"Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind", schreibt Margarete Stokowski.

Foto: Rowohlt Verlag

Margarete Stokowsi
Untenrum frei

Rowohlt 2016
256 Seiten, 20,60 Euro

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"Es wird um Sex gehen und um Macht, aber auch um Angst, Scham und Gewohnheit, um Spaß und Tabus. Und natürlich auch um Liebe. Und um Arbeit und Arbeit aus Liebe": Das schreibt die Journalistin Margarete Stokowski im Vorwort ihres neuen Buches "Untenrum frei". Scharfsinnig und provokant spürt die Autorin den "kleinen schmutzigen Dingen" nach und der Frage, wie frei Frauen heute eigentlich sind. In einer individualisierten und vermeintlich emanzipierten westlichen Welt sei "die Sache mit der sexuellen Freiheit" in der Vorstellung vieler längst und vollends im letzten Jahrhundert geklärt worden. Der Verweis auf "strukturelle Probleme" erscheine oft als "antiquiert".

"Haben wir die Fesseln der Unterdrückung längst gesprengt, oder haben wir nur gelernt, in ihnen shoppen zu gehen?", steht dazu auf dem Einband. Anhand autobiografischer Erzählungen, philosophischer Streifzüge und popkultureller Exkurse führt Stokowski ihren LeserInnen vor Augen, wie sexuelle und politische Freiheit zusammenspielen – im Großen wie im Kleinen. Denn: "Wenn wir über Macht und Freiheit sprechen wollen, müssen wir erstens früh und zweitens im Kleinen anfangen."

Poesie des "Fuck You"

Stokowski beginnt mit der Erfahrung, als sie als Vierjährige einen Fahrradsturz hatte. Damals in Berlin-Neukölln in den 1990er-Jahren fiel sie mit den Händen in Glasscherben und rammte sich den Lenker ihres neuen Fahrrads zwischen die Beine. Die erste Wunde war offensichtlich und leicht zu benennen, aber für die zweite Verletzung fehlten ihr als Mädchen die Worte. "Wie soll ich sagen, dass ich mir an meiner ... Dings wehgetan habe? Dings. Wie heißt das? Mumu. Muschi. Unten. Untenrum. Aua. Soll man nicht drüber reden." Also sagt sie nichts. Denn es wäre ihr peinlich gewesen.

"Untenrum" ist aber eine ziemlich unpräzise Bezeichnung für weibliche Geschlechtsorgane. Das mangelnde Wissen über weibliche Sexualität nimmt Stokowski als Symptom einer Gesellschaft, in der weibliche Genitalien als "Scham" bezeichnet werden und über Sex immer noch "in komischen Schuld-und-Fleck-Metaphern" gesprochen wird. Nicht nur vierjährigen Mädchen fehle das Vokabular, auch erwachsene Frauen und Männer können oft den Unterschied zwischen Vulva und Vagina nicht benennen. Dieses Defizit ist nicht nur in der deutschen Sprache zu suchen. Eine jüngst durchgeführte Umfrage, lanciert durch das "Vagina Dispatches"-Videoprojekt der "Guardian"-Journalistinnen Mae Ryan und Mona Chalabi, zeigt, dass auch Jugendliche in Großbritannien nicht wissen, wo Vagina und Vulva zu verorten sind.

Margarete Stokowski verdichtet ihre feministische Gesellschaftskritik, schildert persönliche Erlebnisse und Beobachtungen, schreibt über Rollenbilder und sexuelle Übergriffe, Gender Studies und Queer Theory, Riot Grrrls und Punk, Anarchismus und Feminismus. Sie zitiert Michel Foucault, Mascha Kaléko, Simone de Beauvoir, Männer- und Frauenzeitschriften, Dr. Sommer, Theodor W. Adorno, Laurie Penny und Arielle, die Meerjungfrau – und entwickelt derart eine schwungvolle wie wunderbare "Poesie des 'Fuck You'", der sie auch ein eigenes Kapitel im Buch widmet.

Sex, Feminismus und Humor

Seit 2009 schreibt Stokowski als freie Autorin unter anderem für die "taz", die "Zeit" und das "Missy Magazine". Seit 2015 erscheint ihre Kolumne "Oben und unten" wöchentlich bei "Spiegel Online". Mit spitzer Feder analysiert und kommentiert sie Gesellschaftspolitisches aus feministischer Perspektive. Ja, der Begriff "Feminismus" schrecke viele Leute ab, sagt sie. Vielleicht aus Angst vor Etiketten und Ideologien. Oder vor kastrationslüsternen Hexen, die rachsüchtig nur auf Vorstandsposten gieren würden. Doch Feminismus bedeutet für Stokowski, dass "alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen" – egal ob sie mit rotlackierten Fingernägeln, Minirock oder Kopftuch daherkommen.

Deshalb ist Feminismus auch kein Projekt, das sich mit einer cleveren Marketingstrategie attraktiver machen ließe, denn es gehe um "fundamentale Gerechtigkeit". Allerhand also und sicher nichts, was "lässig nebenbei geschluckt" werden könne. Ihr Buch versteht Stokowski nicht als Manifest, sondern vielmehr als Anfang denn als Ende einer Diskussion. (Christine Tragler, 22.10.2016)