Selbst neun Jahre später dürften die Fakten sattsam bekannt sein: Am 2. November 2007 wird die 21-jährige Erasmusstudentin Meredith Kercher tot in ihrer Wohnung in der Via della Pergola 7 in Perugia aufgefunden. Kercher wurde vergewaltigt und brutal ermordet, die Polizei stößt auf ein Blutbad.

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Der Tat verdächtigt und verhaftet werden die 20-jährige Mitbewohnerin Amanda Knox und deren Freund Raffaela Sollecito. Was folgt, ist einer der aufsehenerregendsten Rechtsfälle des 21. Jahrhunderts, angeheizt vom sensationsgierigen Boulevard, der den Begriff "Schlüssellochjournalismus" mit Nachrichten über zum Teil erfundene intime Details auf eine neue Ebene brachte.

Neun Jahre, mehrere Verurteilungen und Freisprüche danach rollen die US-Filmemacher Rod Blackhurst und Brian McGinn in dem Netflix-Film "Amanda Knox" ab Freitag den Fall neu auf. Noch immer ist nicht restlos geklärt, wer Kercher ermordet hat. 16 Jahre lang sitzt dafür Rudy Guede im Gefängnis. Er beteuert nach wie vor seine Unschuld, die Polizei geht zumindest davon aus, dass er die Tat nicht allein begangen hat. Für den Staatsanwalt Giuliano Mignini ist Knox nach wie vor Hauptschuldige.

Blackhurst und McGinn steuern in der Causa keine Auflösung bei, wiewohl sie Knox als Justiz- und Medienopfer präsentieren. Sie wollen den Film "nicht als Whodunit" verstanden wissen, wie beide im Gruppeninterview mit dem STANDARD in London erklären: "Wir wollten keinen Film über die Frage machen, ob Amanda Knox schuldig ist, sondern über die Erfahrungen der Menschen, die beteiligt waren", sagt McGinn.

"Fast wie Sex"

Zu Wort kommen Knox, Sollecito, Mignini und Nick Pisa, Journalist der britischen Daily Mail, der den "Scoop" landete. Pisa spricht von einer "fantastischen Aufregung". Seine eigene Geschichte auf der Titelseite zu haben sei "fast wie Sex". Pisa trieb die Geschichte voran wie kein anderer, er verpasste Knox Namen wie "Foxy Knoxy", "Teufel mit dem Engelsgesicht", "Engel mit den Eisaugen", "Hexe", "Menschenfresserin", er zitierte aus dem Tagebuch der Angeklagten, erklärte sie für HIV-positiv.

Foto: Netflix

"Die Geschichte war die perfekte Kombination aus allem", sagt McGinn: "Da war diese alte, schöne Stadt mit einer römisch-katholischen Geschichte, dazu die jungen Leute, die aus fernen Ländern kamen. Jeder war besessen von der Idee des Sexualverbrechens. Die Schlagzeilen schrieben sich von selbst."

Blick in die Kamera

Alle Interviewten sprechen in dem 90-minütigen Film direkt in die Kamera: "Wir wollten, dass der Zuschauer so nahe wie möglich dabei ist", sagt McGinn, "als wäre es eine Unterhaltung mit den Interviewten." Knox appelliert ans Publikum: "Ihr sucht Antworten in meinen Augen statt in diesem Raum. Aber meine Augen sind keine Beweismittel." Knox und Sollecito versuchen heute ein normales Leben zu führen, sie als Journalistin in den USA, er verarbeitet Erfahrungen als Buchautor in Italien.

Foto: Netflix

Sowohl der Staatsanwalt Mignini als auch der Journalist Pisa entschuldigen sich am Ende wortreich selbst. "Wir alle fürchten uns, und Angst macht die Menschen verrückt", sagt Knox. McGinn: "Das Traurige: Es gibt am Ende keine Sieger." (Doris Priesching, 29.9.2016)