Als im Oktober 2015 auch die letzte Turbine in Zangmu ans Netz ging, klang durch die indische Presse ein Aufschrei. Vom "Schlachtfeld Brahmaputra" war die Rede und von "Wasserkriegen". Das chinesische Wasserkraftwerk Zangmu gilt als das weltweit höchstgelegene Kraftwerk seiner Größenordnung: 510 Megawatt (MW) Leistung, 1,5 Milliarden US-Dollar Baukosten.

Die österreichische Firma Andritz lieferte das Automatisierungssystem für Zangmu und erhofft sich einen Einstieg ins tibetische Wasserkraftgeschäft.

Indiens Sorge ist nicht unbegründet. Alles, was in China am Oberlauf gebaut wird, hat potenziell Auswirkungen auf den Unterlauf in Indien. Dort und in Bangladesch, wo der Fluss ins Meer mündet, leben Millionen Menschen vom Fluss. Niemand weiß, welche Folgen der Staudamm haben kann.

Ein paar hunderte Kilometer nordwestlich von Zangmu, in Pangduo, ist seit vier Jahren der sogenannte "Tibetische Drei-Schluchten-Damm" in Betrieb, erbaut von der weltgrößten Baufirma Sinohydro an einem Zufluss zum Brahmaputra. Auch bei Zangmu werden gerade vier weitere Wasserkraftwerke gebaut. In China gibt es insgesamt elf bekannte Staudammprojekte entlang des Brahmaputras, etwa 20 weitere an seinen Zuflüssen.

"Gemeinsam bauen die Bewaffnete Volkspolizei Chinas und die Menschen am Wohlstand", stand auf einem Poster auf der Mega-Baustelle für den Pangduo-Staudamm 2012.
Foto: privat

Ein Wettlauf mit weitreichenden Folgen

"Dämme können wichtigen sozioökonomischen Nutzen bringen", schrieb der indische Wasserexperte Brahma Chellaney, Professor im Centre for Policy Research in Delhi, unlängst auf seinem Blog. "Aber was China macht, ist 'overdamming'."

Und da will Indien mithalten. Zwischen den zwei Ländern habe ein "race to the bottom", also ein zerstörerischer Wettlauf begonnen, meint der Geologe Jesper Svensson. An Brahmaputra-Zuflüssen wurden in Indien mindestens sieben große Kraftwerke fertiggestellt, etliche befinden sich in Bau, und vor allem: über 140 sind in Planung. Bei den Projekten geht es nicht nur um Energiegewinn, sondern auch um Macht.

Durch Anklicken der farbigen Marker erhalten Sie nähere Informationen zu dem jeweiligen Wasserkraftwerkprojekt. Grün: Projekt fertiggestellt, Braun: Projekt in Bau, Blau: Projekt in Planung.

Misstrauen im Süden

In Indien erinnert man sich zurück ans Jahr 2000, als ein Dammbruch in Tibet zu Überflutungen in Nordindien geführt und 35.000 Menschen obdachlos gemacht hat. In Indien glaubten nicht alle Chinas Erklärung vom "natürlichen Dammbruch". Im gleichen Jahr kam es auch im Nordwesten Indiens zu Sturzfluten mit rund hundert Todesopfern. Satellitenbilder konnten nachweisen, dass das Hochwasser von einem chinesischen Wasserkraftwerk verursacht wurde.

Am Mekong zeigt sich aktuell, wie viel Macht China hat. Eine Dürre bringt tausende Bauern in Thailand in Bedrängnis – China öffnete vergangenen Monat einen seiner großen Dämme am schwer verbauten Mekong. Aktivisten nannten die Aktion "zynisch". "Die chinesischen Machthaber beuten den Mekong aus, um ihn dann als Karte in politischen Verhandlungen ausspielen zu können", sagte Withoon Permponsacheroen, Direktor des Mekong Energy and Ecology Networks, zur "Bangkok Post". "China hat nun absolute Verhandlungsmacht."

Ähnliche Machtassymetrien drohen auch am Brahmaputra. Viele der großen Flüsse Südasiens entspringen in von China kontrolliertem Territorium. Den Brahmaputra beobachten die Inder aber besonders genau. Die Menge an Wasser, die der Fluss jährlich nach Indien bringt, ist allein fast so groß wie alle anderen Flüsse zusammen, die von China nach Indien fließen. Dass China nur spärlich Informationen über seine Baupläne bereitstellt, verunsichert Indien weiter.

Chinas umstrittene Megaprojekte

Und China hat Großes vor. Bevor der Brahmaputra nach Indien eintritt, wird er vom Himalaya gezwungen, eine Kehre, den "Great Bend" nach Süden zu machen. Tief in den Schluchten von Pemako brechen die Wassermassen in die indische Provinz Arunachal Pradesh. In China fließt der Brahmaputra auf 3.350 Höhenmetern, in Indien nur noch auf 800 Meter. Auf einer Strecke von nur zweihundert Kilometern fällt der Fluss also um 2.500 Höhenmeter ab – ein Paradies für Stromerzeuger.

Doch die Region ist Mittelpunkt eines jahrzehntelangen Grenzkonflikts. Arunachal Pradesh wird von Indien kontrolliert, auf chinesischen Karten wird es aber als "Südtibet", also als Teil Chinas eingezeichnet. 1962 kam es hier zum Krieg zwischen Indien und China, der zwar mit einem Waffenstillstand beendet wurde – Grenzabkommen gab es aber nie.

Der "Economist" hat die Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und China zusammengefasst.
The Economist

Und genau an dem Great Bend plant China die größten Staudammprojekte aller Zeiten. Die wahrscheinlichste Variante soll in Motuo mit 38 GW fast doppelt so viel Nennkraft haben wie der Dreischluchtendamm. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass China vom Brahmaputra Wasser in den Norden umleiten will, um die Industrie am Huanghe zu versorgen. Zwei Umleitungsrouten vom Jangtse wurden bereits gelegt.

Ob die Westumleitung kommen wird, ist unklar. Chinesische Behörden meinen, momentan werden bloß Machbarkeitsstudien durchgeführt. Der Geologe Svensson studiert seit Jahren den Huanghe und denkt, dass das Projekt viel zu teuer wäre. Gleichzeitig ist er davon überzeugt, dass am Great Bend ein Kraftwerk gebaut werde. Er vermutet, dass Zangmu und Co kleinere Staudammprojekte seien, um den großen Damm an der Kehre überhaupt bauen zu können.

Demonstrationen in Indien

Anders als in China wehren sich im demokratischen Indien Anrainer gegen die Verbauung der Flüsse. In Lower Subansiri etwa liegt seit fünf Jahren ein halbfertiger Staudamm brach –Umweltaktivisten protestierten erfolgreich.

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Am Kraftwerk im indischen Subansiri wird seit 2011 wegen massiver Proteste nicht weitergebaut.
Foto: AP

Bereits 2010 haben 51 Organisationen indigener Communitys in einem gemeinsamen Brief China und Indien aufgefordert, die Dammprojekte zu stoppen. Verzögerungen durch Demos, gesunkene Strompreise – nach einem ersten "Dammrausch" ziehen sich auch die ersten privaten Firmen wieder zurück. Kurz gefasst meint Himanchu Thakkar von der NGO South Asia Network on Dams, Rivers and People in Delhi, es sei ein "mess in process".

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In Nordostindien finden immer wieder Demonstrationen von Umweltaktivisten statt – teils mit Erfolg. Hier in Subansiri im Jahr 2011.
Foto: EPA

Aber Druck kommt von höchster Stelle. Der indische Premierminister Narendra Modi versucht, die Projekte voranzutreiben. Sie gehören zu seiner aktiven Außenpolitik gegen China, nicht nur in Indien selbst, auch im Nachbarstaat Bhutan. Insgesamt plant Bhutan momentan fast zwanzig Staudämme, von denen die meisten in Kooperation mit Indien durchgeführt werden. Die meisten Flüsse Bhutans münden im Brahmaputra. Und auch in der Provinz Sikkim, deren Hauptfluss Teesta in den Brahmaputra fließt, wurde in den letzten Jahren massiv gebaut. Außerdem existieren auch in Indien Pläne, Wasser aus dem Norden in den Süden umzuleiten. Top-Politiker wie Rahul Gandhi bezeichneten das Projekt allerdings als "katastrophale Idee", die ein "menschliches, ökonomisches und ökologisches Desaster" auslösen kann.

Die weltweite Entwicklung von Staudämmen seit 1800 – entwickelt von mehreren nordamerikanischen Universitäten.
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Kein Abkommen zwischen Indien und China

Der Brahmaputra ist längst in den höchsten politischen Etagen angekommen. Modi und Chinas Präsident Xi Jinping besprachen das Thema zu verschiedenen Anlässen. Außer Zugeständnissen bezüglich Datenaustausch und Notfallschutz gibt es aber kein bindendes Abkommen. Keines der beiden Länder hat die UN-Gewässerkonvention ratifiziert, die seit 2014 die Nutzung transnationaler Flüsse regeln soll. Frank Kürschner-Pelkmann, Experte für internationale Wasserthemen, mutmaßt, dass die Länder erst große Staudämme fertigstellen wollen, bevor sie die Konvention ratifizieren würden. Sie wollen vollendete Tatsachen schaffen.

Kooperation ist die Hoffnung für viele Analysten. Svensson sieht zum Beispiel keinen Grund zur Panik, im Gegenteil: "China hat seine Wassersituation im Griff." Anders sieht das Chellanay. Indien unterschätze China gewaltig. Thakkar wiederum sieht das "China"-Argument als Vorschub. Die indische Regierung würde probieren zu argumentieren, dass man mit China mithalten muss. "Aber wozu? Wenn China baut, was kann Indien schon tun? Wir können nur heiße Luft blasen." (Anna Sawerthal, 21.4.2016)