Familie Reimer will Verwandte in einer weiter entfernten Kolonie besuchen.

Gregor Kuntscher

Sie lässt sich an einer Landstraße in Bolivien per Autostopp mitnehmen. Ein Kfz zu besitzen ist den Mennoniten verboten.

Gregor Kuntscher

Sie bewegen sich zu Fuß oder per Pferdekutsche fort.

Gregor Kuntscher

Gerhard Thiessen ist Prediger der Aussteigergemeinde Via Gracia. Jugendliche dürfen dort Fußball spielen.

Christa Minkin

Die Reifen versinken im roten, vom Regen aufgeweichten Lehm. Der Kleinbus kommt mit einem letzten Ächzen auf der unbefestigten Straße in Cabezas – einem Landkreis südöstlich der größten bolivianischen Stadt Santa Cruz de la Sierra – zum Stehen. Eine kleine Pferdekutsche überholt ihn mühelos. Die Frauen in der Kutsche tragen weite Röcke und Schürzen, die Männer Cowboyhüte und Latzhosen. Sie blicken geradeaus und schweigen.

Die strenggläubigen Anhänger der evangelischen Freikirche der Mennoniten kommunizieren ungern mit Menschen außerhalb ihrer Community. Und ohne Übersetzer fiele ihnen das in dem spanischsprachigen Land schwer. Denn sie sprechen Plautdietsch, eine Varietät des Plattdeutschen.

Kirche und Arbeit

Ihre Dörfer tragen Namen deutscher Orte wie Hamburg oder Buxtehude und sind zu Kolonien zusammengefasst. Besucher sind dort nicht willkommen. Mennoniten leben – ähnlich wie die Amish in den USA – ohne Elektrizität und nutzen weder Computer noch Telefon, Fernseher oder Radio. Sie lesen einzig in der Bibel. Literatur, Sport und Musik werden als weltlich angesehen und abgelehnt. Der Alltag der kinderreichen, patriarchalen Familien konzentriert sich auf Kirche und Arbeit.

"Vergnügen ist verboten", sagt Diedrich Hildebrandt. Motorisierte Fahrzeuge sind besonders verpönt: "Ein Auto zu kaufen ist schlimmer, als Alkohol zu trinken." Der 36-Jährige mit dem kurzen, schwarzen Haar und den hellen Augen schüttelt den Kopf: "Logisch sind die Gesetze nicht." Glühbirnen sind verboten, Taschenlampen aber erlaubt. Doch die Regeln würden selten hinterfragt – oder nicht eingehalten: "Wenn sie nicht Fußball spielen dürfen, gehen sie halt heimlich trinken", erzählt er über die Jugendlichen in den Kolonien. "Und dann schlagen sie sich gegenseitig die Nasen kaputt".

Soziale Ächtung

Hildebrandt wuchs als Mennonit auf. Als er 20 Jahre alt war, habe sein Vater festgestellt, dass in der Bibel weder von einem Alkoholverbot die Rede ist noch davon, dass die Mennoniten von Gott auserwählt seien, wie die Prediger lehren. Die Familie zog in die Stadt und wandte sich den Zeugen Jehovas zu. Hildebrandt ist heute mit einer Bolivianerin verheiratet.

Einfach sei der Ausstieg nicht. Das Problem sei, dass einem von Geburt an eingetrichtert werde, die Außenwelt abzulehnen: Andernfalls laufe man Gefahr, "Gottes Licht" zu verlieren, also nach dem Tod nicht in den Himmel aufzusteigen. Die Furcht davor sitze tief. Viele Mennoniten wählten deshalb – wenn sie sich mehr Freiheiten wünschen – einen Kompromiss: Sie lassen sich in anderen Kolonien nieder, wo die Prediger eine modernere Lebensweise erlauben und wo sie sich nicht "in der restlichen Welt" zurechtfinden müssen. Manche versuchen – auch weil sie Haus, Grundstück und Ländereien besitzen – in ihrer Kolonie zu bleiben. Doch diese will mit Aussteigern nichts zu tun haben. Sie werden sozial geächtet und können ihre Erzeugnisse nicht mehr verkaufen.

Ein Plus fürs Kutschenfahren

"Es gibt Familien, die es sich finanziell nicht leisten können auszusteigen", sagt Gerhard Thiessen. Geht es nach ihm, sollten mehr Menschen das strenge mennonitische Dasein hinter sich lassen. Der 64-jährige Prediger steht einer Aussteigergemeinde vor. Vor elf Jahren kam er als Missionar aus Mexiko nach Bolivien – im Auftrag des kanadischen Ablegers der Religionsgemeinschaft "Gemeinde Gottes". Er habe sich mehr Freiheiten gewünscht und deshalb den Mennoniten den Rücken gekehrt. "Selig wird man nicht durch Äußerlichkeiten, und der Sünde entsagt man nicht, indem man sich abschottet", sagt er. "Die Mennoniten glauben, dass sie von Gott ein Plus bekommen, wenn sie Pferdekutschen fahren."

Die Freikirche geht auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurück. Namensgeber war der niederländische Theologe Menno Simons. Aus Friesland und Westpreußen zogen die Mennoniten im 18. und 19. Jahrhundert nach Südrussland weiter. Während des kommunistischen Regimes und der Weltkriege flohen sie vor der politischen Verfolgung nach Kanada, Lateinamerika und Afrika.

Missbrauch nach Betäubung

Die Freikirche hat sich dem Prinzip der Gewaltfreiheit verpflichtet. Doch 2009 geriet sie wegen dutzender Vergewaltigungsfälle in die Schlagzeilen: Acht Männer der Kolonie Manitoba in Bolivien hatten monatelang Frauen mit einem Narkosemittel für Kühe betäubt und vergewaltigt. 2011 wurden die Täter zu jeweils 25 Jahren Haft verurteilt. Der Tierarzt, der das Betäubungsmittel geliefert hatte, fasste zwölf Jahre aus.

Als sich die ersten Familien in den 1950er-Jahren in Bolivien niederließen, trafen sie eine Übereinkunft mit der Regierung, die ihnen bis heute weitgehende Autonomie zusichert. Sie dürfen ihre Religion frei ausüben und müssen keinen Wehrdienst ableisten. Im Gegenzug brachten sie landwirtschaftliches Know-how mit und entwickelten sich zu wichtigen Milch-, Käse- und Sojaproduzenten. 1995 lebten etwa 30.000, 2011 rund 70.000 Mennoniten im Zehn-Millionen-Einwohner-Land.

Spanisch lernen verboten

Sie unterrichten in eigenen Schulen im Bibellesen und Rechnen. Der Staat duldet das System, wenngleich er die Ausbildung nicht anerkennt. Die Schule endet für Mädchen mit etwa zehn Jahren, für Buben mit zwölf. Das Erlernen der Landessprache ist in den Kolonien – zumindest offiziell – nicht erlaubt. Vor allem Männer beherrschen sie aber meist so weit, dass sie diese geschäftlich nutzen können – Frauen sind an den Haushalt gebunden. Kontakt zur Bevölkerung suchen die Mennoniten ansonsten nur, wenn sie Feldarbeiter anheuern oder eine Mitfahrgelegenheit brauchen.

NGOs und lokale Behörden bemühen sich seit einiger Zeit um Annäherung. Kürzlich startete in Cabezas, mit Erlaubnis der Prediger, ein Gesundheitsprogramm: In vier Kolonien betreuen Ärzte, Physiotherapeuten und Psychologen Schwangere, Kranke oder Behinderte. César Gutierrez, Psychologe bei der örtlichen Hilfsorganisation Cenaid, sieht Bedarf: Von Aussteigern wisse man etwa, dass Mennoniten, die unter Depressionen, Manien oder Schizophrenie leiden, als Gefahr betrachtet und festgebunden oder in Käfige gesperrt würden. Viele Mennoniten reagierten aber misstrauisch auf die Annäherungsbemühungen.

In der Vergangenheit zogen sie gerne auch weiter, wenn die Situation im Land nicht mehr zu ihrer Lebensweise passte; etwa als 1917 in Kanada verpflichtender Englischunterricht eingeführt wurde. (Christa Minkin aus Santa Cruz, 10.7.2016)