Wien – Auf die CD ist eine Uhr gedruckt. Die Zeiger stehen auf 4.18 Uhr. Eine gute Zeit zum Schlafen oder Heimkommen, eine Scheißzeit, um wachzuliegen und darüber nachzudenken, was alles schlecht läuft. Die Geschichten von sieben Personen aus einer Straße tragen das neue Werk von Kate Tempest. Das Album heißt Let Them Eat Chaos, die fiktiven Personen, die am Chaos würgen, heißen Alicia, Pete, Pius, Gemma, Esther, Bradley und Zoe.

Warum ist das Leben eigentlich so fucked up? Die Britin Kate Tempest gibt auf ihrem Album "Let Them Eat Chaos" Antworten. Kein Wunder, dass wir nachts wachliegen.
Foto: Fiction / Caroline / Universal Music

Figuren, wie sie in einer Großstadt wie London in vielen Vierteln zu finden sind. Sie haben Jobs, gute, schlechte oder keine, und strampeln sich am Leben ab. Ihre Träume erodieren an der Realität und liefern den Stoff, an dem sich um 4.18 Uhr gut verzweifeln lässt. Auch wenn man so schlecht gar nicht fährt, aber das Verlangen nach mehr und besser garantiert genug Unglück für einen Song.

Song bedeutet bei Kate Tempest eigentlich Track, die Musik ist eine Mischform aus Hip-Hop und Bassmusik, die vor zehn Jahren in Kellerclubs an den Fundamenten rüttelte: minimalistisch, düster. Dazu deklamiert Tempest ihre Texte. Im Idiom und der emotionalen Färbung steht sie in der Tradition von Anne Clark (Sleeper in Metropolis ...) oder Ursula Rucker. Auch Linton Kwesi Johnson, der gegen Margaret Thatcher das Schwert der Poesie wetzte, ist mit seiner Eleganz ein Vorläufer dieser Kunst.

Kate Tempest

Doch Tempest formuliert nicht die Zustände einer Minderheit, es geht um das Individuum in der globalisierten Welt, das sein Schicksal immer weniger selbst bestimmen kann. Die Straße, die Hood, ihre Figuren, sie sind nur Platzhalter. Es gilt: Pars pro Toto. Diese sieben Personen finden sich überall.

Beckett und Wu-Tang Clan

Schon für ihr 2014 erschienenes Debütalbum Everybody Down wurde sie für den Mercury Prize nominiert, nicht ohne die dämliche Zuschreibung, "Stimme einer Generation" zu sein, einstecken zu müssen. Das ist natürlich Unsinn. Dennoch besitzen ihre Texte eine Einfühlsamkeit, die für viele spricht und viele anspricht. Und vor Texten geht Tempest über. Abseits der Musik flutet sie damit Theaterstücke, Lyrikbände oder ihren heuer erschienenen Roman The Bricks that Built the Houses (Worauf du dich verlassen kannst).

Das ist nicht nichts für eine 30-Jährige. Es ist das Ergebnis einer Prägung, in der Bücher von James Joyce oder Samuel Beckett gleich wichtig waren wie Alben des Wu-Tang Clan oder von Nas, denen sie als Teenager lauschte, als sie in einem Plattenladen jobbte.

Beides schlägt sich in ihrer Musik nieder. Viele Tracks eröffnet sie mit gesprochenen Intros, die der Stimmung des Stücks den Weg bereiten. Der Einsatz der Musik verstärkt die Stimmung – und drückt sie oft. Dabei besitzen Tempests Tracks eine Eleganz, die unsere strapazierten Seelen durchaus umschmeichelt. Aber natürlich bieten Unzufriedenheit und Hader die größere Fallhöhe für ihre Storys.

Mit ihrem Produzenten Dan Carey hat sie sich seit ihrem Debüt zu einem kongenialen Gespann zusammengerauft. Er verliert sich nicht im Experimentellen, sondern arrangiert die Musik aus abgesicherten Versatzstücken aus dem Club oder Klassikern. Nicht selten sind auf Let Them Eat Chaos Patterns zu hören, die wie isolierte Schnipsel aus dem Kraftwerk-Katalog klingen, ohne deren strenges Narrativ zu verströmen, für das ist Tempest zuständig.

Ihr vorab veröffentlichtes Stück Europe Is Lost wurde vom Brexit längst bestätigt, auch der Rest ihrer Tracks ist nicht gerade dazu gedacht, den Himmel über London zu erhellen. Zwischen Flehen und resignativem Zorn suchen ihre Figuren Halt. Und man muss nicht zu einer gesellschaftlichen Randschicht gehören, um sich in dieser Suche wiederzufinden. Harter Stoff, guter Stoff. (Karl Fluch, 12.10.2016)