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Eine Frau bringt Blumen an jene Stelle, wo der Attentäter begonnen hat, in die Menschenmenge zu fahren. In Europa ist Frankreich das am meisten vom IS-Terror betroffene Land.

Foto: REUTERS/Pascal Rossignol

Die Grenzen des vom "Islamischen Staat" (IS) gehaltenen Territoriums in Syrien und Irak, wo er 2014 sein "Kalifat" proklamierte, schrumpfen: Aber als zumindest scheinbar amorphe Masse dringt die Terrororganisation dennoch weiter vor, in alle Richtungen. Jede Meldung, dass der IS entscheidend geschlagen sei – etwa wenn, wie vor ein paar Tagen geschehen, der Tod des wichtigen Militärkommandanten Abu Omar al-Shishani ("Der Tschetschene") endgültig bestätigt wird -, ist verfrüht und geradezu fahrlässig.

Wieder einmal steht man angesichts des Massenmordes von Nizza vor der Frage, ob irgendein noch so dünner organisatorischer Faden von der IS-Führung zum Täter führt oder ob dieser in die völlig unberechenbare und ergo nicht bekämpfbare Kategorie der "einsamen Wölfe" fällt. Diesmal ist die Beziehung des Attentäters zum Jihadismus überhaupt unklar. Daesh – wie das arabische Akronym für "Der Islamische Staat im Irak und in der Levante" lautet, das auch einen willkommenen abwertenden Ton hat – hat das Potenzial dieser "Kämpfer"-Gruppe früh erkannt, bei der oft persönliche Pathologien eine große Rolle spielen wie etwa beim Täter von Orlando im Juni.

Der "Kampf" zu Hause

Erstaunlich ist, dass der IS auch angesichts der militärischen Schwierigkeiten, in die er 2016 in Syrien und im Irak geriet, den Aufruf an seine Kämpfer in aller Welt nicht nur revidierte, sondern sogar verstärkte, zuletzt vor Beginn des Fastenmonats Ramadan: Kommt nicht ins Kern-"Kalifat", bleibt und "kämpft" in euren Ländern. Das betrifft nicht nur IS-Anhänger und potenzielle Terroristen in Europa, sondern auch in nahöstlichen Ländern, zum Beispiel in Saudi-Arabien.

Man kann daraus schließen, dass die fremden Jihadisten, die besonders im Falle des Westens oder Nordens aus gänzlich anderen Kulturen in den Nahen Osten kommen, für den IS gar nicht so leicht zu managen sind. Das Bild, das Daesh in seiner ausgefeilten Propaganda von seinem utopischen islamischen Gottesstaat entwirft, hat wohl wenig mit der Realität zu tun. Heimkehrer berichten auch von Frustrationen und Kulturschock. Der Nutzen eines Frankotunesiers, der vielleicht nur mehr wenige echte Verbindungen zur islamischen Welt hat, ist für die Organisation größer, wenn er bei sich zu Hause ein Attentat verübt.

Institutionen, die Daesh genau beobachten, zeichnen in der letzten Zeit ein erschreckendes Bild von der internationalen Ausbreitung der IS-Aktivitäten. Dazu gehören natürlich nicht nur die einsamen Attacken. Der IS geht gleichzeitig sehr strategisch vor. Es werden auch immer wieder Kämpfer vom Nahen Osten in den Westen in Bewegung gesetzt.

Dabei könnte in der Zukunft der Kaukasus eine besondere Rolle spielen. Das auf Geheimdienst- und Sicherheitsnachrichten spezialisierte Onlinemedium Debkafile schreibt, dass laut türkischen Angaben eine neue Route, die potenzielle Terroristen von Syrien nach Europa nehmen könnten, über Aserbaidschan, Georgien und Zypern führt.

Schlüsselland Syrien

Russland nimmt demnach diese Informationen besonders ernst und hat dem Gebiet seines Militärkommandanten für Syrien, Alexander Dwornikow, den südrussischen Militärdistrikt zugeschlagen. Für die Bekämpfung des IS – die für Russland in Syrien erst langsam zur Priorität wurde, zuerst galt es das Assad-Regime zu stabilisieren – ist das eine einzige Region. In Zentralasien und am Hindukusch hat der IS von Al- Kaida Anknüpfungspunkte geerbt und neue kreiert.

Auch die Türkei und Israel, beides Länder, deren Strategie den Jihadisten in Syrien gegenüber Ambiguitäten zeigte, reagieren auf die wachsende Gefahr: Ankara sogar mit einer ziemlich radikalen Änderung seiner Syrien-Politik; Assads Sturz ist nicht mehr das Wichtigste. Israel beobachtet die wachsende Präsenz des IS in Südsyrien – das heißt auf dem Golan -, die eine Folge der Schwächung in Nordsyrien ist, sehr genau.

Und die USA und Russland, an anderen Fronten im Konflikt, versuchen nun doch noch, zu einer "Koordination" ihrer Anti-Terror-Strategie in Syrien zu finden. Präsident Barack Obama will am Ende seiner Amtszeit sagen können, dass der IS unter ihm die letztlich entscheidenden Schläge bekommen hat. Aber bei der russisch-amerikanischen Syrien-Politik geht es natürlich um mehr als um den IS. Für eine politische Lösung in Syrien ist auch eine zumindest prinzipielle Einigung darüber nötig, was außer Al-Kaida und IS sonst noch unter terroristischen Jihadismus fällt.

In Europa ist Frankreich das am meisten betroffene Land, auch die Entwicklung in der Türkei, wo am 28. Juni mit dem Flughafen Istanbul sozusagen internationales Terrain getroffen wurde, ist dramatisch. Die jüngsten Massaker in Bagdad übersteigen numerisch alles Dagewesene. Ein neuer IS-Ort auf der Landkarte ist Dhaka in Bangladesch, aber auch für Saudi-Arabien wurde es ein blutiges Ramadan-Ende.

Expansionsgebiete

Das Institute for the Study of War verweist auf mit dem IS in Zusammenhang stehende Verhaftungen in Tunesien, Kuwait, Iran und Indien. Süd- und auch Südostasien gehören zum Expansionsgebiet, sagen Experten. Ende Juni haben sich mehrere philippinische Gruppen dem IS angeschlossen. Ein großer Komplex ist auch Nordafrika und überhaupt der gesamte schwarze Kontinent. In Libyen, wo sich der IS in der ehemaligen Gaddafi-Hochburg Sirte bereits territorial festgesetzt hatte, konnten militärische Erfolge erzielt werden. Aber weg ist Daesh deswegen noch lange nicht.

Im Westen und da eben besonders in Frankreich versucht der IS nicht weniger, als eine Art Bürgerkriegsstimmung herbeizubomben: Die Angst der Menschen soll so groß werden, dass die Politik gegen die Gruppe, die man als jene der potenziellen Attentäter definiert, pauschal vorgeht – was den Extremisten noch einmal mögliche Mörder zutreiben wird. (Gudrun Harrer, 16.7.2016)