Aus geringsten Mitteln und unter widrigsten Bedingungen eine Art Kolonie aufgebaut: Im Hintergrund an der Wand türmen sich auf dem "Ameisenfriedhof" die Leichen derer, die der lebensfeindlichen Umwelt im Bunker zum Opfer gefallen sind.

Foto: Wojciech Stephan
Einige Meter unter der überwucherten Abdeckung dieses alten Bunkers befindet sich eine Ameisenkolonie, wie man sie noch nie gesehen hat.
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Warschau – "Lage, Lage, Lage" ist die oberste Devise auf dem Immobilienmarkt. Doch obwohl ihre Lage ungünstiger nicht sein könnte, gedeiht eine polnische Ameisenkolonie seit Jahren. Ihr Ort: ein aufgelassener sowjetischer Atomwaffenbunker in Templewo nahe der Grenze zu Deutschland. Unter welch bizarren Umständen das Ameisennest existiert, berichten Forscher der polnischen Akademie der Wissenschaften im "Journal of Hymenoptera Research".

Bei den Tieren in der unterirdischen Anlage handelt es sich um unfreiwillige Exilanten einer ganz normalen Kolonie von Kahlrückigen Waldameisen (Formica polyctena), die sich an der Erdoberfläche über einem Luftschacht gebildet hat. Dessen Abdeckung ist mittlerweile durchgerostet, und durch das Loch fallen immer wieder Ameisen in den Schacht, der sich darunter befindet.

Fortbestand ohne Fortpflanzung

Forscher entdeckten das Nest 2013 beim Studium von Fledermäusen, die in dem Bunker überwintern. Anders als diese können die Ameisen allerdings ihr 3 mal 1,2 Meter kleines Gefängnis nicht verlassen. Die Umweltbedingungen dort sind alles andere als freundlich: Die Temperatur im vollkommen dunklen Bunker steigt das ganze Jahr über nie über zehn Grad – für Insekten ist das ausgesprochen niedrig. Vor allem aber gibt es dort unten auch nicht annähernd genug Nahrung.

Normalerweise besiedeln Kahlrückige Waldameisen ihrem Namen entsprechend Wälder – gerne auch auf Inseln, wo sie genügend Nahrung finden. Ihr Nest im Atombunker verfügt über praktisch keinerlei Ressourcen.
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Entsprechend überrascht waren die Forscher, als sie 2015 den Bunker wieder aufsuchten und feststellten, dass das Nest – gebaut aus dem bisschen Erde, das ebenfalls in den Bunker gefallen war – immer noch Bestand hatte. Und auch die Kolonie gab es nicht nur immer noch, sie war sogar gewachsen: Knapp eine Million Arbeiterinnen umfasste sie bereits. Ein weiterer Besuch im Jahr 2016 erbrachte dasselbe Ergebnis.

Das alles kommt ohne Fortpflanzung zustande: Die Forscher fanden weder Königinnen noch Männchen, weder Larven noch Puppen. Sie schließen daraus, dass die Kolonie ausschließlich durch "Zuzug" aufrechterhalten bleibt: also durch Ameisen, die wie ihre Vorgänger in den Schacht gestürzt sind. Und obwohl die Lebenserwartung im Bunker aufgrund der milde ausgedrückt ungünstigen Umstände sehr gering ist, wird dies durch den anhaltenden Zustrom offenbar mehr als ausgeglichen.

Imitation of Life

Die Forscher um Wojciech Czechowski betonen, dass es sich genau genommen nicht um eine Kolonie handelt, da in ihr ja nicht der übliche Brutbetrieb stattfindet. Umso verblüffender ist der Umstand, dass die Arbeiterinnen alle anderen Funktionen einer Kolonie aufrechterhalten: Eine Beschädigung des Nests, die 2015 festgestellt worden war, war vor dem Besuch im folgenden Jahr wieder repariert worden. Die Arbeiterinnen imitieren gewissermaßen das normale Leben in einer Ameisenkolonie, soweit es ihnen eben noch möglich ist – ein laut den Forschern weltweit einzigartiger Fall. (jdo, 31.8.2016)