Martin Pollack steckt nicht im Dickicht der eigenen Endlichkeit fest. Er habe nicht besonders viele Ängste, sagt er, steht dem Leben trotz Widrigkeiten mit Gelassenheit gegenüber.

Foto: Katsey

Martin Pollack: "Ich verstehe Ärzte, die sagen, dass das System am Zusammenbrechen ist. Das ist auch mein Eindruck. Sie pfeifen aus dem letzten Loch."

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STANDARD: In einem Radiointerview haben Sie erzählt, dass Sie Ihr Leben lang gesund waren. Wie ist es dann, plötzlich mit einer Diagnose wie Krebs konfrontiert zu sein?

Martin Pollack: Wenn man so etwas erfährt, ist das, salopp gesagt, betrüblich. Ich war tatsächlich das letzte Mal mit 18 Jahren wegen einer Blinddarmoperation im Spital. Und natürlich verändert die Krankheit mein Leben, weil ich mich plötzlich mit Arztbesuchen und Spitalsaufenthalten herumschlagen muss. Ich muss jetzt oft zu Untersuchungen antreten und war erst gestern wieder bei meinem Tumorspezialisten.

Auch am 24. Dezember musste ich ins Krankenhaus, weil etwas Gravierendes aufgetreten ist. Dennoch stehe ich dem Ganzen relativ gelassen gegenüber. Im September hatte ich die Diagnose: Metastasen und einen Tumor an der Lendenwirbelsäule. Ich muss schon sagen, dass das extrem schmerzhaft gewesen ist, ich bin nur knapp an einer Querschnittlähmung vorbeigeschrammt.

STANDARD: Wie reagiert Ihr engeres Umfeld auf Ihre Erkrankung?

Pollack: Da ich versuche, sehr normal mit allem umzugehen, tut das meine Frau auch. Trotzdem würde ich sagen, dass meine Frau fast die Betroffenere ist. Vielleicht auch, weil sie sich mehr mit Medizin beschäftigt als ich. Wir gehen immer zu zweit zu den Spezialisten. Das scheint verbreitet zu sein. Im Wartezimmer sitzen immer eine Menge Leute, und du denkst: Um Gottes willen, wird das wieder lange dauern! Aber die Frauen sind immer nur die Begleitpersonen, denn dort sitzen nur Prostatapatienten.

Es gibt bei uns auch keine Regelung, dass man mit mir jetzt vorsichtig umgehen muss. Ich selber gehe mit mir ja auch nicht sehr vorsichtig um. Ich kenne Menschen, die sagen, jetzt musst du dich schonen und dir nur Gutes tun etc. Das habe ich von Anfang an abgelehnt, weil ich beruflich weiter funktionieren wollte. Es geht ohnehin nicht immer. Das sage ich auch jedes Mal, wenn ich einen Auftrag annehme: Danke für die Einladung, aber ich bin Krebspatient, und es kann etwas dazwischenkommen.

STANDARD: Wie sind die Reaktionen aus Ihrem weiteren Umfeld?

Pollack: Ich habe gerade wieder auf einer Konferenz erlebt, dass Leute, mit denen ich oft zu tun hatte, mich nicht mehr erkennen. Ein guter Bekannter, der wusste, dass ich auch da sein würde, hat sich stets nach mir umgeschaut. Ich habe ihm gewunken, und plötzlich ist er draufgekommen, dass ich das bin. Der Bart ist weg, die Augenbrauen sind viel weniger geworden, und meine Haare sind erst kürzlich wieder ein bisschen nachgewachsen. Das alles verändert das Aussehen stark. Viele schauen jetzt durch mich hindurch, aber das ist oft gar nicht so unangenehm. Mittlerweile gibt es schon wieder Fotos von mir ohne Haare, also wird meine Tarnung bald auffliegen.

STANDARD: Sind Sie jetzt noch disziplinierter, als Sie in Ihrem Leben ohnehin waren?

Pollack: Ich gebe mir Mühe, nicht nachzulassen. Natürlich ist man arm. Die Nägel sind mir teilweise ausgefallen, ich habe Neuropathie in den Beinen, mir fällt alles Mögliche aus den Händen. Ich bin ja ein Mensch, der alles aufhebt, was auf der Erde liegt, hauptsächlich Geld natürlich. Ich habe schon eine beachtliche Sammlung an Münzen, die ich im Laufe der Zeit gefunden habe.

Jetzt habe ich oft ein Problem damit, kleine Münzen aufzuheben. Allerdings habe ich an mir selbst herausgefunden, wie der Affe das Werkzeug entdeckt hat. Ich nehme ein Blatt Papier, falte es und hebe damit dann die Münze an. Natürlich denke ich manchmal: Wie habe ich das verdient? Vieles ist mühsam, aber dem muss man nicht 24 Stunden am Tag nachgeben.

STANDARD: Sie wissen, wie das ist, zusammen mit Ihrer Frau vor einem Arzt zu sitzen: Da versucht ein Mediziner, Ihnen etwas zu erklären. Fühlen Sie sich in dieser Situation manchmal orientierungslos? Wie informiert man sich über die eigene Krankheit?

Pollack: Ich muss sagen: Ich bin sehr autoritätshörig. Ich habe den Eindruck, ich muss mich nicht besonders gut informieren, weil das hoffentlich mein Arzt für mich getan hat. Ich habe großes Vertrauen zu Ärzten und denke: Die werden es schon wissen. Meine Frau hingegen versucht sich zu informieren. Ich fühle mich aber gut von den Ärzten behandelt. Natürlich schlaucht es, wenn ich oft stundenlang warten muss.

Und ich habe auch immer wieder erlebt, dass Leute in solchen Situationen dann buchstäblich durchdrehen. Natürlich ist der Betroffene ein armes Schwein, aber das bin ich auch, auch ich könnte meine Nerven wegschmeißen. Ich bin der Meinung, dass man eine gewisse Haltung bewahren muss. Ich darf mich meiner Umgebung gegenüber nicht gehen lassen, nicht dem Krankenhauspersonal und auch nicht meiner Familie gegenüber. Also bitte normal weiterleben.

STANDARD: Können Sie als Patient alle Fragen stellen, die Sie stellen wollen?

Pollack: Ich habe das Gefühl, dass ich alle Fragen stellen könnte, aber ich stelle sie nicht. Ich sitze meist da wie ein stummer Gast. Wenn ich einmal allein bei einer Untersuchung war, fragt mich meine Frau: Hast du das und das gefragt? Ich muss leider sagen: Nein. Manchmal bekomme ich von ihr deswegen auch Fragen aufgeschrieben. Ich bin sicher nicht das, was man einen mündigen Patienten nennt. Ich bin eher der Depp.

STANDARD: Sie erleben Ärzte, den Spitalsalltag, das Management Ihrer Krankheit. Haben Sie Kritikpunkte am österreichischen Gesundheitssystem?

Pollack: Ich bemühe mich, vieles gelassen zu sehen. Aber ich verstehe mittlerweile Ärzte, die sagen, dass das System am Zusammenbrechen ist. Das ist auch mein Eindruck. Viele machen großartige Arbeit, aber sie pfeifen buchstäblich aus dem letzten Loch. Die Mittel sind zu gering, es gibt zu wenig Leute. Ich warte im Moment seit Wochen auf eine Untersuchung in so einem Superapparat. Jetzt könnte man sagen, dann sollte man halt einen zweiten kaufen, aber dafür fehlen die Mittel, obwohl auf der anderen Seite viel Geld sinnlos verpulvert wird.

STANDARD: Gibt es für Sie als unmündigen Patienten trotzdem gute und schlechte Ärzte?

Pollack: Sicher gibt es die, aber da maße ich mir kein Urteil an. Ich habe den Arzt gewechselt, allerdings nicht, weil ich den ersten für schlecht hielt. Ich muss zugeben, auch diese Entscheidung hat meine Frau getroffen. Prostatakrebs zählt ja zu den eher freundlichen Krebsarten, aber eben nicht immer. Bei mir ist es ein aggressiver Krebs, der als unheilbar gilt. Ich muss mich darauf einstellen, dass ich mit diesem Kram ein Leben lang zu tun habe.

STANDARD: Haben Sie zu jedem Zeitpunkt offen über Ihre Krankheit geredet?

Pollack: Es war für mich von Anfang an normal, darüber zu reden. Ich bin in einem Alter, in dem die meisten schon in Pension sind. Ich könnte mich auch einfach zurückziehen. Aber wenn man berufstätig sein will und so wie ich viel reist, und dann auch Termine absagen muss, ist es notwendig, offen über seine Situation zu reden. Am Anfang war ich schon auch ein Trottel. Ich bin operiert worden und hatte im Jahr darauf eine Strahlenbehandlung – insgesamt 33-mal.

Zehn Tage nach der Strahlenbehandlung bin ich Bergsteigen gegangen mit einer Gruppe, die das schon lange ausgemacht hatte. Bei dieser Tour wäre ich fast eingegangen. Meine Bekannten haben sich gewundert, dass ich so langsam nachgehatscht bin. Dann hat einer gesagt: Du bist aber gar nicht gut beinander. Und ich habe noch gesagt: Ich weiß auch nicht, wieso. Dann ist mir eingefallen, dass ich kürzlich eine Strahlenbehandlung absolviert hatte. Eine Ärztin, die dabei war, hat zu mir gesagt: Du spinnst! Mittlerweile bin ich gescheiter geworden.

STANDARD: Wenn Sie nach wie vor so viel unterwegs sind, reisen Sie allein?

Pollack: Ja, die meiste Zeit. Ich war vor kurzem allein in Kanada, nur für sechs Tage, das war schon anstrengend.

STANDARD: Sie sind Journalist und Schriftsteller. Haben Sie nie daran gedacht, sich schreiberisch mit der Krankheit auseinanderzusetzen?

Pollack: Nein, das liegt mir vollkommen fern. Das ist für mich kein Thema. Obwohl es natürlich mein Thema ist. Leider.

STANDARD: Was empfinden Sie persönlich als die größte Zumutung am Kranksein?

Pollack: Am ehesten die Zeit, die mir abgezogen wird, die ich mit Untersuchungen und Wartezeiten verplempere. Aber das braucht es halt. Ich bin auch nicht so gestrickt, dass ich ständig sage: Warum ich? Ich war immer brav, und jetzt schlägt mich das Schicksal. Es wird schon irgendeinen Grund geben. Mir haben Leute versucht einzureden, das alles hänge auch mit meiner komplizierten Familiengeschichte zusammen, Stichwort: Psychosomatik. Ich persönlich glaube das nicht, aber ich habe mich damit auch nicht beschäftigt.

STANDARD: Es gibt mittlerweile ein breites Feld an alternativmedizinischen Überzeugungen, die Krankheiten auf seelische Probleme zurückführen.

Pollack: Ich weiß, auch dafür kann ich mich nicht begeistern. Da ist mir meine Zeit zu schade. Ich bin auch zu alt: Soll ich mich da in alles hineinlesen? Ich gehe auch nicht zum Psychiater oder Psychologen. Ich habe das in meiner Reha erlebt: Da war eine junge Frau, die mit mir psychologische Gespräche führen sollte. Das steht dort auf dem Programm. Sie wollte mit mir über meine Ängste reden.

Und ich konnte nur sagen: Da gibt’s nicht viel zu reden, weil ich nicht besonders viele Ängste habe. Das war unangenehm, weil wir mehrere 50-Minuten-Einheiten miteinander hatten. Zum Glück haben wir dann etwas gefunden, womit wir die Zeit totschlagen konnten. Sie hatte so ein Bioresonanzgerät, mit dem man messen konnte, ob ich mich gerade gut entspannen kann oder nicht. Sie war froh, weil wir etwas zu tun hatten, und ich war froh, weil sie mich in Ruhe gelassen hat mit den Ängsten.

STANDARD: Gibt es für Sie so etwas wie einen Krankheitsgewinn?

Pollack: Das glaube ich nicht. Vielleicht esse ich bewusster als vorher, das schon. Und ich mache Sport. So eine Chemotherapie kostet extrem viel Kraft, und diese Kraft muss man zurückgewinnen. Da steht aber keine große Philosophie dahinter. Ich gehe ins Fitnesscenter, und ich gehe wandern. Ich nehme meist nicht mehr den Aufzug, sondern die Treppen. Zehn Tage nach der Chemo hätte ich nicht mehr auf einen 3000er steigen können.

STANDARD: Sie sind ja berufsbedingt ein sehr beobachtender Mensch. Sie waren drei Wochen auf onkologischer Rehabilitation. Sind solche Institutionen Orte, an denen man wieder gesund werden kann?

Pollack: Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich war zum ersten Mal in so einer Kuranstalt. Da gibt es Profis, die das regelmäßig machen, zu denen zähle ich nicht. Ich war neugierig, wie das funktioniert, aber ich habe das alles als sehr angenehm empfunden. Das Essen war großartig, die Leute haben mich auch nicht über Gebühr sekkiert. Ich hätte natürlich gut ohne die Psychogespräche auskommen können. Im Ernst: Die Leute waren extrem freundlich, und ich habe versucht, möglichst kooperativ und artig zu sein. Ich habe auch den Eindruck, dass es mir was gebracht hat.

STANDARD: Dort waren Sie unter lauter anderen Krebspatienten?

Pollack: Ja, dort ist man unter sich. Ich war mit einer Dame am Tisch, die Musik und Tanz eingefordert hat. Mir persönlich sind die nicht abgegangen. Für meinen Bedarf wird dort etwas zu viel über Krankheit geredet. Ich hab ja, wie gesagt, kein Problem, darüber zu reden, aber wenig Bedürfnis, mich ständig darüber auszutauschen. Ich gehe auch in keine Selbsthilfe- oder Erfahrungsgruppen. Mir genügt mein eigener Krebs, und der interessiert mich schon nicht brennend. Ich habe eine gute Freundin, die auch Krebs hat, und natürlich reden wir über unsere Krankheit, aber weil wir befreundet sind. Ihr Mann war einer meiner besten Freunde. Er ist an Krebs gestorben.

STANDARD: Wird man durch so eine Krebserkrankung mehr auf die eigene Endlichkeit zurück geworfen?

Pollack: Das schon. Ich denke jetzt nicht übermäßig übers Sterben oder meinen eigenen Tod nach. Aber die Tatsache, dass ich nur knapp an einer Querschnittlähmung vorbeigeschrammt bin, bringt mich schon zum Denken. Für mein Haus im Burgenland, wo es steil bergauf geht, wäre das gar nicht gut gewesen. Da hätten wir uns etwas überlegen müssen.

STANDARD: Wenn Zeit ein Faktor wird: Was wollen Sie noch unbedingt machen in Ihrem Leben?

Pollack: Auf jeden Fall ein, zwei Bücher. Da denke ich schon: Ich hoffe, die Zeit reicht. Ich bemühe mich auch, Lesungen und andere Anfragen möglichst wegzuschieben, um mich wieder fürs Schreiben freizuschaufeln.

STANDARD: Wann werden Sie dazukommen?

Pollack: Hoffentlich im Spätsommer und Herbst. Ich bin in verschiedensten Bereichen tätig, und ich leide darunter, dass ich nicht Nein sagen kann. Aber manches bin ich meinem Engagement schuldig: siehe Polen, Ukraine etc. Und dann merke ich auch, dass die Konzentrationskraft nachlässt. Ich brauche heute für Sachen einfach länger. Ob das mit der Krankheit oder dem Alter zusammenhängt, ist egal.

STANDARD: Tendieren Sie zum Mittagsschlaf?

Pollack: Nein. Ein Mittagsschlaf ist für mich etwas Unmoralisches. Ich komme aus einer Familie, da war das bis zu einem gewissen Alter undenkbar. Das trage ich immer noch in mir. Meine Frau leidet darunter. Sie ist eine Anhängerin der Siesta und fragt oft: Legst du dich auch hin? Aber ich sage immer Nein. Dann ist das für sie auch nur halb so lustig.

STANDARD: Gibt es irgendetwas, das Sie sich wünschen?

Pollack: Nein, nichts Aufregendes. Ich bin mit dem, wie ich lebe und was ich erreicht habe und was mir jetzt begegnet, sehr zufrieden. Auch mit meiner Krankheit bin ich eigentlich zufrieden. Natürlich wäre es fein, wenn ich sie nicht hätte, aber andererseits hätte es auch schlimmer kommen können. Mein Freund ist gestorben, und ich bin nicht gestorben. Ich kann noch arbeiten. Natürlich gibt es Dinge, bei denen ich Abstriche machen muss. Aber es ist nicht so, dass mich alles in tiefe Depressionen stürzt. Ich bin eigentlich zufrieden. (Mia Eidlhuber, CURE, 16.10.2016)

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