Die derzeitigen Diskussionen über mehr Bürgerbeteiligung kommen mir vor, als würden Pubertierende über Sex reden. Jeder hat gehört, dass es großartig sein kann, aber niemand hat es je selbst erlebt.

Wir müssen aber ins Tun kommen, wenn uns etwas an unserem europäischen Modell der Demokratie liegt. Die Zukunft liegt in neuen Spielarten von Demokratie, die weit darüber hinausgehen, alle vier Jahre mit dem Kuli ein Kreuzerl zu machen.

Neue Möglichkeiten

In den ersten Statements der neuen Spitzen der Republik orte ich einen Bewusstseinswandel hin zu mehr Partizipation. Wenn Bundeskanzler Christian Kern in seiner ersten Parlamentsrede dazu aufruft, "Menschen wieder dazu zu bewegen, sich politisch zu engagieren", dann sind neben lebensnahen Inhalten vor allem auch neue Partizipationsmöglichkeiten die Antwort. Wenn der designierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen betont, mit den "Menschen wieder ins Gespräch kommen" zu wollen, wird dies nur durch eine neue Dialogkultur möglich sein. Diese Ansagen genügen noch lange nicht.

Klar ist: Die Demokratie des 21. Jahrhunderts entsteht nicht auf dem Reißbrett der Expertinnen und Experten, sondern in der Praxis. Im ersten Schritt brauchen wir evidenzbasierte Modelle und Erhebungen, aus denen Parlament und Regierung neue Ideen für mehr demokratische Mitsprache ableiten können. Es braucht einen gut ausgestatteten, breit getragenen Thinktank, der nicht nur theoretische Grundlagen schafft, sondern auch Beteiligungsprojekte zur Umsetzung bringt.

Dieser wird sicher den Blick über den österreichischen Horizont wagen müssen. Zum Beispiel nach Köln, Stuttgart oder Freiburg, wo die Bürgerinnen und Bürger im Rahmen von Bürgerhaushalten in die kommunale Budgeterstellung eingebunden sind. Oder nach Island, wo die Bevölkerung bei einem dreijährigen Beteiligungsprozess eine neue Verfassung für das Land erarbeitet hat.

Erfolgreiche Ansätze

Aber selbst hier in Österreich finden sich erfolgreich umgesetzte Ansätze direkter Demokratie. Das Modell der Bürgerräte in Vorarlberg steht für ein wirkungsvolles Instrument zu mehr Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Im Konzeptionellen gibt es ebenso eine Vielzahl an durchdachten Vorschlägen, darunter das Grünbuch "Offene Gesetzgebung". Darin finden sich Antworten, wie politische Diskussionen auf eine breitere Basis gestellt werden können, um bessere Entscheidungen im Gesetzgebungsprozess zu erreichen.

Aber Vorsicht vor der Vereinfachung. Wer fordert, es brauche mehr Volksabstimmungen, verschreibt unserer Demokratie womöglich ein Placebo. Egal ob Plebiszit, Bürgerbeteiligung oder sonstige Prozesse, am Ende geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen gemeinsame Lösungen entstehen.

Im Vordergrund müssen Qualitätskriterien stehen, die nicht den Zwängen der medialen Verwertungslogik und dem politischen Profilierungsdrang zum Opfer fallen dürfen. Das Europäische Forum Alpbach versteht sich heute als Plattform, das einen Dialog und Wissensaustausch unter jenen initiiert, die im Alltag wenig Berührungspunkte miteinander haben. Partizipative Formate wie unsere Bürgermeistertreffen zur Flüchtlingsintegration oder das politische Innovationslabor "Re:think Austria" zeigen, dass es selbst in der Politik möglich ist, abseits ideologischer Scheuklappen konstruktiv Antworten zu finden.

Politischer Wille

Es braucht aber noch viel mehr Orte und Gelegenheiten, um die drängenden Fragen unserer Zeit auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern zu lösen. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern fußen auf einem politischen Willen. Was Bundeskanzler Kern und der designierte Bundespräsident Van der Bellen unter mehr Bürgerengagement und -beteiligung verstehen, wissen wir noch nicht. Ich wünsche mir eine deutliche Antwort und zügige Taten, denn es gilt zu verhindern, dass Beteiligung die nächste leere Worthülse wird, die noch weiter zur Entfremdung zwischen den Menschen und der Politik beiträgt. (Philippe Narval, 10.6.2016)