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Es herrscht Katastrophenstimmung in Südafrikas Rugby-Community – und weit darüber hinaus. Frust und Ärger bilden die emotionale Grundierung einer konfrontativen Gesamtlage. Ein Spiel nach dem anderen verliert die Nationalmannschaft, die berühmten Springboks – so genannt wegen des Wappentiers, einer Antilopengattung aus der Gruppe der Gazellenartigen. Auguren weissagen den unaufhaltsamen Abstieg des zweifachen Weltmeisters in die relative Bedeutungslosigkeit. Viele wollen die Ursache für das Schlamassel ausgemacht haben: eine Art Quotensystem, das den Anteil schwarzer Spieler im Team anheben soll.

Auftritt Fikile Mbalula. Im Frühjahr gab Südafrikas Sportminister bekannt, einer Reihe wichtiger Sportverbände ab sofort die Berechtigung zu entziehen, internationale Meisterschaften auszurichten oder sich auch nur um solche zu bewerben. Betroffen unter anderen: Leichtathletik, Cricket und eben Rugby, zentraler Bestandteil südafrikanischer Sportkultur. Grund für die hoheitliche Intervention des sichtlich missgelaunten Exekutivorgans: Die selbstgesteckten Transformationsziele wurden nicht erreicht.

Transformation ist das Schlüsselwort der südafrikanischen (Sport-)Politik. Es umschreibt das Streben nach Herstellung von Chancengleichheit für alle Bürger nach dem Ende der dunklen Ära der Apartheid im Jahr 1994. Die Beseitigung struktureller Benachteiligung, die eine egalitäre gesellschaftliche Partizipation farbiger Südafrikaner lange verunmöglicht hatte, sollte sich schließlich in deren Repräsentation auch in prestigeträchtigen Institutionen wiederspiegeln und in etwa dem Anteil an der Gesamtbevölkerung (90 Prozent) entsprechen. Erfolg oder Misserfolg der Neuordnung scheint gerade im Sport für jedermann einfach nachprüfbar zu sein. Greifen die entsprechenden Maßnahmen, müsste der Anteil schwarzer Spieler im Nationalteam, dem Premiumprodukt des Systems, steigen.

Allister Coetzee ist der zweite nichtweiße Cheftrainer in der 125-jährigen Geschichte der Springboks. Der 53-Jährige findet sich zu Beginn seiner Amtszeit in einer komplizierten Lage wieder.
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Doch gerade im Fall der Springboks ist das nicht im erwünschten Ausmaß der Fall. 25 Prozent nichtweiße Spieler hätte die südafrikanische Start-XV bis zur Weltmeisterschaft 2015 umfassen sollen, bis 2019 wird eine farbliche Gleichverteilung von 50:50 angestrebt. Rugby, das muss vorausgeschickt werden, war im Land am Kap lange Zeit der Sport der Weißen, während sich die schwarze Bevölkerung eher am Fußball erfreute. Mbalula jedenfalls sah sich genötigt, den Druck auf die Herren des Rugbyverbandes (SARU) zu erhöhen. Kritiker des als unstet und aalglatt geltenden Ministers hinterfragten jedoch sofort dessen Motivlage und vermuteten anstatt hehrer Absichten eher die schlechten Umfragewerte der Langzeit-Regierungspartei African National Congress (ANC) hinter seiner als populistisch gebrandmarkten Initiative.

Die Boks erfahren von großen Teilen der Bevölkerung Ablehnung.

An diesem Vorgang wird die Schattenseite dieses Bed-in von Sport und Politik deutlich: völlige Unübersichtlichkeit. Es ist kaum noch möglich, Handlungen der Akteure eindeutig dem einen oder anderen Bereich zuzuordnen. Weder der vor wenigen Monaten neubestellte Cheftrainer Allister Coetzee, ein Schwarzer, noch dessen Spieler können sich letztlich sicher sein, nur aufgrund ihrer Fähigkeiten dort zu sein, wo sie eben sind. Das kann verunsichern – und Verunsicherung ist etwas, das Spitzenathleten auf keinen Fall gebrauchen können. Ganz sicher jedoch wurde eine offene Flanke preisgegeben, die kaum gegen die Vorhaltung von Protektion verteidigt werden kann. Da nützt auch Coetzees Versicherung nichts, bei der Kaderzusammenstellung allein Leistung als Kriterium heranzuziehen, kann er doch selbst jederzeit als "Quotentrainer" desavouiert werden.

Dieser Spannungszustand ist Ausdruck der Infiltration des Sports durch eine systemfremde Logik. Die Frage, die sich stellt, ist, ob diese Grenzverletzung, die einer Aufgabe von Autonomie gleichkommt, aufgrund übergeordneter Ziele gerechtfertigt werden kann. Südafrikas Politik hat diese mit einem eindeutigen Ja beantwortet. Und auf lange Sicht liegen ja auch die Vorteile klar auf der Hand: Die Stärkung der Legitimität des Teams als Vertreter der gesamten Nation würde dessen Fanbasis deutlich vergrößern. Denn immer noch erfahren die Boks von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung Ablehnung. Für sie gilt die Mannschaft als Überbleibsel eines weißen Vorherrschaftsanspruchs, wohingegen etwa die neuseeländischen All Blacks, mit Abstand die beste Mannschaft des Planeten, mit ihren vielen farbigen Stars hohes Ansehen genießen. Impulse zur Inklusion schwarzer Südafrikaner hätten außerdem eine ungeheure Ausweitung des Spielerpools zur Folge.

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1995: Präsident Nelson Mandela, gewandet in ein Springbok-Leiberl, überreicht Kapitän Francois Pienaar nach dem Finalsieg über Neuseeland den WM-Pokal. Ein ikonischer Moment nationaler Versöhnung. Mehr als 20 Jahre danach sind viele enttäuscht. Immer noch reflektiere das Nationalteam die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung nicht in dem Maße, dass die Kritik zerstreut werden könnte, es sei nach wie vor eine Bastion weißer Privilegien.
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Die aktuell sportlich Verantwortlichen jedoch finden sich in einer unmöglichen Lage wieder. Druck kommt von allen Seiten. Während Coetzee (53) von einem Lager die Bevorzugung schwarzer Spieler vorgeworfen wird, unterstellte das andere seinem Vorgänger Heyneke Meyer, einem Weißen, deren Benachteiligung. Die Crux an der Sache: Auch ein gegenteiliges Verhalten würde unter den gegebenen Bedingungen nichts ändern, da sich sofort auch die Schusslinie um 180 Grad drehen würde. Die englische Sprache hat ein anschauliches Bild für eine solch ausweglose Position parat: Caught between a rock and a hard place.

Ruhiges Arbeiten ist nur schwer möglich, denn alle sind mittlerweile beschädigt: sei es der Totengräber im Ministerrang, der hilflose Trainer und seine unterqualifizierten Assistenten oder die unfähigen Spieler – so zumindest der vorherrschende Tenor bei den Besserwissern in den brodelnden sozialen Medien. Bringt das Nationalteam schlechte Leistungen, wird alles andere überlagert: Die Ansprüche sind hoch, Niederlagen für die stolzen Springboks keine Option. Dabei ist es genau das, was gerade viel zu oft passiert: Im Sommer musste sich Südafrika erstmals auf heimischem Boden einem tourenden irischen Team geschlagen geben, welches noch nicht einmal in stärkster Besetzung angetreten war.

Ruhiges Arbeiten ist schwer möglich, alle sind beschädigt.

Im kürzlich abgeschlossenen Rugby Championship, der jährlich von den Topteams der Südhemisphäre (neben Südafrika und Neuseeland nehmen Australien und Argentinien teil) ausgespielten Meisterschaft, ging die Malaise ungebrochen weiter. Die Boks verloren vier von sechs Matches, zwei weitere Negativa historischer Dimension waren zu verzeichnen. Die Boks verloren erstmals in Argentinien (24:26) und kassierten mit einem 15:57 gegen Neuseeland die höchste Heimniederlage aller Zeiten. Der Gesamtscore aus den beiden Vergleichen mit den All Blacks summierte sich auf 28:98. Der zwischenzeitliche Rückfall in der Weltrangliste auf den vierten Platz wird als unbegreifliche Blamage wahrgenommen. WM-Bronze, vor ziemlich genau einem Jahr als eigentlich unwürdiger Trostpreis angesehen, würde heute mit Handkuss entgegengenommen.

Viele sind des Streitens inzwischen überdrüssig und haben sich in die Kulissen zurückgezogen. Unzweifelhaft qualifiziertes Fachpersonal wie Ex-Teamchef Nick Mallett verdingt sich lieber im medialen Expertenpool, als noch selbst Verantwortung zu übernehmen. Nicht zuletzt deshalb dürfte sich das Headhunting der SARU für seinen Topjob so quälend lange hingezogen haben. Die Bestellung Coetzees, eines auf Klubebene durchaus erfolgreichen Übungsleiters, wurde schließlich derart spät finalisiert, dass wertvolle Vorbereitungszeit verloren ging. Talentierte weiße Spieler wiederum verdingen sich immer häufiger bei europäischen Vereinen, um den Unwägbarkeiten aus dem Weg zu gehen. Anstatt zu riskieren, dass nicht die angestrebte internationale Karriere, sondern ein Schicksal als Quotenopfer Realität wird, spekulieren sie mit einem Nationenwechsel. Schließlich ermöglicht das Regulativ des Internationalen Rugby-Verbandes bereits nach dreijährigem Aufenthalt in einem Land auch das Antreten für dessen Nationalauswahl.

Warum es nicht funktioniert

Doch warum das ganze Schlamassel? Müsste nach über 20 Jahren, die die Transformation nun bereits andauert, nicht längst eine ausreichende Zahl schwarzer Spitzenspieler zur Verfügung stehen, sodass die Notwendigkeit einer weiteren Quotierung nicht mehr besteht? Dass das offenbar immer noch nicht der Fall ist, dafür gibt es zwei Erklärungsstränge. Der eine verortet die Ursachen in erster Linie innerhalb der SARU, wo man das Wort Quote im Übrigen tunlichst vermeidet und vielmehr von wohlklingenderen "Zielvorgaben" spricht, denen man verpflichtet sei.

Der Vorwurf: Immer noch gingen viel zu viele schwarze Talente innerhalb des Systems auf dem Weg an die Spitze verloren. Eine Wortmeldung, die diese These stützt, kommt vom SARU-Präsidenten höchstpersönlich: "Tatsache ist, dass die Mehrheit der Rugby-Anhänger und -Spieler schwarz ist. 84 Prozent der U18 in diesem Land sind schwarze Afrikaner", so Jourie Roux bei einer Pressekonferenz in Kapstadt im Jahr 2015.

Doch im oberen Segment der Pyramide, so die Kritiker, würde man im Zweifelsfall weiter auf das Vertraute setzen – und das seien eben weiße Rugbyspieler. Farbigen Alternativen werde zwar hie und da Gelegenheit zur Bewährung gegeben, anhaltende Unterstützung fehle jedoch. Zu schnell seien diese Spieler nach einem nicht überzeugenden Auftritt wieder weg vom Fenster. Doch wie soll ohne zweite Chance Entwicklung möglich sein?

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In Slums wie dem Alexandra Township in Johannesburg wird das Leben von Hoffnungslosigkeit und Gewalt geprägt. Armut ist in Südafrika nach wie vor in erster Linie schwarz.
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Andere hingegen machen ein politisches Versagen des ANC verantwortlich. Das Problem sei keineswegs bewusste oder unbewusste Benachteiligung im sportlichen Getriebe, sondern eine weiterhin bestehende soziale Marginalisierung schwarzer Südafrikaner. Armut und Arbeitslosigkeit bestimmen den Alltag von Millionen, nur eine kleine Minderheit hat den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft. In ihren Wohngebieten, besonders auf dem flachen Land, ist der infrastrukturelle Zustand nach wie vor bejammernswert – der Sport ist davon nicht ausgenommen. Es gibt Korruptionsvorwürfe, die finanziellen Mittel kämen nicht dort an, wo sie gebraucht würden. Ohne Schulsport und ohne Spielfelder jedoch bleibt jede Nachwuchspflege Illusion, noch mehr die Entwicklung zukünftiger Springboks. Diese bleibt dem privaten Schulsektor vorbehalten, der auch qualitativ hochstehende sportliche Ausbildung bietet. Die für den Besuch solcher Institute fällig werdenden Gebühren kann sich jedoch nur das wohlhabende Bevölkerungssegment leisten.

In der Mitte von nirgendwo

Noch delikater wird die Lage durch die Erkenntnis, dass im südafrikanischen Rugby ein Modernisierungsschub überfällig ist. Zu lange hat man sich auf traditionelle Stärken verlassen: Die Springboks tendierten seit jeher dazu, ihre Gegner zu übermannen. Furchteinflößende Stürmerreihen mit ungeheurer Schubkraft erdrückten früher oder später (beinahe) jeden. Die Südafrikaner schwelgten im Scrum, waren stolz auf ihre Härte und scheuten keinen Kick, um ihre Vormärsche einzuleiten. Auf stilistische Eleganz wurde seit jeher gepfiffen. So waren die Boks eine gefürchtete Macht, so rivalisierten sie über Jahrzehnte mit den All Blacks um die Weltherrschaft, so gewannen sie 2007 ihren zweiten WM-Titel. Und so ging die Zeit über sie hinweg.

Denn es ist offensichtlich, dass diese Spielweise für ganz oben schon länger nicht mehr reicht. Im Vergleich zum dynamischen Laufspiel der All Blacks und ihren technisch, taktisch und physisch topausgebildeten Allroundern wirken die Auftritte der Südafrikaner eindimensional, ja, antiquiert. Teamchef Coetzee, bisher eher als konservativer Vertreter seines Fachs aufgefallen, muss also unter schwierigen Rahmenbedingungen auch noch eine grundlegende spielerisch-taktische Neuorientierung in Angriff nehmen. Und zwar mit einer neuen Generation von Spielern, denn viele Routiniers haben nach der WM ihre Karriere beendet. Dass es dabei ordentlich holpert, dürfte eigentlich nicht überraschen. "Es ist weder Fisch noch Fleisch, was die Mannschaft zeigt", erklärt Benjamin Loader dem STANDARD. Loader ist Südafrikaner, lebt seit Jahren in Wien und war in den 1990er-Jahren Pionier bei der RU Donau, mittlerweile das Aushängeschild in Österreichs Rugby.

Die Kluft zum Branchenführer und regierenden Champion Neuseeland war wohl noch nie so groß wie jetzt. Beim 13:41 im Rugby Championship in Christchurch waren die Südafrikaner ohne Chance.
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Das Neue funktioniert noch nicht bei den Boks, das Alte nicht mehr. Derzeitiger Standort: zwischen allen Stühlen. Im Gegensatz zu Neuseeland fehle es an einer einheitlichen Philosophie, so Loader weiter. Dort gebe es einheitliche Standards, auf die sich, vom Nachwuchsbereich angefangen, alle beziehen. Die Folge: Auf die höchste Ebene nachrückende Recken fügen sich nahtlos bei den All Blacks ein. In Südafrika jedoch koche jeder sein eigenes Süppchen. Das, so Loader, liege auch in der erbitterten Rivalität zwischen den Regionen und also auch den dort beheimateten Vereinen begründet.

Brendan Venter, Ex-Teamspieler und renommierter Coach, wies im südafrikanischen Fernsehen auf den bizarren Umstand hin, dass sich Coetzee seinen Betreuerstab nicht selber hatte zusammenstellen dürfen. Auch die mit wenig internationaler Erfahrung gesegneten Spartentrainer müssten ihre Lektionen auf höchstem Level erst lernen. Die Arbeit auf dieser Baustelle sei ein Prozess, sagte Venter. Es brauche Zeit und Kontinuität. Auch wenn sich viele das wünschen: Schnelle Lösungen wird es nicht geben. (Michael Robausch, 11.10.2016)