Unser Bewegungsapparat ist dafür gemacht, viel auszuhalten. Laufen ist in den westlichen Industrienationen ein Breitensport. Trotzdem sollten Trainingspläne immer Hand und Fuß haben.

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Robert Fritz, Sportmediziner: "Wenn es um die Gesundheit geht, ist immer auch das Maß der Dinge entscheidend. Man sollte es nie übertreiben."

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STANDARD: Prävention ist eines der neuen Zauberworte in der Medizin. Bewegung spielt dabei eine ganz große Rolle. Viele entscheiden sich fürs Laufen. Was ist dabei zu beachten?

Robert Fritz: Bewegung und Sport sind für die Gesundheit extrem wichtig. Wenn unsere Gesellschaft nicht bald etwas gegen die stetige Zunahme von Übergewicht und die damit verbundenen Wohlstandserkrankungen unternimmt, steuern wir direkt in ein Chaos.

STANDARD: Meist sind es die ersten gesundheitlichen Probleme, durch die Menschen sich ihrer ungesunden Lebensführung bewusst werden. Was empfehlen Sie als Einstieg?

Fritz: Bewegung ist absolut jedem zu empfehlen. Das ist auch durch Daten belegt. Eine Langzeituntersuchung der American Heart Association bei mehr als 250.000 Männern und Frauen im Alter von 50 bis 71 Jahren hat ergeben, dass, wenn die Empfehlung, sich fast jeden Tag moderat zu bewegen, eingehalten wird, die Sterblichkeit um fast 30 Prozent sinkt. Regelmäßiges Training ist die beste Prävention und die beste Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen – kein Medikament ist derartig potent und noch dazu so kostengünstig.

STANDARD: Was bedeutet moderates Training?

Fritz: 30 Minuten täglich im aeroben Stoffwechselbereich, also ganz locker. Aerob bedeutet, dass den Muskeln ausreichend Sauerstoff zur Energiegewinnung zur Verfügung steht. Bei höherer Intensität reicht das nicht mehr aus, es geht einem die Luft aus, und der Körper schaltet auf einen anaeroben Stoffwechsel um. Es geht also um die richtige Belastung. In einer vernünftigen Trainingssteuerung verwendet man fünf verschiedene Intensitätsbereiche. Nur langsam unterwegs sein ist genauso falsch wie immer maximales Tempo zu laufen.

STANDARD: Einfach nur loszulaufen ist demnach also nicht der richtige Weg?

Fritz: Wer über 35 Jahre ist, sollte sich laut sportmedizinischer Empfehlung vor dem Trainingseinstieg untersuchen lassen. Eine sportmedizinische Leistungsdiagnostik mit einem Laktatstufentest ist für Sportneueinsteiger besonders sinnvoll. Es werden dabei die individuellen Herzfrequenzbereiche für das Training bestimmt und die Gesundheit überprüft. Dadurch können mögliche bereits bestehende Erkrankungen im Vorfeld ausgeschlossen werden. Das Problem an den meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, dass sie im Alltag primär weder Schmerzen noch Probleme verursachen.

STANDARD: Genügt ein EKG beim Hausarzt?

Fritz: Theoretisch schon, ich würde Sportneueinsteigern aber trotzdem zu einen Besuch beim Sportmediziner raten. Sie können oft besser zwischen gewöhnlichen und trainingsbedingten beziehungsweise ungewöhnlichen und nichttrainingsbedingten EKG-Veränderungen unterscheiden.

STANDARD: Und wenn Auffälligkeiten erkannt werden?

Fritz: Können wir das abklären. Wenn der Gesundheitszustand in Ordnung ist, kann mit einem individuellen Trainingsplan durchgestartet werden. Das gilt übrigens für sämtliche Sportarten. Ein Training nach einem Plan aus dem Internet oder einem Laufbuch würde ich niemandem empfehlen.

STANDARD: Was ist gesunder Ehrgeiz, was ist fahrlässig?

Fritz: Ehrgeiz ist wichtig und gut. Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft, und Wettbewerb ist eine Triebfeder in ganz vielen Bereichen. Wenn es um die Gesundheit geht, ist aber immer auch das Maß der Dinge entscheidend. Man sollte es nie übertreiben. Wer durch ein Lauftraining Beschwerden im Bewegungsapparat bekommt oder wenn die Leistungsfähigkeit abnimmt, ist das eindeutig ein Warnsignal. Eine sportmedizinische Abklärung kann die Ursachen ermitteln. Wer solche Signale nicht beachtet, handelt kurzsichtig. Je länger Probleme nicht ernst genommen werden, umso länger dauert es, bis man sie wieder los ist.

STANDARD: Trainieren Männer und Frauen eigentlich unterschiedlich?

Fritz: Ja, Männer trainieren härter und machen aus jedem Training gerne einen Wettkampf. Die "Hausrunde" muss dann jede Woche schneller gelaufen werden, und das ist für ein richtiges Training leider absolut falsch. Frauen sind in dieser Hinsicht vernünftiger. Dafür nehmen sie Warnsignale weniger ernst. Männer sind wehleidiger als Frauen und gehen auch schneller zum Arzt, wenn sie Schmerzen spüren. Bei Frauen zeigen sich Herzerkrankungen auch oft nicht typisch im Brustbereich, sondern äußern sich als Magen- oder Rückenschmerzen.

STANDARD: Apropos: Was sind eigentlich die größten Risiken beim Ausdauersport?

Fritz: Nicht erkannte Herzfehler, sowohl angeborene wie erworbene. Die Betroffenen haben oft keinerlei Symptome oder interpretieren sie falsch. Ein großes Risiko sind übergangene Infekte – allerdings nicht nur bei Sportlern. Wer nach einem grippalen Infekt zu früh wieder zur Arbeit geht oder trainiert, ohne sich wieder wirklich fit zu fühlen, riskiert gesundheitliche Folgen, die lebensbedrohlich sein können.

STANDARD: Gibt nicht oft der Trainingsplan, etwa für einen Marathon, den Ausschlag?

Fritz: Training definiert nur eine gesteuerte Bewegung und impliziert primär keine Vorbereitung auf einen Wettbewerb. Viele Menschen betreiben Sport mit Plan, kennen ihre individuellen Trainingsherzfrequenzbereiche, starten aber nie in einem Wettbewerb. Sie haben einfach Spaß an der Bewegung und machen Sport, weil sie den Alltagsstress im Büro ausgleichen oder schlank und fit sein wollen.

STANDARD: Und dann gibt es die anderen, denen genau das zu langweilig ist, oder?

Fritz: Genau, für sie ist jede Trainingseinheit eine Art Wettkampf, in der optimalerweise Grenzen erweitert werden sollten. Es sind tendenziell auch jene, die Signale des Körpers und gute Ratschläge ignorieren.

STANDARD: Vielen geht es um diesen berühmten Kick, das Runner's High. Was ist das genau?

Fritz: Bei langen und intensiven körperlichen Belastungen schüttet der menschliche Körper Stresshormone aus: Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol. All diese Hormone haben den Sinn, das Überleben zu sichern. In einer Zeit, in der der Mensch sein Essen durch die Jagd sichern musste, also seiner Beute unter Umständen eben auch nachlaufen musste, war das überlebenssichernd. Diese Stresshormone steigern die Leistung des Körpers, Schmerzen werden nicht mehr so intensiv oder gar nicht wahrgenommen. Wir fühlen uns "high", ein Gefühl des Unbesiegbarseins. Manche laufen mit dem Ziel, genau dieses Runner's High zu spüren.

STANDARD: Ein Wettbewerb ist aber doch motivierend. Ist ein Marathon ein gefährliches Ziel?

Fritz: Ein Laufwettbewerb, auch ein Marathon, ist für einen gesunden Organismus definitiv nicht gefährlich. Ein Start trotz eines Infekts, ein nicht gesundes Herz-Kreislauf-System und dann noch eine intensive Belastung können jedoch gefährlich werden. Zumeist sind diese Faktoren auch für die tragischen Zwischenfälle bei Laufbewerben verantwortlich.

STANDARD: Wie oft kommen solche Zwischenfälle vor?

Fritz: Extrem selten. Eine von der Universität Toronto durchgeführte und im British Medical Journal publizierte Studie zeigt, dass es pro 100.000 Teilnehmenden eines Marathons zu 0,8 Todesfällen kommt. Diese Zahlen sind weltweit ähnlich und bewegen sich zwischen ein und zwei Todesfällen pro 100.000 Teilnehmern. Es muss also in der Relation betrachtet werden.

STANDARD: Welche Relation meinen Sie?

Fritz: Wir haben Zahlen aus Berlin. Dort findet seit 1974 ein Marathon statt. Die Todesrate durch Herzkomplikationen liegt bei 1:157.000. Im Bevölkerungsdurchschnitt beträgt sie allerdings 1:800. Statistisch müsste man als Berliner also ständig Marathon laufen, um das Risiko, an einem Herzanfall zu sterben, zu senken. Bei Marathons werden übrigens ja auch immer Straßensperren errichtet. Auch damit werden – rein statistisch – Todesfälle verhindert. All das ist also Zahlenfuchserei. Plötzliche Todesfälle geschehen aber relativ gesehen nur sehr selten während sportlicher Aktivität, sondern laut einer finnischen Studie zehnmal häufiger im Haushalt und fünfmal häufiger auf der Toilette.

STANDARD: Trotzdem: Wenn bei Marathons Läufer zusammenbrechen, ist es dann Eigen- oder Fremdverantwortung?

Fritz: Die Warnsignale für eine Überlastung, ob im Training oder Wettkampf, können tatsächlich vollkommen unspezifisch sein – ein Ziehen oder ein Druck im Brustbereich, Übelkeit, Schwindel oder leichte Sehstörungen sind Symptome, die Hinweise sein können, aber nicht müssen. Wer seinem Körper eine intensive Belastung zumuten will, sollte sich vorher durchchecken lassen. Das liegt in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen, die Veranstalter kann man dafür nicht in die Pflicht nehmen.

STANDARD: Warum sind oft die letzten Kilometer in Laufbewerben gefährlich?

Fritz: Weil der Körper dann meist schon seine ganzen Kraftreserven aufgebraucht hat und die Leistungsfähigkeit des Organismus am Ende ist. Meist geschehen medizinische Zwischenfälle auf den letzten Kilometern, das ist wissenschaftlich bewiesen. Gerade auf den letzten Metern versuchen viele Läufer trotz Erschöpfung, das Letzte aus sich herauszuholen. Das kann dann fatale Folgen haben – etwa dass sich Plaques (Ablagerungen an den Innenwänden der Blutgefäße, ein eindeutiges Zeichen für Arteriosklerose, Anm.) lösen und, wenn sie im Bereich der Herzkranzgefäße liegen, einen Herzinfarkt oder Herzrhythmusstörungen auslösen.

STANDARD: Was sind die gängigen Fehler, die Läufer bei Wettkämpfen machen?

Fritz: Da könnte ich jetzt vieles aufzählen. Ich denke, dass eine schlechte Vorbereitung, also zu monotones Training mit zu wenigen Grundlagenausdauereinheiten, generell eine schlechte Ausgangsbasis ist. Ein weiteres sehr häufiges Problem ist eine schlechte Renneinteilung.

STANDARD: Sie meinen, ein zu schneller Start?

Fritz: Genau. Viele starten viel zu schnell und versuchen, zu Beginn Zeit gut zu machen. Das funktioniert aber bei Halbmarathons und Marathons nicht. Es kommt dann zwangsweise zu einem Einbruch gegen Ende des Rennens, und das kostet dann zumeist die angestrebte Zielzeit. Auch eine optimale Flüssigkeitszufuhr und die richtige Ernährung vor und während des Laufes spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

STANDARD: Wann ist Abbruch eine Option?

Fritz: Wenn es einem am Wettkampftag nicht gutgeht, man trotzdem startet und das subjektive Gefühl nach wenigen Kilometern nicht deutlich besser wird, ist ein Abbruch ganz sicher die vernünftigere Entscheidung. Ich leite seit vielen Jahren das Medical Center beim Vienna City Marathon. Mein Team und ich beraten dort völlig kostenlos, weil wir die Teilnehmenden sicher und gesund an den Start bringen wollen. Leider müssen wir manchmal nach gründlicher Untersuchung von einer Teilnahme abraten. In Italien ist seit 1982 ein sportmedizinisches Attest für jeden Start Pflicht. Damit konnte die Anzahl der Todesfälle im Sport um 89 Prozent verringert werden.

STANDARD: Spielt das Wetter eine Rolle?

Fritz: Bei sehr hohen oder außergewöhnlich kalten Temperaturen sollte primär das Tempo verringert werden. Ein Abbruch wegen extremer Bedingungen oder Wind sollte auf jeden Fall in der Verantwortung des Veranstalters liegen. Das können Sportler während eines Rennens nicht beurteilen.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Distanz? Stimmt es, dass ein Halbmarathon am gefährlichsten ist?

Fritz: Nein, überhaupt nicht. Prinzipiell sind kürzere Distanzen nicht ungefährlicher als längere. Das wollen die meisten Sportler aber nicht begreifen. Selbst ein Staffellauf ist kein Spaziergang. Es ist mittlerweile ja sogar schon so, dass der Marathon als Königsdisziplin im Ausdauersport seinen Mythos durch diverse Ultraläufe, Ironman und Ähnliches fast schon verloren hat. Ich höre nicht selten Sätze wie: "Ich bin leider krank, laufe den Marathon nicht, aber den Halbmarathon schaffe ich ganz sicher." So eine Aussage ist Schwachsinn, und das kann Leben kosten.

STANDARD: Apropos Kosten. Eine sportmedizinische Untersuchung muss jeder selbst finanzieren. Wer sollte sie sich leisten?

Fritz: Ich denke, dass Gesundheit ein sehr wichtiges Gut ist – wichtiger als ein Auto zum Beispiel, und dafür geben die Leute ja auch Unmengen aus. Leider finanziert unser Gesundheitssystem solche Untersuchungen nicht, es ist also jedem selbst überlassen, sich abzusichern. Ich würde sie jedem Sportler empfehlen, unbedingt aber ab dem 35. Lebensjahr. Besondere Vorsicht ist auch bei Auffälligkeiten in der Familie hinsichtlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen geboten, bei Bluthochdruck, Nikotinabusus, Diabetes, erhöhten Blutfettwerten und Übergewicht. Wer sichergehen will, kann im Vorfeld den PARQ-Test machen.

STANDARD: Was ist der PARQ-Test?

Fritz: PARQ steht für "Physical Activity Readiness Questionnaire". Es ist ein Fragebogen zur Beurteilung, ob eine sportmedizinische Untersuchung unbedingt notwendig ist. Das sind Fragen wie: Hat Ihnen jemals ein Arzt gesagt, dass sie etwas "am Herzen" haben? Haben Sie Probleme bei der Atmung? Sind Sie schon einmal wegen Schwindels gestürzt? Hatten Sie schon einmal Schmerzen in der Brust? Wenn eine Frage mit Ja beantwortet wird, ist das ein Anlass, sich einen Termin auszumachen. Ein Laktat- und ein Belastungstest bei einem Spezialisten bedeuten schließlich: Die wenige zur Verfügung stehende Zeit fürs Training optimal zu nutzen, mehr Freude an der Bewegung, mehr Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. (Thomas Rottenberg, CURE, 19.6.2016)