Nathan Myhrvold (57) gehört laut Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Personen in den USA. Backen verändert die Struktur des Ausgangsmaterials komplett. Das fasziniert Nathan Myhrvold, früher Microsoft-Cheftechnologe und heute Koch.

Foto: Modernist Cuisine / Chris Hoover, Sara Mark

Nathan Myhrvold (56) war viele Jahre lang Microsofts Chief Technology Officer und Bill Gates' engster Mitarbeiter. Sein Chef bezeichnete ihn damals als den intelligentesten Menschen, der ihm je begegnet sei. Er hat unter anderem wissenschaftliche Arbeiten über Dinosaurier, Kometen und den Klimawandel veröffentlicht und eine Kochausbildung gemacht.

2011 brachte er nach mehreren Jahren der Forschung in einem eigenen Labor "Modernist Cuisine" heraus, das seither als Standardwerk für die naturwissenschaftlichen Gesetze hinter dem Kochen gilt. Im Frühjahr 2017 soll sein neues Buch, "Modernist Bread", erscheinen.

STANDARD: Ihr Buch wird 2500 Seiten haben, genauso viele wie "Modernist Cuisine". Das neue handelt aber nur vom Brot – gibt es darüber so viel zu sagen?

Nathan Myhrvold: Backen ist ein ziemlich magischer, technologischer und wissenschaftlicher Prozess. Das Endergebnis sieht komplett anders aus, schmeckt komplett anders und greift sich total anders an als das Ausgangsmaterial. Wir dachten anfangs auch, dass das Buch viel kürzer wird. Wir haben uns geirrt.

STANDARD: Sehr viele Menschen haben Bücher übers Backen geschrieben – was haben Sie anders gemacht?

Myhrvold: Sehr lange war Backen ein reines Handwerk, dann wurde es zunehmend industrialisiert. Es wurde sehr billig, Brot zu backen, und zumindest in der entwickelten westlichen Welt gibt es keine Hungersnöte mehr. Leider hat das auch dazu geführt, dass das allermeiste Brot miserabel wurde. In den 1970er-Jahren haben die Menschen dann versucht, qualitativ hochwertiges Brot zu machen. Aber "qualitativ hochwertig" hat damals geheißen: altmodisch. Und diese Einstellung ist geblieben. Wir sollen mit unseren Händen arbeiten statt mit einer Maschine, wir sollen mit Holz backen statt mit modernen Öfen. Lasst uns unser eigenes Getreide anbauen! Lasst uns das Rad der Zeit zurückdrehen und alles so primitiv wie möglich machen! Wir wollten daher zeigen: Wissenschaft und Technologie können eure Freunde beim Backen sein! Wir wollten die Ignoranz aus der Backstube verbannen.

STANDARD: Denken Sie, dass Wissenschaft und Technologie helfen können, die Lücke zu schließen zwischen handwerklichem, qualitativ hochwertigem Brot und industriell hergestelltem Brot?

Myhrvold: Wissenschaft und Technologie sind immer deine Freunde, ganz egal, wie und in welcher Größenordnung du Brot bäckst. Selbst, wenn du in deiner Küche einen einzigen Laib bäckst. Als wir Modernist Cuisine geschrieben haben, hat mich ein Journalist gefragt: "Warum haben Sie es für eine gute Idee gehalten, die Wissenschaft in die Küche zu bringen?" Und ich habe gesagt, guter Mann, die Wissenschaft war immer schon in der Küche. Alles unterliegt den Gesetzen der Natur, sogar die Küche. Die Frage ist daher eher: Sollten wir die Wissenschaftsignoranz in der Küche lassen? Wir haben herausgefunden, dass sehr viel Allgemeinwissen über das Backen schlicht falsch ist.

STANDARD: Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Myhrvold: Die meisten Menschen glauben, dass man den Teig kneten muss, um das Gluten in ihm zu entwickeln. Aber es gibt auch das sogenannte "No Knead Bread", und wir zeigen in unserem Buch, dass diese Methode etwa 100 Jahre alt ist. 2006 wurde sie in der New York Times vorgestellt, das hat damals für eine kleine Sensation gesorgt. Aber alle professionellen Bäcker haben gesagt: "Das ist einfach ein seltsames Spezialrezept für Heimbäcker, das das allgemeine Gesetz nicht ändert." Was für ein Unsinn! Das ändert alles! Es hat sich herausgestellt, dass sich genug Gluten ganz von allein bildet, wenn Mehl nass wird, und man nur ein bisschen wartet. Kneten ist nur eine Art, diesen Prozess zu beschleunigen.

Brot wurde "zum Staatsfeind Nummer eins".
Foto: getty images/istockphoto/debbismirnoff

STANDARD: Gab es etwas, dass Sie bei Ihrer Forschung für das Buch besonders überrascht hat?

Myhrvold: Wir hatten ein echtes Aha-Erlebnis mit Roggenmehl. Christoph Ströck (Bäckerei Ströck, Anm.) hat uns hier in unserem Labor besucht und versucht, mit unserem Roggenmehl zu backen. Er war extrem frustriert von dem Ergebnis. Ich fand es ziemlich gut, aber ich war damals naiv. Vor ein paar Monaten habe ich endlich ein wenig von seinem Mehl aus Österreich in unser Labor in die USA mitgenommen. Guter Gott, das Mehl hatte überhaupt nichts gemeinsam mit dem Mist, den wir hier bekommen. Jetzt wissen wir: In den USA gibt es kein gutes Roggenmehl, es kommt von Getreide, das für Tierfutter angebaut wird.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Blog, dass Brot "zum Staatsfeind Nummer eins" geworden ist – vor allem wegen "einer Vielzahl falscher Informationen". Können Sie das erklären?

Myhrvold: Brot hat unter drei Trends gelitten, die sich wissenschaftlich oder medizinisch fundiert geben, aber einfach falsch sind. Der erste ist der "Low Carb"-Trend, also die Idee, dass Menschen möglichst wenig Kohlehydrate essen sollten. Das hat zu einem starken Rückgang beim Brotkonsum geführt. Nun, eine Low-Carb-Diät mag einige Vorteile bringen, aber überhaupt kein Brot zu essen, ist nicht unbedingt die perfekte Lösung. Das zweite Problem ist, dass Weißbrot als schrecklich gebrandmarkt wurde, obwohl es das gar nicht ist. Es gibt keine Beweise dafür, dass Vollkornbrot tatsächlich besser für uns ist. Vollkornbrot kann ganz köstlich und wunderbar sein, aber zu sagen "Weißbrot ist böse, Vollkorn ist gut", ist absurd.

STANDARD: Es gibt keine Beweise dafür, dass Vollkornbrot besser für Menschen ist?

Myhrvold: Nein! Eine Sache, mit der wir uns in Modernist Cuisine beschäftigt haben und die wir in diesem Buch wieder aufgreifen werden, war: Die Idee, dass Ballaststoffe als Teil der Ernährung wichtig sind, ist fast kompletter Unsinn. Begonnen hat das als modische Theorie eines britischen Arztes – ohne eine einzige wissenschaftliche Studie dahinter. Seine ursprüngliche Idee war, dass du weniger wahrscheinlich Dickdarmkrebs bekommst, wenn du viele Ballaststoffe isst. Seither wurden zahlreiche große Studien gemacht, die gezeigt haben, dass das überhaupt keinen Unterschied macht.

STANDARD: Und Vollkornbrot hat auch nicht mehr Nährstoffe?

Myhrvold: Wenn Sie die Schale des Korns analysieren, werden Sie sehen, dass sie einige Vitamine enthält, vor allem B-Vitamine und einige Mineralien, die sie nicht im Rest des Korns finden. Es stimmt aber auch, dass Schale Ballaststoff ist, was bedeutet, dass Sie sie am Ende ausscheiden. Wenn die Schale aber im Abfluss landet, dann bringt das nichts. Zweitens: Ist man auf eine reine Brot-und-Wasser-Diät gesetzt, müsste man darauf achten, genug Vitamine vom Brot zu bekommen. Aber glücklicherweise essen wir fast alle noch etwas anderes. Der dritte Trend ist die Glutenfrei-Bewegung. Nun, es gibt Menschen, die an Zöliakie leiden. Das sind etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung, und wenn du diese Krankheit hast, dann solltest du wirklich kein Gluten essen. Es gibt aber Leute, die werden dir erzählen, Gluten ist schuld an Krebs, Herzkrankheiten, Geisteskrankheiten, und jede Menge anderer Dinge. Dafür gibt es überhaupt keine Beweise.

STANDARD: Warum glauben dann so viele Menschen auf einmal, ein Problem mit Gluten zu haben?

Myhrvold: Es ist ein gesellschaftlicher Trend und nicht etwas, das rationale Gründe hätte, genauso wie Musikgeschmack. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt deutlich, dass es schwer ist, jemandes Selbstbeobachtung zu nehmen und daraus tatsächlich richtige Schlüsse zu ziehen. (Tobias Müller, RONDO, 11.9.2016)

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