Es war Nacht und stockfinster, als Natalia Tereschtschenko ihr Fahrziel erreichte. Die Ärztin bekam wenige Tage zuvor den Auftrag für eine Dienstreise. Zweck: unbekannt. Ort: unbekannt. Fragen: unerwünscht. Die Mitreisenden im Bus waren genauso ahnungslos wie sie. Die 35-Jährige hatte Proviant für drei Tage eingepackt, sich von ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern in Charkiw im Osten der Ukraine verabschiedet. 18 Stunden dauerte die Fahrt, an deren Ende Tschernobyl lag. Es war Anfang Mai 1986. Wenige Tage zuvor war es in dem Atomkraftwerk zum GAU gekommen.

Am 26. April 1986 um 1.23 Uhr früh war in Reaktor 4 eine Explosion erfolgt (siehe Zeitleiste). 600.000 bis 800.000 Männer und Frauen wurden in den folgenden Wochen und Monaten als "Liquidatoren" aus der gesamten Sowjetunion eingezogen, um Brände zu löschen, Aufräumungs- und Sicherungsarbeiten vorzunehmen und so eine noch gewaltigere Katastrophe zu vermeiden. Tereschtschenko war eine von ihnen.

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Gesperrte Zone: Das Leben im Tschernobyl stoppte abrupt.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

Tscher-no-byl. Diese drei Silben haben sich tief in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt, sie stehen für atomare Zerstö- rung wie spätsowjetische Vertuschungspolitik, für die Angst vor dem Unvorstellbaren und die Hilflosigkeit nach einer Katastrophe neuen Ausmaßes. Wenn von Risiken der Atomkraft geredet wird, tauchen die Bilder des havarierten Meilers in der Ukraine und der nahen, verlassenen Satellitenstadt Prypjat auf. Häuser verrotten, Spielplätze und Schwimmbäder liegen unwirklich im atomaren Dämmerschlaf. Eine Sperrzone von 30 Kilometern Durchmesser wurde errichtet, und rund 120.000 Menschen wurden evakuiert. Sie wurden in neue Gemeinden eingebürgert, teilweise wurden neue Siedlungen für sie errichtet.

Die Ärztin Tereschtschenko wurde mit 57 anderen Menschen in einem Spital eingesetzt, nur zehn Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt. Ihre Aufgabe war es, die Leukozyten im Blut der Liquidatoren zu zählen. Denn im Falle einer Verstrahlung fällt die Anzahl der weißen Blutkörperchen stark ab, bei einer verringerten Leukozytenzahl sind Menschen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt. Stimmte der Grenzwert, mussten die Liquidatoren weiterarbeiten. Die Tests bezeichnet die Ärztin heute als Farce: "Pro Person hatte ich rund eine Minute Zeit, moderne Geräte fehlten", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD.

"So war die Mentalität. Man musste tun, was der Staat verlangt"

Ihre Familie dachte, Tereschtschenko befinde sich in Kiew: "Wir durften niemanden informieren. Es wurde alles abgehört. Sobald man etwas Verdächtiges sagte: ,zack' – Leitung tot." 33 Tage war sie in der geräumten Zone. Die ersten gesundheitlichen Folgen traten bei ihr unmittelbar danach ein. Durch die Arbeit am eisenhaltigen, verstrahlten Mikroskop wurde ihr Rachen verbrannt. Für einige Monate konnte sie nicht sprechen; noch heute hat sie einen metallischen Geschmack im Mund. Drei Operationen hat sie heute hinter sich, ihr Nervensystem ist stark gestört, zudem verliert sie ihr Augenlicht. "Nur drei Menschen aus meiner Einheit überlebten", sagt die Mittsechzigerin. Die Informationslage war damals dürftig, die Medien wurden kontrolliert. Dennoch: Die meisten Menschen vor Ort wussten genau, was ihr Einsatz für sie bedeutete. Wieso hatte sich Tereschtschenko nicht geweigert? "So war die Mentalität. Man musste tun, was der Staat verlangt."

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Der Zahn der Zeit nagt an der verlassenen Satellitenstadt Prypiat.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

"In einer Nacht gelangten wir an einen neuen Ort der Geschichte. Wir sprangen in eine neue Realität, und diese Realität überstieg nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Einbildungskraft", schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft. "Die Vergangenheit war plötzlich hilflos, auf nichts darin konnten wir uns stützen, im allwissenden (wie wir glaubten) Archiv der Menschheit gab es keinen Schlüssel, der diese Tür hätte öffnen können."

Doch die unvorstellbare Katastrophe trug auch zum Wandel in der Sowjetunion bei. Die politische Klasse musste erkennen, dass ihre gewohnten Schlüssel nicht ausreichten. Nur wenige Wochen zuvor, am 25. Februar 1986, sprach Michail Gorbatschow, der im Jahr davor Generalsekretär des Zentralkomitees der KP wurde, erstmals von Glasnost. Offenheit und Transparenz sollten neben der Perestroika die sowjetische Gesellschaft modernisieren. Doch nur wenige Wochen später erlebte das Prinzip Glasnost – so die Politologin Astrid Sahm – einen Totalausfall. Im Umgang mit Tschernobyl setzten die sowjetischen Machthaber zunächst auf eine schleppende Evakuierung, Vertuschung und internationale Desinformationspolitik. Dass erst durch Messstationen in Westeuropa die Katastrophe international publik wurde, zeigt, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auseinanderdrifteten.

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Konservierter Symbolismus auf einem Haus in Prypiat.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

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Der Großteil der radioaktiven Stoffe wurde in Tschernobyl innerhalb der ersten zehn Tage freigesetzt. Am stärksten betroffen waren neben der Ukraine Weißrussland und Russland. Noch heute leben rund fünf Millionen Menschen in den unmittelbar betroffenen Gebieten auf radioaktiv verseuchtem Boden. Diese Schlüsse zieht ein aktueller Statusreport im Auftrag von Greenpeace. Doch die gesamte nördliche Halbkugel war in unterschiedlichem Ausmaß betroffen: Durch den Graphitbrand im Reaktorblock entstand große Hitze, gasförmige oder leichtflüchtige Stoffe wie Jod oder Cäsium gelangten so in 1500 bis 10.000 Meter Höhe. Wechselnde Luftströmungen trieben die Rauchwolken mit dem radioaktiven Fallout zunächst nach Skandinavien, dann über Polen, Tschechien, Österreich, Süddeutschland und Norditalien. Eine dritte Wolke erreichte den Balkan, Griechenland und die Türkei. Der Regen verteilte die Radioaktivität schließlich im Boden. Je nach Wetterlage wurden die Länder unterschiedlich getroffen. Österreich wurde, gemessen an seiner Größe, stark kontaminiert. Die Nachricht erreichte Wien erst zwei Tage nach dem Unglück, am Abend des 28. Aprils veröffentlichte die APA eine erste Meldung. Vor dem Verzehr von Frischgemüse wurde in der Folge gewarnt, Kinder sollten nicht im Freien und mit Sand spielen. Politisch war ab diesem Zeitpunkt eines sonnenklar: Der Bau von Atomkraftwerken war in Österreich endgültig tabu.

18 Tage dauerte es, bis Gorbatschow sich am 14. Mai 1986 in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung wandte und dabei die USA und andere westliche Länder angriff: "Sie haben eine zügellose antisowjetische Kampagne entfacht ..." Doch Glasnost manifestierte sich schließlich zum Teil auch durch Tschernobyl. Gorbatschow im Jahr 2006 in einem Gastbeitrag im STANDARD: "Der Reaktorunfall in Tschernobyl, [...] war vielleicht mehr noch als die von mir begonnene Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später. [...] Mehr als alles andere hat die Katastrophe die Durchsetzung der freien Meinungsäußerung ermöglicht."

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Bauarbeiten am Sarkophag in Tschernobyl.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

Und immer die Frage: Wie kann der Mensch die Technik kontrollieren? "Am Anfang wurde menschliches Versagen als Ursache akzeptiert", sagt die Technikhistorikerin Sonja Schmid. Auch durch den ersten Bericht der Sowjetunion bereits im Sommer 1986 wurde dieser Erklärungsversuch gefestigt. "Weil das in der Atmosphäre der Offenheit präsentiert wurde, ist es im Westen sehr unkritisch aufgenommen worden", so Schmid. Erst Jahre später wurden grundsätzliche technische Probleme und organisatorische Mängel als weitere Ursachen der Katastrophe hinzugefügt. Laut Schmid, die ein Buch über das sowjetische Atomsystem verfasst hat, greift jede eindimensionale Erklärung zu kurz. Unfälle wie in Tschernobyl und Fukushima lassen sich nicht auf einen einzigen Grund zurückführen – auch wenn es in der Öffentlichkeit diesen Wunsch der einfachen Erklärung gibt. Kritik gab es an der russischen, vermeintlich unsichereren Bauweise mit Grafit. Doch für Schmid sind hier die historische Perspektive und die Lage der Industrie in der Sowjetunion für das Verständnis wichtig: "Der Reaktortyp RMBK – der Tschernobyl-Typ – hat andere Materialien, Erfahrungen und Industriezweige mobilisiert und dadurch die geplante Expansion der Atomindustrie ermöglicht." Wie beurteilt die Historikerin die Informationspolitik? "In der Tradition des Kalten Krieges hat man nie über Atomsachen gesprochen – außer im Erfolgsfall. Ein Unfall dieser Größe war nicht vorstellbar."

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Eindrücke aus Prypiat.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

Wie es in Tschernobyl weitergeht, ist offen: Unter der maroden Hülle eines Betonsarkophags lagern etwa 180 Tonnen Masse aus dem Reaktor und radioaktiver Staub. Die Planungen für einen stählernen Sarkophag verzögern sich seit Jahrzehnten. Für eine Bergung des radioaktiven Materials fehlen nicht nur die technischen Konzepte, kritisiert Adam Pawloff von Greenpeace. Unklar sei auch, wer die enormen Kosten für diese Arbeiten übernehmen soll. Ein Pilotprojekt zur Bergung wurde eingestellt.

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Strahlenmessung in Tschernobyl.
Foto: Reuters/Gleb Garanich

Auch die gesundheitlichen Folgen sind noch lange nicht ausgestanden. Doch ausreichende epidemiologische Untersuchungen in der Ukraine, Weißrussland und Russland fehlen. Die genannten Todeszahlen reichen von 30.000 bis hin zu einer halben Million. Phänomene wie ein Anstieg von Schilddrüsenkrebs nach dem GAU – besonders bei Kindern – wurden nie genau erforscht. Alle Zahlen beruhen auf Schätzungen.

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Um einen Einblick von der aktuellen Situation der überlebenden Liquidatoren zu bekommen, lohnt sich eine Fahrt nach Charkiw, 450 Kilometer von Tschernobyl und 20 Kilometer von Russland entfernt. Viele Liquidatoren stammten aus der zweitgrößten Stadt im Osten des Landes, die aktuell rund 1,5 Millionen Einwohner hat. Noch heute leben hier viele, die unmittelbar von der Katastrophe betroffen waren, wie zum Beispiel Anatolii Gubarjew. Seit 2010 steht der 56-Jährige der Vereinigung Sojus Chornobyl vor, die ihren Sitz in Charkiw hat. Rund 9000 Überlebende organisierten sich, um für ihre Rechte zu kämpfen. Zudem geben sie ihr Wissen an Kinder und Jugendliche weiter.

Doch auch die aktuelle politische Situation beschäftigt: "Wir arbeiten mit den ukrainischen Flüchtlingen. Denn es zeigt sich, dass sie in einer ähnlichen Situation sind wie die Menschen rund um Tschernobyl vor 30 Jahren", sagt Gubarjew. Für diese Menschen sei es genauso wichtig, schnell Hilfe zu bekommen und nicht durch lange Behördenwege nachweisen zu müssen, dass sie aus einem besetzten Gebiet kommen. Ehemalige Liquidatoren müssen den Zusammenhang zwischen dem GAU und ihren Krankheiten nachweisen, sagt Gubarjew.

Der CBS-Journalist Danny Cooke war 2014 in Tschernobyl und filmte mit einer Drohne.
Danny Cooke

Der Wirtschaftsökonom lebte 1986 in Charkiw und war eine Woche nach dem Unfall in Tschernobyl: "Es war egal, welchen Beruf man hatte, man wurde eingezogen. Wir hatten vier Tage Übung, und dann wurden wir schon in die Zone geschickt." Die Hauptaufgabe seiner Einheit war es, den Kabelbrand zwischen drittem und viertem Reaktor unter Kontrolle zu halten. Sicherheitsvorkehrungen waren kaum vorhanden, sagt er: "Wir hatten nur Stoffmasken und haben nach jedem Einsatz unsere Kleidung getauscht. Das Leben der Menschen hatte keinen Wert." Dann kam der Hautkrebs. Diese Diagnose durfte ihm in der Ukraine jedoch gar nicht gestellt werden.

"Es gibt neue Krisen, und es gibt neue Helden."

Es war verboten, chronische und akute Erkrankungen der Liquidatoren in einen Zusammenhang mit der Verstrahlung zu bringen. Ein längerer Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus rettete ihm 1990 das Leben. Ein Gesetz zum Schutz der Liquidatoren trat erst 1991 in Kraft. Seither wurde es rund 40-mal abgeändert. Wer Liquidatoren-Status zugesprochen bekommt, erhält zwar eine etwas höhere Pension. Üppig ist diese aber mit umgerechnet höchstens 300 Euro nicht. Diesen Betrag bekommt jedoch nicht einmal ein Prozent der Liquidatoren, schätzt Gubarjew. 80 bis 100 Euro pro Monat entspreche der Realität der meisten Empfänger. Kranke Kinder von Liquidatoren haben nur bis zum 18. Lebensjahr einen Sonderstatus und erhalten staatlich geförderte Behandlungen. Witwen bekommen nicht automatisch eine Pension. Sie müssen penibel vorlegen, dass ihre Ehemänner an den Folgen von Tschernobyl verstorben sind.

Laut offiziellen Zahlen gebe es heute nur noch 5000 behinderte Liquidatoren, berichtet Gubarjew, der diese niedrige Zahl anzweifelt. Der Jahrestag der Katastrophe werde den Anliegen der Überlebenden aber kaum Aufwind geben, meint er: "Es gibt neue Krisen, und es gibt neue Helden." (Julia Schilly aus der Ukraine, Sebastian Pumberger, 20.4.2016)