"Es geht nicht darum, Patienten zu trösten", sagt der in Freiburg tätige Gehad Mazarweh. Sondern darum, Ungerechtigkeit und Entwertung zu bekämpfen. Psychoanalyse habe einen politischen Auftrag.

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STANDARD: Weltweit gibt es nur eine Handvoll arabischer Psychoanalytiker. Sie sind einer davon. Warum wird die Psychoanalyse dort nicht gepflegt?

Mazarweh: Psychoanalyse ist eine europäische Wissenschaft, zu der die Menschen in den arabischen Ländern keine Beziehung haben. Das ist nicht wie Physik oder Medizin, die es auch in der arabischen Welt gab, Wissenschaften, von denen die Menschen eine Vorstellung haben. Es existiert auch keine psychoanalytische Ausbildung vor Ort. Daher gibt es kaum Psychoanalytiker aus der Region, die meisten leben im Ausland. Die wenigen, die in ihren Ländern praktizieren, kämpfen um ihre Existenz. Sie können in Ägypten, Syrien oder dem Libanon nicht davon leben. Die Leute in Afrika und im arabischen Raum gehen nicht zur Psychoanalyse.

STANDARD: Warum ist das so?

Mazarweh: Psychoanalyse beschäftigt sich mit den intimsten Bereichen des Lebens. Die meisten Muslime haben nicht gelernt, diese Intimität preiszugeben. Deswegen kommt eine Wissenschaft, bei der darüber gesprochen wird, in diesen Ländern kaum infrage. In der Psychoanalyse dreht sich viel um Sexualität. Je mehr die mit Scham besetzt ist, desto schwieriger wird das Gespräch darüber.

STANDARD: Viele psychische Leiden haben ihren Ursprung in der Familie. Wird die kritische Beschäftigung mit ihr als Verrat empfunden?

Mazarweh: Wir Araber sind Stämme, Stämme bestehen aus Sippen, Sippen aus Familien. Die Mitglieder dürfen nichts über ihren Stamm verraten oder erzählen, was diesen beschädigen oder diskriminieren könnte. Was immer die Familie gefährdet, bekämpfen wir und schließen wir aus. Zwischen den Mitgliedern arabischer Familien gilt: Ich gebe dir alles, will aber alles dafür haben. Die Familie verlangt eine Ordnung, nach der sich alle richten. Sie will, dass man nichts tut, was ihr schadet, sie nicht belügt und verrät. Vor allem will sie bedingungslosen Respekt vor Vater und Mutter. Vieles davon schränkt die Menschen ein. Aber sie bekommen soviel zurück, dass sie das in Kauf nehmen.

STANDARD: Gibt es auch einen "offiziellen" Widerstand in arabischen Ländern gegen die Aufklärung durch die Psychoanalyse?

Mazarweh: In rigiden gesellschaftlichen Systemen, wie sie in allen arabischen Ländern bestehen, ertragen die Führer keine Aufklärung, die sie als falsche Patriarchen infrage stellt. Gesellschaften, für die Tradition maßgebend ist, weil sie Sicherheit gibt, betrachten Aufklärung als Gefahr. Wenn sie als "Orientale" europäisch aufgeklärt werden, empfinden sie das als fremd. Das Problem heutiger Aufklärung sehe ich darin, dass sie von Leuten betrieben wird, die glauben, etwas Besseres zu sein. Unsere orientalische Erfahrung mit Kolonialismus, Erniedrigung, Entwertung und Verachtung lässt uns Aufklärung so verstehen, dass wir uns entweder unterordnen müssen – oder rebellieren.

STANDARD: Sie sagten einmal, dass viele Araber emotional Beduinen geblieben sind. Was bedeutet das für ihre Integration in Europa?

Mazarweh: Es ist entscheidend, zu akzeptieren, dass sie Beduinen sind. Die meisten Araber lebten geografisch in Stämmen in der Wüste. Jeder Stamm hat dafür gesorgt, dass seine Grenze gewahrt blieb, weil sonst ein Schaf das Wasser vom Brunnen des anderen getrunken hat. Da gab es Mord und Totschlag. Es musste eine gut funktionierende interne Struktur hergestellt und verteidigt werden. Die männlichen Mitglieder bezogen ihre Identität und ihren Selbstwert aus dem Stamm und sorgten dafür, dass sein Ruf gut blieb. Das hält das patriarchale System am Leben. Diese Identifikation, dieses Wir-Gefühl im Stamm gibt Macht und Kraft gegenüber anderen. Solche Strukturen wurden über hunderte Jahre aufrechterhalten, wir haben sie verinnerlicht. Sie haben für unsere Psyche eine große Bedeutung.

STANDARD: Sie beschreiben als Psychoanalytiker auch den Zusammenhang zwischen Selbsthass und dem Hass auf andere Menschen.

Mazarweh: Ein Mensch, der in einem gewaltvollen Milieu großgeworden ist, hat nichts anderes gelernt, als Konflikte gewaltsam zu lösen. Wer einmal Opfer von Gewalt war, wird gewalttätig. Umgekehrt haben Liebenswürdigkeit und Interesse gegenüber den Mitmenschen mit Liebe und Interesse an uns selber zu tun. Wer positive Gefühle sich selbst gegenüber hat, empfindet sie auch anderen gegenüber. Verachtung ist Selbstverachtung, Hass ist Selbsthass.

STANDARD: Welche Funktion haben Feindbilder in diesem Gefüge?

Mazarweh: Menschen, die an einem Unwertgefühl leiden und ihre Ängste nicht wahrhaben wollen, brauchen Feindbilder. Denn auf sie kann man alles projizieren, was schlimm und gesellschaftlich verwerflich ist. Wir brauchen jemanden, auf den wir unsere negativen Seiten projizieren können, ohne dass sie uns gefährlich werden. Wir denken, dass uns alles, was wir nach außen zeigen, von anderen weggenommen werden kann. Das macht uns Angst. Doch was projizieren wir damit eigentlich auf unsere Mitmenschen? Dass wir im Grunde selbst wollen, was sie haben.

Dazu kommt, dass das Wir-Gefühl, das Menschen suchen, in der Wettbewerbsgesellschaft nicht entstehen kann, weil jeder gegen jeden konkurriert, jeder jedem Feind ist. Also braucht man ein gemeinsames Außen. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm, zu einer Klasse, ist sehr wichtig für unsere Identität und Identifikation, für das Wir-Gefühl. Wird es durch Fremde, durch "Eindringlinge", bedroht, dann rebellieren wir. Wir wollen diese Gefahren nicht nur fernhalten, sondern ausrotten. So entsteht Angst und Hass gegen Menschen, die wir noch nie gesehen haben.

STANDARD: Sie arbeiten mit Folteropfern und traumatisierten Patienten. Was bringt es denen, sie an den Ursprung des Traumas zu führen?

Mazarweh: Das Leben beginnt mit dem Geburtstrauma. Es beeinflusst uns, bis wir sterben – auch wenn wir es nicht merken. Auf diese Erfahrung baut die psychoanalytische Arbeit auf, sie hat deshalb bei Traumatisierung einiges zu sagen. Wir versuchen in der Analyse, den Spuren des Traumas nachzugehen. Oft landen wir in der frühen Kindheit oder Jugend, wo die traumatischen Ereignisse stattfanden. Der Patient hat panische Angst davor, dass sich dieses Ereignis wiederholt, er die Kontrolle über seine Gefühle verliert und verrückt wird.

Wenn wir zurückgehen an den Ursprung, muss der Patient sicher sein, dass ich ihn nicht alleine lasse. Er erkennt dann, dass er nicht mehr auf die gleiche Weise traumatisiert werden kann, weil er nicht mehr die kleine schwache Person von damals ist. Das setzt aber voraus, dass der Analytiker keine Angst hat. Für die Behandlung von Traumapatienten braucht man Hingabe, man muss eine Art "tropische Atmosphäre" erzeugen, in der sich Analytiker und Analysand sehr nahe kommen können.

STANDARD: Vor dieser Nähe warnen manche Analytiker. Wie viel Neutralität braucht die Psychoanalyse?

Mazarweh: Ich bin überzeugt, dass Psychoanalyse und Neutralität nicht vereinbar sind. Ich hatte einmal eine Patientin, die Opfer grausamster sexueller Folter war. Nach einiger Zeit vertraute sie mir an, dass ihr Mann entführt wurde, sie wusste nicht, von wem und wohin. Und während sie ihr Kind in den Kindergarten brachte, explodierte eine Bombe. Als sie zu sich kam, hatte sie nur mehr die Hand des Kindes in ihrer Hand. Wenn hier ein Analytiker der Patientin nicht zumindest das Gefühl vermittelt, dass er sie umarmen möchte, kann ich ihm nur empfehlen, sich einen anderen Beruf zu suchen.

STANDARD: Hat die Psychoanalyse also einen politischen Auftrag?

Mazarweh: Wir haben die Psychoanalyse verraten – und ich stehe zu jedem Buchstaben. Wir leben in einer krankmachenden Gesellschaft, die Menschen unterdrückt, verfolgt, zerstört. Diese Gesellschaft macht ihre Mitglieder kaputt, und die machen ihre Kinder kaputt. Es geht nicht darum, Patienten zu trösten wie eine verwitwete Frau. Es geht darum, dass wir mit den Leuten mitgehen auf die Straße, um Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Frauenentwertung zu verurteilen und dagegen zu kämpfen.

Psychoanalyse hat einen politischen Auftrag. Sie ist ein Stück Revolution, das nur Revolutionäre machen können. Nicht Leute, die sich an Elend und Routine gewöhnt haben. Der Methodenstreit ist ein Streit um des Kaisers Bart. Damit versteckt man sich vor den wichtigen Fragen, vor dem, was wir wagen sollten: Die Gesellschaft, die aus Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Diktatur besteht, zu konfrontieren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen die Grundlage unserer Arbeit sein, nicht nur der Triebwunsch und all das.

STANDARD: Krankenkassen weigern sich aber zunehmend, die oft Jahre dauernden Analysen zu fördern.

Mazarweh: Der Grund, warum die Kassen nicht zahlen, ist doch der: Weil sie Angst vor unserer Arbeit haben, entwerten sie uns. Die deutsche Kasse bezahlt 300 Stunden. Manche Psychotherapeuten halten jede Analyse, die mehr als 25 Stunden dauert, für Blödsinn. Ich brauche mindestens 25 Stunden, um zu verstehen, was für eine Person da vor mir sitzt und warum sie jetzt da sitzt. Wenn Psychoanalyse nicht mehr gefördert wird, wäre das ihr Ende. Wer kann das privat bezahlen? Das ist Klassenmedizin in der reinsten Form. (Lisa Mayr, 11.12.2016)