Das Kopftuch stehe "für Geschlechtertrennung und Tabuisierung der Sexualität", darum lehnt es Ahmad Mansour grundsätzlich ab. Aber wenigstens Kindergärten und Volksschulen sollten kopftuchfrei sein.

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Der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour kämpft gegen Radikalisierung und falsche Ehre.

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Ahmad Mansour wuchs in einem kleinen arabischen Dorf in Israel in einer nicht praktizierenden muslimischen Familie auf. In seiner Schulzeit geriet er unter den Einfluss eines radikalen Imams und wurde selbst beinahe Islamist. Aber nur beinahe, nicht zuletzt das Psychologie-Studium half ihm, religiösem Fundamentalismus und Islamismus zu entkommen.

In seinem Buch "Generation Allah" erklärt der Psychologe und Islamexperte, "warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen". Dazu gehöre auch, Probleme nicht zu verharmlosen oder zu leugnen, auch nicht unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen "Toleranz", sagt er im STANDARD-Interview. Muslimische Mädchen müssten selbstverständlich am Schwimmunterricht teilnehmen. Sexuelle Selbstbestimmung gelte als "Grundrecht in dieser Gesellschaft" für alle – "egal, ob das Mädchen oder der Junge Moslem, Christ oder Atheist ist". Das Kopftuch hält Mansour für ein "politisches Symbol", das für "Geschlechtertrennung und Tabuisierung der Sexualität" stehe. Die "frauenverachtende" Burka müsse "unbedingt verboten werden".

STANDARD: Ihr Buch heißt "Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015). Was zeichnet diese Generation Allah denn aus?

Ahmad Mansour: Generation Allah meint normale Jugendliche, die zu dieser Gesellschaft gehören, aber Werte und Ideologien in sich tragen, die sehr problematisch sind. Sie kommen oft aus patriarchalen Strukturen mit problematischen Geschlechterrollen. Sie verstehen Religion als heiliges Tabu, das man nicht kritisieren darf, und glauben an ein patriarchales Gottesbild, das mit Hölle und Bestrafung arbeitet. Das entsteht nicht von heute auf morgen, das sind Prozesse in der Peergroup und den sozialen Medien und leider auch Teile der Erziehung in manchen Familien. Das ist die Gruppe, aus der Islamisten ihre Anhänger fischen.

STANDARD: Mit welchen Maßnahmen kann man das verhindern?

Mansour: Auch wenn sie sich nicht Islamisten anschließen und mit Gewalt gegen diese Gesellschaft kämpfen, ist es gefährlich, wenn Jugendliche unauffällig leben, aber trotzdem ihren Schwestern nicht erlauben, selbstbestimmt zu leben, wenn sie antisemitische Einstellungen in sich tragen oder behaupten, "die Medien bekämpfen unsere Religion". Wir müssen diese Generation Allah für unsere Gesellschaft und die Demokratie gewinnen und aufhören, bestimmte Sachen zu verharmlosen, zu relativieren, kleinzuschreiben.

STANDARD: Was muss die Politik tun?

Mansour: Endlich Verantwortung übernehmen und Probleme benennen. Es ist immer noch nicht klar, ob wir von allen, unabhängig von Herkunft und Religion, einfach erwarten, dass sie ihre Töchter zum Schwimmunterricht schicken, dass sexuelle Selbstbestimmung ein Grundrecht in dieser Gesellschaft ist, egal, ob das Mädchen oder der Junge Muslim, Christ oder Atheist ist. Angesichts der vielen Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, wäre jetzt der Zeitpunkt, Werte klar zu kommunizieren. Ohne das sind die Probleme der Zukunft vorprogrammiert.

STANDARD: Sie stoßen sich an einer falschen Toleranz und sagen: "Wir müssen aufhören, bestimmten Bevölkerungsgruppen Rabatte zu geben." Was meinen Sie damit?

Mansour: Was mich total stört, ist der Kulturrelativismus derer, die glauben, dass sie die Strukturen der Kirche, des Rechtsextremismus, der AfD usw. zu Recht kritisieren und menschen- bzw. frauenfeindliche Inhalte thematisieren, aber wenn es um Muslime geht unter dem Motto "Toleranz" die Probleme tabuisieren. Das ist aber keine Toleranz, sondern eine Art von Rassismus. Wer in Kauf nimmt, dass ein muslimisches Mädchen in der Schule weniger lernt als ein nichtmuslimisches, weil es nicht schwimmen darf, ist ein Rassist, der mit der Zukunft dieses Mädchens spielt. Wer meint, die patriarchalen Strukturen in der muslimischen Community dürfen nicht angesprochen werden, weil das Muslime "verletzen" könnte, nimmt sie nicht ernst als gleichberechtigt. Das ist unter Linken leider weitverbreitet.

STANDARD: Wo zum Beispiel?

Mansour: Nehmen wir den Handschlag. Auf einmal kommen viele Artikel, die sagen, dass das ja gar nicht so schlimm ist. Diese Leute haben nicht verstanden, dass der Grund dahinter nicht Hygiene ist oder irgendeine kulturelle Begrüßungsnorm, sondern dass diese Menschen die Frau als Sexobjekt wahrnehmen und nicht als Mensch. Wenn wir das akzeptieren, dann entstehen Unsicherheiten auf beiden Seiten, die zu Polarisierung führen.

STANDARD: Welche Rolle spielen dabei die muslimischen Verbände?

Mansour: Wir haben in Europa ein weitverbreitetes Islamverständnis, vor allem unter den reaktionären Verbänden, die diese Inhalte auch vermitteln: die Tabuisierung von Sexualität, Angstpädagogik, die Religion als Tabu, Opfer- und Feindbilder, antisemitische Einstellungen. Das ist ein Religionsverständnis, auf dem die Radikalen ihre Ideologie aufbauen.

STANDARD: In einem Essay für die "taz" beschrieben Sie, welche Dilemmata Ihnen Lehrer und Sozialarbeiter schildern. "Sollen sie Rücksicht nehmen auf Traditionen? Respekt vor autoritären Vätern haben? Die Ehre von Mädchen – und deren Familien – achten, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen sollen?" Was antworten Sie ihnen?

Mansour: Mir wäre viel lieber, wenn ich diese Anfragen überhaupt nicht gestellt bekäme, weil die Politik endlich die Verantwortung übernehmen und klare Regeln kommunizieren würde, statt die Lehrer im Stich zu lassen. Ich hatte eine Lehrerin aus Österreich, die versuchte, das Thema Burka zu thematisieren. Sie war total hilflos, als die Jugendlichen anfingen, irgendwelche Aussagen zu machen, die sie nicht kannte. Sie sagten etwa, eine Burkadebatte sei ein Angriff auf den Islam. Dabei lehnen 99 Prozent der Muslime die Burka ab. Oder: In Europa werden die Frauen dafür bezahlt, dass sie nackt herumlaufen, und unsere Frauen werden bestraft, wenn sie sich verschleiern. Das ist die Rhetorik der Salafisten und Islamisten. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen ausgebildet werden, damit sie mit solchen Dingen umgehen können.

STANDARD: Der Historiker Heiko Heinisch forderte im Standard eine "kopftuchfreie Schule", um Mädchen, die gezwungen werden, zumindest eine Zeitlang diesen geschützten Freiraum zu ermöglichen. Wie ist Ihre Position dazu?

Mansour: Ich persönlich bin gegen das Kopftuch. Es ist ein politisches Symbol und steht für Geschlechtertrennung und Tabuisierung der Sexualität. Wenn ich aber die politische und gesellschaftliche Realität ansehe, dann stehe ich diesem Vorschlag sehr skeptisch gegenüber, weil er einfach nicht mehr machbar ist. Ich bin dafür, in kleinen Schritten anzufangen und zu sagen: Die Grundschule – bis zehn, elf Jahre – soll kopftuchfrei sein. Dann haben wir vielen Kindern geholfen. Wir haben in Deutschland und Österreich Mädchen mit sechs, sieben Jahren, die mit Kopftuch in den Kindergarten oder in die Schule kommen. Diese Kinder werden ihrer Kindheit beraubt, das ist kein Symbol von Religionsfreiheit. Ein Kind mit Kopftuch ist Missbrauch. Der nächste Schritt wäre, dass auch die Pädagogen frei von politischen und religiösen Symbolen sein sollten.

STANDARD: Was halten Sie von einem "Burkaverbot"?

Mansour: Die Burka ist kein religionsfreiheitliches Symbol, wie Kanzlerin Angela Merkel meint, und sie gehört nicht zur Vielfalt in der Gesellschaft. Sie ist nichts anderes als ein Unterdrückungsmechanismus Frauen gegenüber. Es ist eine Schande, dass die Burka auf europäischen Straßen geduldet wird. Sie muss unbedingt verboten werden, weil es genauso frauenverachtend ist, sie zu dulden.

STANDARD: Meinen Sie nur die Burka oder auch den Nikab, den Gesichtsschleier, der in den Straßen ja wesentlich öfter auftaucht, nicht nur bei Touristinnen?

Mansour: Für mich ist beides eine Unterdrückung der Frau. Wenn ich das Gegenüber nicht als Individuum wahrnehmen darf, wenn das Gesicht nicht zu sehen ist, darf das nicht toleriert werden.

STANDARD: Innermuslimische Kritiker wie Sie haben nicht nur Islamisten als Gegner. Sie kritisieren in dem "taz"-Essay auch ein "Netzwerk von deutschen Linksliberalen und Grünen", das eine Mehrheit der Muslime in Deutschland vor der Minderheit ihrer muslimischen Kritiker "beschützt", und sagen: "Wir sind nicht eure Kuscheltiere."

Mansour: Islam und Muslime sind Teil dieser Gesellschaft. Sie nur, weil sie Muslime sind, wie Kuscheltiere zu behandeln und zu meinen, sie könnten Kritik nicht aushalten, ist nichts anderes als Rassismus. Ich will, dass Muslime und Islam in Europa wie alle anderen gleichberechtigt angesehen werden – in ihren positiven und negativen Entwicklungen.

STANDARD: Sie sagen, wir brauchen eine "völlig neue, andere Integrationspolitik". Wo sehen Sie derzeit die größten Versäumnisse?

Mansour: Überall. (lacht) Die Frage ist erstmal: Wie definieren wir Integration? Was wollen wir von diesen Menschen? Wollen wir, dass sie herkommen, eine Wohnung bekommen, die Sprache lernen und Arbeit finden? Dann waren die 9/11-Attentäter in Deutschland sehr gut integriert. Ich verstehe unter Integration, dass die Menschen die Grundwerte dieser Gesellschaft teilen und im Alltag leben, dass aus ihnen Demokraten werden. Wir brauchen klare Regeln für die, die zu uns kommen. Das bedeutet, dass die Eltern nicht ihre Kinder am Freitag von der Schule befreien, weil sie zur Moschee gehen, dass Schwimmunterricht nicht zur Disposition steht, dass Eltern ihre 20-jährige Tochter nicht zwangsverheiraten dürfen. Das ist noch nicht angekommen. Wir brauchen eine Politik gegen Parallelgesellschaften und Ghettos, also eine andere Wohnpolitik sowie andere Schulen und neue Sozialarbeit, die diese Menschen wie in Kanada langfristig begleitet. Das ist eine Mammutaufgabe, und wenn Frau Merkel sagt, "wir schaffen das", dann will ich daran glauben, aber es fehlen mir die Konzepte dafür, um das alles zu schaffen. (Lisa Nimmervoll, 9.10.2016)