Das irakische Parlament ist schwer gespalten: Die eine Hälfte will eine Expertenregierung, die andere Hälfte nicht. Ein am Dienstag begonnenes Sit-in dauerte auch noch am Donnerstag an.

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Bagdad/Wien – Die Entfernung zwischen Bagdad und Hit nordwestlich von Ramadi beträgt nur 150 Kilometer: Um die am Euphrat liegende Stadt, die vor ihrer Einnahme durch den "Islamischen Staat" etwa so viele Einwohner wie Innsbruck hatte, verläuft die Front; die US flogen in der Region allein am Mittwoch 17 Lufteinsätze. Hit gilt bereits als "befreit", auch wenn man weiß, dass es nach der ersten Erfolgsmeldung bis dahin meist noch Wochen dauert. Aber erstmals geht etwas substanziell voran, auch wenn der IS noch lange nicht besiegt ist.

Und während in Hit und anderswo gegen den IS gekämpft wird, treibt die Politik in Bagdad das Land weiter dem Abgrund zu.

Am Donnerstag war die Lage im Parlament in Bagdad chaotisch: Ein Sturz der Regierung von Haidar al-Abadi, eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen schienen nicht mehr ausgeschlossen. Die Diskussion wurde mangels Quorum im Parlament von Parlamentspräsident Salim al-Juburi jedoch erst einmal vertagt, am Samstag sollte eine neue Sitzung stattfinden. Allerdings stimmten die anwesenden Parlamentarier dennoch ab: für die Entlassung Juburis, der jedoch den Vorgang als verfassungswidrig bezeichnete.

Die gemäßigten Kräfte fürchten Neuwahlen, denn von ihnen ist eher keine Stabilisierung zu erwarten. Die radikalen schiitischen Milizen, durch ihren Kampf gegen den IS populär, drängen in die Politik, und der frühere Premier Nuri al-Maliki, unter dem eine schiitisch-sunnitische Versöhnung unmöglich wäre, wartet auf sein Comeback.

Premier Haidar al-Abadi hat seinen Reformkarren wohl endgültig an die Wand gefahren. Im Sommer 2015 zeigten sich noch alle politischen Kräfte von seinen Ankündigungen, der Korruption und dem ethnisch-konfessionellen Proporzsystem in der irakischen Politik den Kampf anzusagen, erfreut. Abadi hat es jedoch versäumt, jeweils die einzelnen Schritte politisch abzusichern, zunehmend wirkte er erratisch und isoliert.

Zwei Listen nacheinander

Der letzte Reformakt ist Abadi in fast selbstzerstörerischer Weise misslungen: sein Versuch einer Bildung eines abgespeckten und – außer Innen- und Verteidigungsminister – reinen Technokratenkabinetts. Die entsprechende Ministerliste, die er Ende März ohne vorherige Absprachen vorlegte, rief in mehreren Regierungsparteien, vor allem bei den Kurden, Empörung hervor. Einzelne Nominierte zogen daraufhin ihre Kandidatur zurück.

Am Dienstag sollte die Liste im Parlament debattiert werden – stattdessen präsentierte Abadi einen neuen Vorschlag, diesmal für ein gemischtes Kabinett von Experten und Politikern. Das versetzte wiederum die andere Hälfte des Parlaments in Aufruhr. Jene Kräfte, die Abadis ersten Plan für eine reine Expertenregierung unterstützen, besetzten Dienstagabend das Parlament.

Das "Sit-in" dauerte auch noch am Donnerstag an, bis zur Hälfte der Abgeordneten sollen bereits den Rücktritt nicht nur Abadis, sondern auch von Präsident Fuad Masum und von Parlamentspräsident Juburi verlangen, deren Posten ja auch dem bereits erwähnten Proporz folgen: Premier/Schiit, Präsident/Kurde, Parlamentspräsident/Sunnit. Zwischen den Lagern Pro- und Kontra-Expertenregierung kam es am Mittwoch auch zu Handgreiflichkeiten. Interessant ist, dass die beiden Lager nicht konfessionell kohärent sind.

Begonnen hatte die Krise um die Regierungsumbildung ebenfalls mit einem Sit-in: angeführt vom schiitischen Mullah Muktada al-Sadr, der Abadi ein Ultimatum für Reformen stellte. Sadr hatte mit seinem inneren Zirkel sein Protestzelt innerhalb der früheren Grünen Zone, heute so etwas wie ein Regierungsdistrikt, aufgestellt und tausende seiner Anhänger draußen platziert – mit der Drohung, sie würden die Zone stürmen, falls Abadi die Reformen schuldig bliebe.

Sadr füllt das Vakuum

Mit Unbehagen sehen Beobachter, dass Muktada al-Sadr das Vakuum zu füllen versucht, das der wichtigste schiitische Geistliche, Ali Sistani, zu hinterlassen droht: Sistani, der Abadi lange von Najaf aus unterstützte, hat sich zurückgezogen. Manche behaupten, der 85-Jährige sei dem Tod nahe.

Sadr, Spross einer wichtigen klerikalen Familie, gründete nach 2003 seine schiitische Mahdi-Armee, die im Bürgerkrieg ab 2006 schwere Verbrechen an Sunniten beging und auch die Amerikaner bekämpfte. Später löste er sie auf – aus jenen Teilen, die weiterkämpfen wollten, entstammen die heutigen, meist irannahen radikalen Milizen. Sadr selbst hat sich längst als irakischer Nationalist neu erfunden, der auch die Interessen der von den schiitischen Regierungen marginalisierten Sunniten vertritt. (Gudrun Harrer, 14.4.2016)