Unterstützer des Interimspräsidenten Jocelerme Privert bei der Demonstration für dessen Verbleib im Amt.

Foto: APA / AFP / Hector Retamal

Port-au-Prince – "Die Situation ist unter Kontrolle". Jetzt gelte es Ruhe und Ordnung zu bewahren und den staatlichen Institutionen zu vertrauen, sagte Haitis scheidender Übergangspräsident Jocelerme Privert in seiner mit Spannung erwarteten TV-Rede in der Nacht zum Donnerstag. Wenige Stunden später lief sein 120-tägiges Mandat aus. Einen Nachfolger gibt es nicht. Und selbst die Frage, ob Privert selbst nun doch noch im Amt oder ob das Land nun völlig führungslos ist, bleibt unbeantwortet.

Die internationale Gemeinschaft jedenfalls hat sich von Priverts TV-Rede nicht beruhigen lassen. Die Uno warnte am Donnerstagmorgen vor einem "gefährlichen Machtvakuum" im ärmsten Staat der nördlichen Hemisphäre. US-Außenminister John Kerry sprach von "einem Gebiet der Sorge".

Die Angst vor einem Abgleiten in weiteres Chaos konnten auch die Parlaments- und Senatsabgeordneten des Staates nicht zerstreuen, die eilig verkündeten, nun schnellstens eine gemeinsame Lösung zur Frage zu finden, wer im Staat die Zügel in der Hand habe. Denn genau an der Uneinigkeit der Parlamentarier– deren demokratische Legitimität selbst in Zweifel steht – liegt es, dass sich das Land nun schon seit Monaten in einer schweren institutionellen Krise befindet.

Völliges Chaos

Das vergangene Superwahljahr 2015, das den Staat eigentlich wieder auf stabile Beine stellen sollte, war zuvor im Fiasko geendet. An einer von Gewalt geprägten Parlamentswahl im Sommer hatten sich nur 18 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Ihr Votum spülte eine zersplitterte Gruppe von Abgeordneten ins Amt, von denen viele keinen politischen Parteien verpflichtet und die untereinander schwer zerstritten sind.

Noch schlechter verlief die Wahl eines neuen Präsidenten im Herbst, bei der ein Nachfolger für Amtsinhaber Michel Martelly gefunden werden sollte. Eine erste Wahlrunde brachte zwar die beiden Kandidaten Jovenel Moïse, einen Verbündeten Martellys, und Jude Célestin provisorisch in die für Dezember geplante Stichwahl. Weil aber gleich mehrere unterlegene Kandidaten den – teils glaubhaften – Vorwurf der Wahlfälschung erhoben, kam das für Dezember geplante entscheidende Votum nicht mehr zustande.

Doppeltes Mandatsende

Darüber, wie es weitergehen soll, wird seither gerätselt. Martelly selbst war nach Ablauf seines Mandats im Februar aus dem Amt ausgeschieden. Einen Nachfolger gab es auch für ihn nicht. Unter großen Mühen hatten sich das Parlament und der Senat dann auf Privert als Übergangspräsidenten geeinigt. Er sollte Wahlgänge im Frühjahr vorbereiten, doch auch diese kamen wegen des Streits um den Austragungsmodus nicht zustande.

Nun soll erst im Oktober – teils heißt es auch: im Frühjahr 2017 – neu gewählt werden. Wer das Land bis dahin lenkt, ist Gegenstand neuem Streit. Einige Parlamentarier sind der Ansicht, Privert sei trotz des Mandatsendes weiter im Amt. Andere sehen Premier Enex Jean-Charles an der Macht. Die meisten haben gar keine Antwort auf die Frage.

Dass es keine Einigung gibt, liegt teils an der zersplitterten Politiklandschaft, die eher um ihre Pfründe als um politische Programme kämpft – Moïse gilt als Gefolgsmann Martellys, Privert wird seinen Gegnern zugeordnet. Es liegt aber auch daran, dass die internationalen Vermittler nicht allen als glaubhaft erscheinen.

Die internationale Gemeinschaft im Zwielicht

Vor allem die USA gelten als Unterstützer Martellys und Moïses. Der mutmaßliche Wahlbetrug vom vergangenen Herbst hat nicht nur dem Image der beiden Politiker, sondern auch jenem der Vereinigten Staaten in Haiti zusätzlichen Schaden zugefügt. Auch die UN sind nicht überall angesehen. Zwar leisten Helfer aus zahlreichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen noch immer Wiederaufbauhilfe nach dem Erdbeben von 2010. Doch vielen Bewohner sind sie vor allem durch Skandale rund um sexuellen Missbrauch aufgefallen – und weil einige von ihnen Infektionskrankheiten eingeschleppt haben.

Überhaupt suchen die Folgen des verheerenden Erdbebens das Land noch immer heim. Vieles ist noch nicht wieder aufgebaut, die Wirtschaft stockt. Das politische Chaos tut nun ein Übriges, um neue und dringend nötige Investitionen zu verhindern. Der einzige Hoffnungsschimmer ist zugleich ein Zeichen der völligen Desillusionierung: Trotz der schweren Krise hat es bisher keine neuen schweren Proteste gegeben. (mesc, red, 16.6.2016)