Für Verschwörungstheoretiker ein- und dieselbe Frau – an vier Unglücksorten. Doch tatsächlich handelt es sich um unterschiedliche Personen, die sich ähnlich sehen.

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Sie weint herzzerreißend, weil gerade ihre Angehörigen ermordet worden sind. Fotos der trauernden jungen Frau werden weltweit in Zeitungen abgedruckt. Doch die Frau soll laut Verschwörungstheoretikern nicht nur bei einem Anschlag, sondern immer wieder auftauchen: Sie sei nach der Massenermordung von Grundschülern im US-Ort Sandy Hook zu sehen, auch nach dem Bombenanschlag auf den Marathon in Boston, nach der Schießerei in einem Kinosaal in der US-Stadt Aurora – und schließlich auch nach den Terroranschlägen in Paris vor rund einem Jahr. Für viele Nutzer ist eindeutig: Es handelt sich bei ihr um einen sogenannten Crisis Actor, der von unbekannten Mächten nach Anschlägen engagiert wird.

Beauftragt, um "theatralisch zu weinen"

"Diese Dame wird anscheinend beauftragt, wenn es darum geht, besonders theatralisch zu weinen", hieß es auf einer Fotomontage, die auf Facebook die Runde machte. So scheint es sich um ein- und dieselbe Frau zu handeln, die bei allen vier Unglücksfällen auftaucht.

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Sie ist für viele User der schlagende Beweis dafür, dass "Krisenschauspieler" tatsächlich existieren. Diese Theorie ist eng mit dem Glauben an sogenannte False-Flag-Angriffe oder gefälschte Angriffe verbunden. Aus der Forschung ist allerdings bekannt, dass es recht einfach ist, Personen falsch zu identifizieren – dies gilt besonders, wenn Bildmaterial von schlechter Qualität dafür herangezogen wird.

Inszenierte Attacken?

Einige Menschen denken, dass Regierungen beispielsweise Terrorangriffe inszenieren, um ihre politische Agenda durchsetzen zu können, etwa mehr Überwachungsmaßnahmen. Ein Problem bei dieser Theorie sind jedoch trauernde Angehörige: Manche Menschen trauen ihrer Regierung nicht zu, tatsächlich eigene Bürger zu töten. Da passen Schauspieler, die Trauer inszenieren, um die Öffentlichkeit zu täuschen, gut ins Bild. Bei "False Flag"-Attacken, also wenn die Angriffe tatsächlich durchgeführt worden sein sollen und auch nach Ansicht der Verschwörungstheoretiker zu Opfern geführt haben, sollen die bezahlten Krisenschauspieler die "echten" Angehörigen übertönen und für Ablenkung sorgen.

Las Vegas

Auch nach dem Massenmord in Las Vegas von vergangenem Wochenende kursieren wieder zahlreiche Verschwörungstheorien zu "Krisenschauspielern". Der Faktenfinder der "Tagesschau" berichtet etwa von einem Youtube-Video, das Interviews mit Überlebenden "analysiert". Youtube hat diese Clips mittlerweile entfernt. Zuvor hatten diese hunderttausende Abrufe erreicht. Als weiterer "Beweis" werden zwei Interviews mit einem Augenzeugen betrachtet. Im ersten Interview ist dessen Oberkörper nackt, im zweiten trägt er einen Pullover. Die einfache Erklärung, dass jemand den Pullover gespendet hat, lassen Verschwörungstheoretiker nicht gelten.

Lächelnder trauernder Vater

Vor allem nach der Massenerschießung von Grundschülern in Sandy Hook florierten "Crisis Actor"-Theorien in sozialen Medien. Besonders schossen sich die Verschwörungstheoretiker auf Robbie Parker ein, den Vater eines ermordeten Kindes. Parker hielt nach dem Massaker eine bewegende Rede, vor der er allerdings lächelte und scherzte. Erst nachdem Parker mehrmals tief Luft geholt hatte, wirkte er gefasster. Für Anhänger der "Crisis Actor"-Theorie zeigen die Sekunden vor Parkers Rede, wie er sich "in seinen Charakter hineinversetzt" und in die Rolle eines trauernden Vaters schlüpft.

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Als Schauspieler "enttarnt"

Jim Fetzer, ein Wissenschafter im Feld der Neurowissenschaft und Philosophie, behauptete 2015, dass in der Grundschule Sandy Hook kein einziges Kind zu Tode gekommen war. Die Regierung habe das vermeintliche Attentat inszeniert, um strengere Waffengesetze durchsetzen zu können. Die University of Minnesota, bei der Fetzer lehrte, hatte sich schon zuvor von seiner "Privatmeinung" distanziert. Fetzer behauptete, dass der angesprochene Vater einer ermordeten Grundschülerin "tatsächlich" ein texanischer Schauspieler namens Samuel Travis Delaney sei. Dies musste er jedoch später zurückziehen, da Delaney sowohl ein Alibi vorlegen konnte als auch zeigte, dass er andere körperliche Eigenheiten als der Sandy-Hook-Angehörige hat.

Ähnlichkeit als Pseudobeweis

Tatsächlich stützen sich "Crisis Actors"-Verschwörungstheoretiker vor allem darauf, dass sich manche Angehörige verblüffend ähnlich schauen. Die Zweidimensionalität von TV-Geräten oder Fotos kann diesen Eindruck noch einmal verstärken. So ist es auch bei der angesprochenen jungen Frau, die sich in Sandy Hook, Boston, Aurora und Paris aufgehalten haben soll: Die Plattform Mimikama, die Fake-Nachrichten aufdeckt, hat genau offengelegt, dass es sich dabei um vier unterschiedliche Frauen handelt, die einfach eine ähnliche Gesichtsform und dieselbe Frisur haben.

Dass der Vater einer ermordeten Sandy-Hook-Schülerin vor seiner Rede zu lachen scheint, mag zwar auf manche Menschen befremdlich wirken, ist psychologisch aber durchaus erklärbar. Es ist bekannt, dass etwa Hektik ein häufig auftretendes Symptom von Schockzuständen ist. Da Robbie Parkers weiß, dass er vor einem Millionenpublikum auftritt, könnte er auch seine Trauer überspielen wollen, um seine Privatsphäre zu wahren.

Verschwörungstheorie als Schutzreaktion

Im Grunde sind derartige Verschwörungstheorien eine Schutzreaktion auf eine gefühlte Hilflosigkeit ihrer Anhänger, wie die "New York Times" in einem längeren Erklärstück darlegt. Wer etwa denkt, dass der Amoklauf in Sandy Hook inszeniert war, muss nicht mit dem Gedanken umgehen, dass zwanzig Sechs- bis Siebenjährige Kinder wahllos ermordet wurden. Wer hingegen glaubt, es handle sich um eine von der eigenen Regierung durchgeführte Operation, glaubt immerhin, in dem Geheimwissen darüber ein bisschen Macht zu besitzen.

Angehörige leiden doppelt

Auch wenn diese Gründe durchaus nachvollziehbar wirken, darf nicht vergessen werden, dass die "Crisis Actors"-Theorien den Angehörigen zusätzlichen Schaden zufügen. Der erwähnte Sandy-Hooks-Angehörige Robbie Parkers musste etwa unter Polizeischutz gestellt werden, weil er von Verschwörungstheoretikern bedroht wurde. Knapp ein Jahr nach dem Amoklauf brach die Mutter einer ermordeten Schülerin zusammen, weil eine Gedenktafel, die an sie erinnerte, gestohlen worden war. Der Täter bekannte sich als Anhänger der "Crisis Actor"-Theorie: Er habe die Tafel entwendet, da das Kind ja nie existiert habe, sagte er vor der Polizei. (Fabian Schmid, 5.10.2017)