Petra Wiegers
Nur die Liebe fehlt

Von Depression nach der Geburt und Müttern, die ihr Glück erst finden mussten
Patmos-Verlag 2016
176 Seiten, 17,50 Euro

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Viele Frauen würden heute am Bild "Übermensch Mutter" zerbrechen, schreibt die Journalistin Petra Wiegers in ihrem neuen Buch.

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Eigentlich müsste sie doch der glücklichste Mensch auf Erden sein. Jetzt, wo ihr Baby auf der Welt ist. Doch statt Glück und Liebe fühlt Sarah nach der Geburt nur Trauer und Verzweiflung, das Neugeborene ist ihr ein fremdes Wesen. Sie hat Angst, jemand könnte bemerken, dass sie nichts empfindet für dieses Baby. Sarah fällt in ein tiefes emotionales Loch und fühlt sich mutterseelenallein. Diagnose: postpartale Depression.

Die Angst vor der Angst

Scham, Angst, Aggressionen, Schuldgefühle. Die Journalistin und Moderatorin Petra Wiegers beschreibt in ihrem neuen Buch "Nur die Liebe fehlt", warum so wenige Frauen bei einer Depression nach der Geburt professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Noch schlimmer: sich nicht einmal ihren Liebsten anvertrauen können. Zu groß ist die Angst zu scheitern. Überbordend sind auch die Schuldgefühle dem Kind gegenüber. Eine Mutter, die ihr Baby nicht liebt? Das kann und darf es nicht geben.

Dabei betrifft die postpartale Depression fast jede sechste Frau, so die Zahlen des Wiener Programms für Frauengesundheit. Sie ist eine schwerwiegende, länger andauernde depressive Erkrankungen, die im ersten Jahr nach einer Geburt auftreten kann. Vor allem ist sie eine Erkrankung, die behandelt werden sollte. Und sie unterscheidet sich grundlegend vom sogenannten Baby-Blues, der von emotionaler Instabilität mit heftigen, aber rasch wieder vorbeiziehenden Gefühlsschwankungen gekennzeichnet ist.

Bild vom "Übermensch Mutter"

"Das Idealbild der sich aufopfernden, überglücklichen, selbstlosen Mutter, die vor Freude schier zerplatzt, wird heute gepaart mit den Ansprüchen der modernen Welt und der Selbstoptimierung", schreibt Wiegers im Vorwort. An diesem Ideal des "Übermenschen Mutter" würden heute viele Frauen zerbrechen. Anhand der Geschichten von vier Frauen zeigt die Autorin, wie unterschiedlich der Verlauf der Krankheit und ihrer Heilung sein kann. Höchst unterschiedlich sind auch die Lebensentwürfe und Hintergründe der Frauen.

Wiegers erzählt die Geschichte von Sarah, die auf der Suche nach dem Traummann von Party zu Party zieht und später unter der Verantwortung zusammenbricht. Oder von Mavi, der Vorzeigemama, der scheinbar alles leicht von der Hand geht und die beim dritten Kind in eine tiefe Krise schlittert. Das Hochglanzleben von Isabel, ihren Ansprüchen auf Perfektion, Leistung und Lifestyle sowie das Bereuen ihrer Mutterschaft werden genauso besprochen wie die Mehrfachbelastung und die Eheprobleme von Charlotte. Wiegers geht den Ursachen der Depression der Frauen auf den Grund und ordnet sie in einen gesellschaftlichen Rahmen. Dazu zieht sie die Expertise der Psychiaterin Susanne Simen heran, die die Fallgeschichten in einen therapeutischen Kontext stellt.

Es kann jede Frau treffen

Trifft es eher jüngere oder ältere, gebildete oder ungebildete Frauen, solche, die in glücklichen oder unglücklichen Beziehungen leben? Die Antwort: Es kann alle Mütter treffen, die Geschichten in diesem Buch stehen exemplarisch für viele andere. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Petra Wiegers des Themas postpartale Depression annimmt: 2014 hat sie den Dokumentarfilm "Mein fremdes Kind – Wenn Müttern die Liebe fehlt" gedreht, der im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

Mit ihrem Buch will sie wachrütteln, mit dem Mythos der perfekten Mutter aufräumen und Frauen Mut machen, sich bei einer postpartalen Depression jemandem anzuvertrauen. Aber auch Frauen mit vermeintlich geringerem Leidensdruck sollen ermutigt werden, sich Unterstützung zu holen. Denn: Sie sind mit diesem Thema nicht allein. (Christine Tragler, 1.11.2016)