene medizinische Versorgung kann nur aus der Ärzteschaft wachsen.

STANDARD: Was wären Maßnahmen, um die Gesundheitskosten relativ rasch senken zu können?

Wild: Das Zauberwort heißt Finanzierung aus einer Hand und damit Steuerung mit einer Hand. Aber das ist unrealistisch. Wesentlich realistischer ist das Setzen von Prioritäten. Das heißt: systematische Überlegungen unter Bürgerbeteiligung, welche Leistungen in einem solidarischen Gesundheitssystem bezahlt werden sollen. Dazu muss die Bevölkerung aber zunächst Informationen erhalten, was man über den Nutzen vieler Leistungen weiß – und man muss benennen, welche Leistungen keinen oder nur marginalen Nutzen haben. Solche, die nichts bringen, sind zu streichen. Das würde Leistungskürzungen bedeuten. Doch kein Politiker traut sich, das in den Mund zu nehmen, obwohl es notwendig wäre.

STANDARD: Woran scheitert die Finanzierung aus einer Hand, also durch den Bund?

Wild: Ein Grund sind die neun Bundesländer, die neun Fürstentümer sind. Aber auch innerhalb der Krankenanstalten existieren Fürstentümer. Dort gibt es kleine Fürsten, die alles unter ihrer Herrschaft halten wollen. (Günther Brandstetter, CURE, 29.4.2016)