Zum 1.000. "Tatort": Alles über 46 Jahre Mord und Totschlag
Best of Böse, originelle Macken, Anspieltipps: DER STANDARD sammelte Zahlen, Daten, Fakten
Ansichtssache
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Birgit Baumann, Doris Priesching
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Der "Tatort" regt auf, unterhält, langweilt, polarisiert, er ist Kult und das letzte Lagerfeuer des deutschen Fernsehens. Wenn sich die TV-Nation am Sonntag um 20.15 Uhr zum "Gottesdienst" versammelt, teilt sich die Welt für 90 Minuten in Gut und Böse. Eine Würdigung inklusiver üppiger Datensammlung
Die anfänglichen Erwartungen waren bescheiden. Wie lange denn diese neue "Tatort"-Reihe geplant sei, wurde der damalige ARD-Koordinator für Fernsehspiele, Horst Jaedicke, 1970 bei der Präsentation des Ur-"Tatorts" gefragt. Seine Antwort: "Wir haben schon an zwei Jahre gedacht."
Es sind 46 Jahre, 1.000 Folgen und 2.280 Leichen geworden, ein Ende ist nicht abzusehen. Millionen von Zuseherinnen und Zusehern wuchsen mit dem "Tatort" auf, für sie gehört nicht nur die Mörderjagd zur immergleichen Zeit am Sonntagabend dazu, sondern auch der Ausflug in Welten, die ihnen mal näher, mal ferner sind.
Zwangsprostitution, Umweltbelastung, Fleischskandale, Drogenhandel, Cyberkriminalität, Neonazis, Schlepperunwesen – es gibt praktisch keinen gesellschaftlichen Missstand, den der Tatort ausgelassen hätte, schließlich hat sein öffentlich-rechtlicher Sender einen Bildungsauftrag. Das ist ganz im Sinne von "Tatort"-Erfinder Gunther Witte, der 1970 drei Kriterien festlegte: Regionalität, eine Hauptrolle für den Kommissar, und die Geschichte der BRD soll im Tatort widergespiegelt werden.
22 Ermittlerteams im Einsatz
Sie gelten bis heute. Aktuell ermitteln 22 Teams, so viele und so unterschiedliche wie noch nie. Manche Ermittler – Frank Thiel in Unterhosen, die einsame Lena Odenthal mit ihrer Katze – glaubt man besser zu kennen als den eigenen Nachbarn. Brisante Themen gehen auch nicht aus, gerade hat der Islam Hochkonjunktur.
Geändert haben sich natürlich die Zuseherzahlen. In den Siebzigerjahren, als es noch keine private TV-Konkurrenz und keine tausend Ablenkungen durch das Internet gab, erreichte der Tatort in Deutschland 20 Millionen Zuseher. Heute sind es um die zehn Millionen, mit Ausschlägen nach oben wie unten. In Österreich schalten im Schnitt um die 800.000 ein. Seit 2006 sind die Zuseherzahlen wieder gestiegen.
Public Viewing ist "in"
Soziologen erklären das damit, dass gemeinsames Fernsehen – mit der Familie, Freunden oder in einer der zahllosen "Tatort"-Kneipen – nach dem Ende der Fußball-WM 2006 in Deutschland populär wurde. "Tatort"-Public-Viewing ersetzte Fußball-Public-Viewing.
"Man kann den 'Tatort' auch als säkularisierten Gottesdienst sehen. Früher gingen die Leute in die Kirche, heute schauen sie 'Tatort' und bekommen erklärt, was richtig und was falsch ist", sagt Dennis Gräf, Medienwissenschafter an der Uni Passau, zum STANDARD. Und am Montag wird dann im Büro darüber diskutiert.
Gräf hat seine Promotion zum "Tatort" verfasst ("Ein populäres Medium als kultureller Speicher") und erklärt den Erfolg so: "Der 'Tatort' spricht die gesellschaftliche Mitte an. Es werden keine extremen Positionen vertreten, daher können viele Zuseher um 21.45 Uhr sagen, dass sie mit dem gezeigten Weltbild einverstanden sind." Nachsatz: "Anders würde es auch nicht gelingen, jeden Sonntag Millionen Menschen vor dem Fernseher zu versammeln."
Im Umkehrschluss muss und darf man – gerade zum Jubiläum – auch konstatieren, dass manche Folgen schlicht und einfach langweilig sind, weil die Kommissare ausgelatschten Pfaden folgen müssen und/oder die Handlung so vorhersehbar ist wie der Bruch von Boernes Brille, wenn Thiel drübertrampelt.
Apropos: Dafür fangen viele Ermittler selbst in schwachen Folgen mit ihren Persönlichkeiten noch einiges an Längen und Hängern ab. An schrägen, spannenden Typen mangelt es im Moment ja nicht. Und so wird es wohl noch länger bei vielen Fans heißen: am Sonntagabend von 20.15 bis 21.45 Uhr bitte keine Anrufe!
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