Klaus Taschwer
Der Fall Paul Kammerer

Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit
Hanser 2016
351 Seiten, 24,70 Euro

Das Buch erscheint am 26. September.

Es ist ein idyllischer Ort, an dem das kurze, aber turbulente Leben Paul Kammerers sein tragisches Ende findet. Am 22. September 1926 begibt sich der damals weltbekannte Biologe von Wien nach Puchberg am Schneeberg und quartiert sich im Hotel Rode, dem heutigen Schneeberghof ein. Am Morgen des nächsten Tages macht er sich zu einer Wanderung auf. Der Weg führt den Wissenschafter auf den Himberg, einen Hügel ganz in der Nähe.

Nach rund einer halben Stunde Wanderung zweigt rechts ein Weg ab, der ein paar Minuten später am Theresienfelsen endet. Von dort hat man einen prächtigen Blick hinüber auf den Schneeberg und hinunter auf Puchberg. Vor diesem Panorama jagt sich der 46-Jährige am Vormittag des 23. September eine Kugel in den Kopf.

Paul Kammerers letzte Aussicht: Blick vom Theresienfelsen auf den Schneeberg und den Ort Puchberg.
Foto: Klaus Taschwer

Der Gemeindearzt und die Gendarmerie, die Kammerers Leiche Stunden später bergen, finden einen Abschiedsbrief, in dem der Biologe die Verwertung seiner sterblichen Überreste in einem universitären Seziersaal empfiehlt. Bitterer Nachsatz: "Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an den lebendigen Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermissten."

Rätselhafte Tatmotive

Die Nachricht von Kammerers Tod verbreitet sich in Windeseile. Bereits am Freitagmorgen berichtet die "Neue Freie Presse" vom ebenso überraschenden wie rätselhaften Selbstmord. In der Abendausgabe ist er die große Aufmachergeschichte: Unter dem Titel "Das österreichische Elend" wird auf Seite Eins vermutet, dass Kammerer sich auch deshalb umgebracht habe, weil ihm an der Universität Wien der Professorentitel verweigert wurde.

Paul Kammerers Nachruffoto: Nach dem Suizid wird wochenlang über die Motive spekuliert, die zum Selbstmord führten.
Foto: Monistische Monatshefte

Eine Professur hat Kammerer stattdessen erst wenige Monate vor seinem Freitod in Moskau erhalten, wo er an der Kommunistischen Akademie forschen sollte. Alles war im Grunde arrangiert, doch der Biologe schickte nur seine Bibliothek vor nach Moskau vor – und folgte nie nach. In allen wichtigen Wiener Zeitungen wird deshalb tagelang in Dutzenden Artikeln über die Selbstmordmotive gerätselt.

Offensichtlich wollte Kammerer nicht weg aus jener Stadt, mit der er so eng verbunden war; womöglich kam noch eine unglückliche Affäre mit einer Künstlerin dazu (gemeint war Grete Wiesenthal, die damals berühmteste Ballerina Wiens). Auch die "New York Times", die Kammerer wenige Jahre vorher als "zweiten Darwin" gepriesen hat, bringt unmittelbar nach dem unerwarteten Selbstmord einen großen Nachruf.

Ein "Nature"-Bericht mit Folgen

Zwei Wochen später nimmt die internationale Diskussion um Kammerers Selbstmord dann aber erst richtig Fahrt auf – und beginnt sich zu drehen. Schuld daran ist Kammerers Abschiedsbrief an die Kommunistische Akademie, der in der "Prawda" abgedruckt wird und über Nachrichtenagenturen rasch internationale Verbreitung findet. Darin erwähnt der Biologe einen brisanten Artikel, der wenige Wochen zuvor in der Wissenschaftszeitschrift "Nature" erschienen und der breiten Öffentlichkeit vor dem Brief Kammerers Schreiben entgangen ist.

Verfasser dieses "Nature"-Texts ist der junge US-Zoologe Gladwyn Kingsley Noble, der Anfang 1926 extra nach Wien reiste, um jenes Präparat einer Geburtshelferkröte zu untersuchen, das als Kammerers Hauptbeweisstück für den experimentellen Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften galt. Der Wiener Biologe hatte die Kröten aufgrund besonderer Umweltbedingungen dazu gebracht, sogenannte Brunftschwielen auszubilden, um sich beim Kopulieren im Wasser an den Weibchen festzuhalten. Dieses neue Merkmal an den Händen der männlichen Kröten, das diese normalerweise nicht besitzen, hat sich laut Kammerer über mehrere Generationen bis zu dieser konservierten Kröte weitervererbt.

Foto der umstrittenen Krötenhand aus dem Jahr 1922. Vier Jahre später entdeckte Gladwyn Kingsley Noble darin Einspritzungen mit schwarzer Tusche.
Foto: American Museum of Natural History/Fotostudio Reiffenstein

Noble berichtet in "Nature", dass Tusche in die Kröte injiziert worden war, um dunkle Pigmentflecken zu simulieren und Brunftschwielen vorzutäuschen. Die Tragweite dieser Aussage erahnt man nur, wenn man weiß, dass allein in der damals schon wichtigen Wissenschaftszeitschrift von 1919 bis 1926 mehr als 30 Texte nur über dieses eine Krötenexemplar erschienen, das Kammerer zum weltweit führenden (und zugleich letzten) Vertreter der neolamarckistischen Lehre von der Vererbung erworbenen Eigenschaften machte.

Fälscher oder Opfer?

In seinem Abschiedsbrief an die Kommunistische Akademie bestätigt Kammerer die Angaben Nobles, beharrt zugleich darauf, an den Fälschungen seines Belegexemplars unbeteiligt zu sein. Er kann aber keinen Tatverdächtigen nennen: "Wer außer mir ein Interesse daran hatte, solche Fälschungen vorzunehmen, kann nur ganz entfernt vermutet werden; gewiss ist jedoch, dass so gut wie meine gesamte Lebensarbeit dadurch in Zweifel steht."

Obwohl Kammerer in diesem wie auch in allen anderen Abschiedsbriefen nichts mit der Manipulation zu tun haben will, wird sein Selbstmord in vielen Zeitungen nun plötzlich zum Schuldeingeständnis umgedeutet, und zwar nicht nur in Österreich: Sensationsgeschichten erscheinen rund um den Globus, von den USA bis Australien.

So berichtete die US-amerikanische Yellow Press über den Fall Kammerer.
Foto: Klaus Taschwer

In Deutschland nimmt sich unter anderem der rasende Reporter Egon Erwin Kisch des Falls an und macht Kammerer in einem verblüffend schlecht recherchierten Text für die Fälschung verantwortlich. Bei Karl Kraus in der "Fackel" kommt Kammerer in einem etwas verrätselten Text besser weg.

Ein Drama in sieben Akten

Der wohl größte bis heute ungelöste Wissenschaftsskandal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt aber nicht nur zeitgenössische Journalisten und Forscherkollegen, sondern auch noch einen viel mächtigeren Mann: Anatoli Lunatscharski, den sowjetischen Volkskommissar für Aufklärung. Lunatscharski, der seit 1919 unter Lenin für die Kultur- und Wissenschaftsagenden des größten Landes der Erde verantwortlich ist, findet Kammerers Selbstmord wichtig genug, um darüber keine zwei Monate danach ein siebenaktiges Drama zu vollenden.

Das Theaterstück wird zu einem Drehbuch umgearbeitet und in einer riesigen deutsch-sowjetischen Koproduktion 1928 unter dem Titel "Salamandra" in Deutschland mit einigen der damaligen Stummfilmstars verfilmt. Der fast 90-minütige Stummfilm stellt Kammerer als Opfer einer faschistischen Verschwörung dar, für die ein mörderischer Priester, ein skrupelloser Bankier und ein aalglatter Prinz verantwortlich sind. Das ziemlich komplexe Machwerk wird in Deutschland sofort verboten (auch darüber berichtet die "New York Times" ausführlich) – und kann eher wenig zur Klärung des Kriminalfalls beitragen.

Der deutsch-sowjetische Stummfilm "Salamandra" (1928) von und mit Anatoli Lunatscharski erklärt Kammerer zum Opfer einer katholisch-aristokratisch-faschistischen Verschwörung. (Für die deutsche Übersetzung der Zwischentitel siehe das PDF in der linken Spalte unter dem Buchcover.)
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Koestlers "Krötenküsser"

Seitdem haben sich Dutzende Biologen, Wissenschaftshistoriker und Journalisten am "Cold Case Kammerer" versucht. Lange ging man davon aus, dass der Wiener Biologe tatsächlich der Fälscher gewesen sein musste. Das änderte sich erst 1971, also 45 Jahre nach Kammerers Suizid. Damals erschien Arthur Koestlers Tatsachenthriller "The Case of the Midwife-Toad" (deutsch: "Der Krötenküsser"), der den Wiener Biologen recht glaubhaft entlastete, ohne freilich einen Tatverdächtigen oder ein konkretes Tatmotiv nennen zu können.

Während das Buch vom Feuilleton gefeiert wurde, vernichteten es die damaligen Evolutionsbiologen: Koestler trat nämlich so wie Kammerer für eine Art neolamarckistischer Erweiterung der sogenannten Synthetischen Evolutionstheorie ein, was damals völlig undenkbar war. Heute sieht die Sache freilich anders aus: Aufgrund der Entdeckung der epigenetischen Vererbung – also der Weitergabe von Eigenschaften, die nicht in den Genen fixiert sind – erscheinen die Behauptungen von Kammerer und Koestler in einem neuen Licht.

So erschien 2009 die viel beachtete Untersuchung eines chilenischen Entwicklungsbiologen, der zu zeigen versuchte, dass sich einige der von Kammerer beschriebenen Phänomene an seinen Geburtshelferkröten tatsächlich epigenetisch erklären lassen. Doch auch diese Studie blieb nicht ohne Widerspruch, der sowohl von biologischer wie auch wissenschaftshistorischer Seite kam – und Kammerer ist, wie sich an den Reaktionen zeigte, bis heute umstritten. Das liegt auch daran, dass es 45 Jahre nach dem "Krötenküsser" von Koestler keine heiße Spur im "Cold Case Kammerer" gibt, die zu jemandem anderen führt als Kammerer selbst.

Ein erster konkreter Tatverdächtiger nach 90 Jahren

Aber das könnte sich genau 90 Jahre nach dessen Selbstmord ändern. Dank neuer Archivfunde erscheint nun nämlich auch die Verhinderung von Kammerers Karriere an der Universität Wien in einem anderen, dramatischeren Licht: Allem Anschein nach spielten dabei geheime antisemitische und rechte Cliquen, die auf den ersten Blick mehr nach Fiktion als nach Fakten klingen, eine wichtige Rolle. Und neu entdeckte Schriftstücke in Archiven in New York und Edinburgh führen zu einem ersten konkreten Tatverdächtigen, der aus einem dieser antisemitischen Netzwerke stammt.

Diesen angesehenen Professor der Universität Wien hatte womöglich auch schon Kammerer "ganz entfernt" als Anstifter der Fälschung in Verdacht. Dessen verbrecherische Sabotage sollte, wenn die Vermutung stimmt, freilich nicht nicht nur den "Krötenküsser" diskreditieren, sondern noch einige andere Leute – und als Plan perfekt aufgehen. (Klaus Taschwer, 23.9.2016)