Den Autokraten des Theaters ein unangenehmer, weil unbeugsamer Widerpart: Ignaz Kirchner.

Foto: Reinhard Maximilian Werner

Wien – Unerschrockenheit wird man dem Charakterschauspieler Ignaz Kirchner schwerlich absprechen können. Als es den jungen, damals korpulenten und gehemmten Mann Anfang der 1970er-Jahre an das Bonner Schauspiel verschlug, sollte er Handkes Kaspar spielen. In Kaspar wird ein Mensch unter Zuhilfenahme der Sprache manipuliert. Um die Drastik des Vorgangs besonders herauszustreichen, begann Kirchner, auf offener Bühne Glas zu verspeisen.

Kirchners autobiografisches Buch Immer an der Grenze der Verrücktheit steckt voller solcher Merkwürdigkeiten. Heute mag man sich den kahlköpfigen Rheinländer, der im Sommer 70 Jahre alt geworden ist, nicht wegdenken aus dem Burgtheaterensemble. Vor 40, 50 Jahren begegnete man ihm auf und hinter der Bühne als rat- wie rastlos Suchendem. Im Zweifelsfall lief Kirchner lieber querfeldein, anstatt irgendwelche Sicherheiten anzustreben. Die Sache mit dem Glasessen hatte er sich, wie so viele andere Einsichten, von einem Buch abgespickt.

Der nachmalige Verleger Ernst Rowohlt war ein Nobody, als er seine Berliner Lieblingsdichter mit dem Verzehr von Schankgläsern nachhaltig beeindruckte. Der Trick, erzählt Kirchner angemessen trocken, bestehe in der Sorgfalt des Backenmahlens.

Kirchner gehört zu den Darstellungsartisten, die sich auf Messers Schneide am Wohlsten fühlen. Es macht den nicht geringsten Vorzug dieser autobiografischen Aufzeichnungen aus, dass Kirchner seiner Stenografin Haide Tenner im Grunde lauter Ungeheuerlichkeiten mitteilt. Nur wirken sie unaufgeregt. Man sieht Kirchner förmlich vor sich: reptilisch geduckt, die Suada unendlich wohltönend hervorpressend, ehe ein zähnefletschendes Lächeln seine Bemühungen krönt.

Belesener Gegenspieler

Nichts im Bühnenleben dieses Giganten verstand sich jemals von selbst. Aus einem jüdischen Elternhaus stammend, führte ihn sein Lehrpfad über den Umweg einer Jesuitenschule an eine Lehreinrichtung für Schauspieler.

Unter den ersten Kollegen bei den Andernacher Burgspielen 1962 befand sich Jürgen Wilke, der dem stämmigen Jüngling riet, sich anständige Beinkleider schneidern zu lassen. Frauen würden jugendlichen Bühnenhelden immer auf den Hosenladen starren. Kirchner winkte instinktiv ab: "Ich spiele keine jugendlichen Liebhaber!" Dieser Devise blieb er auffällig treu.

Immer an der Grenze der Verrücktheit: Kirchner hat aus seinen – von ihm keinesfalls verleugneten – Gefährdungen das Material für seine Figurenerfindungen geschöpft. Er hat aus der Verschämtheit seines Typus eine wirkungsvolle Charaktermaske gemacht: die des "Knechts", der dem scheinbar übermächtigen Gegenüber, dem "Herrn", weitreichende Zugeständnisse abringt.

Aus der Subversion dieser Paarbeziehung entstanden Sternstunden nicht nur der Burgtheatergeschichte. Kirchner bildete mit Gert Voss ein Duo, das brillant zwischen Übermut und Menschenelend zu changieren verstand. Den wirklichen Autokraten auf dem Theater, den Regisseuren, war und ist Kirchner hingegen ein unbeugsamer Widerpart. Der obendrein weitaus belesener ist als (fast) alle anderen.

Als Peter Zadek den jungen Kirchner einmal in Berlin als Koch besetzen wollte, teilte ihm der geniale Inszenierungskünstler und Menschenschinder mit, er, Kirchner, brauche nicht viel zu machen: "Du brauchst nur dick zu sein!" Am selben Abend erhitzte Kirchner einen Topf Wasser. Er beabsichtigte, sich den Arm zu verbrühen, nur um aus der Vertragsverpflichtung herauszukommen.

Kirchner verzichtete im letzten Moment doch noch auf den Akt der Selbstbeschädigung. Zadek wurde zu einem seiner – neben George Tabori – wichtigsten Regisseure. Als ihn Zadek auf der Probe wieder einmal provozierte, meinte Kirchner: "Ich bin so froh, dass du Regisseur bist!" – "Wieso denn?" – "Wenn du Psychiater wärst, würde ich jeden Tag einen Elektroschock bekommen."

Zadek zeigte sich beeindruckt. Ein Kirchner steht auch ohne elektrische Energiezufuhr unter Dauerstrom. (Ronald Pohl, 27.10.2016)