Mahmud II.: Dem Sultan kam 1826 die Janitscharenrevolte ganz recht.

Foto: Public Domain / gemeinfrei

Ankara/Wien – Es gibt wohl kein Land, in dem historisches Wissen einfach vorausgesetzt werden kann und historische Anspielungen ohne weiteres verstanden werden, aber die Türken von heute haben in dieser Beziehung ein besonderes Handicap: Durch die radikalen Sprach- und Schriftreformen Kemal Atatürks nach dem Ende des Osmanischen Reiches – 1929 wurde ja die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzt – sind die meisten von den Originalquellen abgeschnitten.

Zudem hat die Türkei in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in Richtung Westen geschaut, und das Interesse für die osmanische Zeit, das sich manchmal auch als neoosmanischer Kitsch manifestiert, ist neueren Datums.

Aber Präsident Tayyip Erdoğan kennt seine Osmanen und ihre Geschichte natürlich sehr gut, er bedient sich ihrer immer wieder für seine Inszenierungen. Im ersten Moment nach dem Putsch ging sein Ausdruck "Gottes Geschenk" für diesen – als Gelegenheit, die Türkei nach seinem Willen aufzuräumen – fast unter. Einstweilen ist ja, wie man bei den Demonstrationen am Sonntag sah, auch schon Erdoğan selbst zum "Gottesgeschenk" erhoben.

Mehrere Parallelen

Erdoğan selbst wusste jedoch genau, welche Assoziationen der Begriff bei den historisch Kundigen auslösen würde: die Janitscharenrevolte im Juni 1826 – ein Putschversuch gegen Sultan Mahmud II. –, die nicht nur niedergeschlagen wurde, sondern in deren Gefolge die mächtigen elitären Janitscharen, ein Staat im Staate, ausradiert wurden. In die Geschichte ist der Aufstand als "glückliches (oder günstiges) Ereignis" (vaka-i hayriye) eingegangen. Und selbstverständlich wurde auch immer wieder darüber spekuliert, ob Mahmud den Aufstand nicht selbst angezettelt und die Janitscharen in die Falle gelockt hatte.

Noch eine Parallele zu heute gibt es: Auch der Sultan bediente sich im Juni 1826, wie Erdoğan in der Putschnacht, der Volksmobilisierung: Die Prophetenstandarte wurde auf die Straßen gebracht und in ganz Istanbul ausgerufen, dass alle Männer von Ehre sich unter diesem Banner zu versammeln hätten. Als die Massen tatsächlich zusammenströmten, soll es zu ersten Desertionen unter den Janitscharen gekommen sein. Mahmud II. wird heute von den neoosmanischen Romantikern als großer Reformer verehrt. Dass es das Osmanische Reich hundert Jahre nach dem "Glücklichen Ereignis" trotzdem nicht mehr gab, ist ein Detail am Rande.

Dass die Gülen-Bewegung für Erdoğan so etwas wie die neuen Janitscharen sind, ist so abwegig nicht. Auf alle Fälle waren sie eine Bedrohung seiner Macht, die man nun umso leichter eliminieren kann, als sie sich – wenn denn das offizielle Narrativ stimmt – so exponiert haben. (Gudrun Harrer, 9.8.2016)