Rudi Palla: "Valdivia. Die Geschichte der ersten deutschen Tiefsee-Expedition", € 28,80 / 237 Seiten. Galiani, Berlin 2016.

Foto: Galiani
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Bis heute weiß man erstaunlich wenig über die Tiefsee – vor 200 Jahren wusste die Wissenschaft noch gar nichts. Erst im Jahr 1818 entnahm der englische Polarforscher John Ross im Nordatlantik erstmals eine Probe aus zwei Kilometern Tiefe und holte Quallen und Würmer ans Tageslicht. Dass es in dieser Zone Leben gibt, konnten manche Kollegen nicht glauben, so wie Edward Forbes, dessen Abyssus-Theorie besagte, dass unterhalb von 500 Metern kein Leben möglich sei.

Die erste richtige Tiefseeexpedition startete dann im Jahr 1872. Die vierjährige Forschungsfahrt der britischen "Challenger" setzte einen Meilenstein: Mehr als 4000 Arten wurden entdeckt, das geologische Tiefenprofil der Weltmeere erforscht. Zwischen 1890 und 1898 organisierte auch die Akademie der Wissenschaften Expeditionen mit der "SMS Pola". Unter der Leitung von Franz Steindachner, später Direktor des Naturhistorischen Museums Wien, wurden die Tiefen des Mittelmeers und des Roten Meers erkundet.

Seebestattung im Indischen Ozean

Auch im Deutschen Kaiserreich brach danach das Tiefseefieber aus: Am 31. Juli 1898 startete die Forschungsreise der "Valdivia" unter der Leitung von Carl Chun, die durch den Atlantischen und Indischen Ozean führte. An dieser Expedition ist in den vergangenen Jahren offenbar das Interesse gestiegen: 2013 erschien Andreas von Klewitz' Bericht darüber, der allerdings nur eine Nacherzählung des Reisetagebuchs Chuns war.

Nun legt der österreichische Autor Rudi Palla, bekannt durch Sachbuchklassiker wie "Verschwundene Arbeit" und sein Gespür für originelle Themen, seine prächtig gestaltete Version dieser Expedition vor. Sein neues Buch besticht schon auf den ersten Blick durch liebevolles Design und eine überlegte Auswahl an exzellenten reproduzierten Illustrationen und Fotografien. Vor allem aber wird die Geschichte der Reise anschaulich beschrieben und kritisch kontextualisiert.

Leiter der spektakulären Forschungsreise war der Leipziger Zoologe und Quallenspezialist Carl Chun, der für die neunmonatige Fahrt zwölf weitere Wissenschafter zusammenbrachte. Darunter waren Ozeanografen, Botaniker, ein wissenschaftlicher Zeichner und Fotograf sowie der Arzt Martin Bachmann, der sich freiwillig angeschlossen hatte. Tragischerweise verstarb ausgerechnet der Expeditionsarzt während der Reise. Am Tag seiner Seebestattung im Indischen Ozean, zwischen der Amsterdam-Insel und den Kokosinseln, wurde die größte Tiefe der Fahrt gemessen: 5911 Meter.

Cocktails gegen Nervenkitzel

Die Forscher machten auf hoher See erstaunliche Funde, die sie dank neuartiger Schließnetze auch bestimmten Tiefen zuordnen konnten. Auf diese Weise wurden mehr als tausend neue Tierarten entdeckt. Bemerkenswert waren vor allem die Fische, die sich neben Quallen, Krebsen und Plankton aus dem Meer ziehen ließen und deren Farbe bisweilen pittoresk als "samtig schwarz" beschrieben wurde.

Einige Tiefseefische waren mit Leuchtorganen ausgestattet, darunter auch der Bucklige Anglerfisch, der trotz seiner kurzen 4,5 Zentimeter Körperlänge durch die dornenbesetzte Haut und das große Maul mit scharfen, nach innen gebogenen Zähnen einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Daran mag es gelegen haben, dass er nach dem Kapitän Adalbert Krech "Melanocetus krechi" benannt wurde.

Der erfahrene Seemann sorgte immer wieder mit riskanten Manövern für Nervenkitzel: Obgleich die "Valdivia" nicht dafür konstruiert war, ließ Krech sie in der Vorweihnachtszeit durch das südpolare Eis fahren. Palla vermittelt das beklemmende Gefühl, das die Besatzung bei der Fahrt zwischen den Eisschollen ergriff, ebenso eindrücklich wie die seeganggeschüttelte Weihnachtsfeier, zu der "Eisbrecher" gereicht wurden, Cocktails aus Cognac und Portwein, um das Gemüt zu beruhigen.

Zwischen den Episoden auf hoher See unternahmen die Reisenden immer wieder Landgänge. Sie erforschten etliche Inseln und betraten auch afrikanisches Festland, wo flugs neun Forscher an Malaria erkrankten: Sie hatten in der damaligen deutschen Kolonie Kamerun eine Nacht "so richtig afrikanisch in den Hütten der Eingeborenen" übernachten wollen und bitter dafür bezahlt.

Kritik an Kolonialismus und Umweltverbrechen

Palla hält sich stark an Chuns Fahrtenbuch, wovon das Buch profitiert: Der Zoologe wurde bereits vom Reisegefährten Fritz Braem als einnehmender Erzähler und vortrefflicher Schreiber beschrieben, der auch komplizierte Sachverhalte verständlich, elegant und bisweilen humorvoll formulieren konnte. Dieses Talent beweist auch der Erfolg seines populärwissenschaftlichen Buches "Aus den Tiefen des Weltmeeres", das die Expedition eineinhalb Jahre nach der Heimkehr schilderte und von der Presse gelobt wurde.

Chun selbst beschwerte sich jedoch über die mangelnde Arbeitsdisziplin bei der Auswertung des gesammelten Materials. Die Veröffentlichung aller 24 Bände, in denen die wissenschaftlichen Ergebnisse publiziert wurden, erlebte der 1914 verstorbene Chun nicht: Der letzte Band erschien erst im Jahr 1940.

Palla unterfüttert seinen gut 200-seitigen und großzügig illustrierten Bericht mit einigen erhellenden Exkursen, die einzelne Begebenheiten in einen größeren Kontext einbetten, ohne zu sehr von der Forschungsreise abzukommen. Dabei geht er auch auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands ein und hinterfragt in dem Zusammenhang die Berichterstattung Chuns kritisch. Dem Expeditionsleiter konnte die Schreckensherrschaft im Kongo kaum entgangen sein, er blendete sie aber in seinen Berichten komplett aus.

Im abschließenden Kapitel, das man auch auf derStandard.at nachlesen kann, schlägt Palla dann gekonnt den Bogen zur Gegenwart. Zwar sind die Tiefen der Meere immerhin noch vergleichsweise wenig erforscht. Doch die Wissenschaft weiß heute deutlich mehr über diesen einzigartigen Lebensraum – und leider auch, wie bedroht "Poseidons Reich" aufgrund menschlicher Eingriffe bereits ist. (sic, 10.4.2016)