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Auch Fußball ist nicht ungefährlich, etwa im Kopfballduell kommt es zu heftigen Stößen.

Foto: dpa/Jonas Güttler

Rund 64.000-mal im Jahr passiert es in Österreich: Durch einen Sturz, einen Autounfall oder eine unglückliche Aktion beim Sport erhält der Kopf einen kräftigen Stoß. Der Aufprall zieht den Schädelknochen in Mitleidenschaft, und Gewebe im Gehirn nimmt Schaden. Sogar Nervenzellfortsätze können dabei zerreißen. In diesen ersten Momenten eines Schädel-Hirn-Traumas ist pure Mechanik am Werk. Doch dieser sogenannte primäre Schaden ist erst der Anfang. Wie bei einem Dominospiel setzt nach dem Fallen des ersten Steins eine regelrechte Kettenreaktion ein; eine Kettenreaktion, die lange Zeit unbemerkt im Gehirn ablief.

Der Neurologe Alan Faden von der University of Maryland School of Medicine plädiert für ein Umdenken in der Wahrnehmung von Schädel-Hirn-Traumata. Er geht gemeinsam mit einer Reihe von anderen Forschern davon aus, dass ein Schädel-Hirn-Trauma chronische Entzündungen im Gehirn in Gang setzt. "Entzündungen im Gehirn sind bei dieser Hirnerkrankung ein zentraler Aspekt und wurden lange Zeit zu wenig beachtet", so Faden.

Der Neurologe verweist auf Studien mit moderner Bildgebung, unter anderem an ehemaligen Profi-Footballspielern. Sie zeigen, dass anhaltende Entzündungen nach einem einmaligen mittelschweren Hirntrauma wie einem Autounfall oder nach einem wiederholten leichten Trauma wie Stößen bei einer Kampfsportart häufig auftreten. "Außerdem haben größere Studien gezeigt, dass die Entzündungen im Gehirn bei vielen Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma für Monate oder sogar Jahre anhalten können."

Immunsystem im Gehirn

Welche Entzündungsreaktionen im Detail im Gehirn ablaufen, ist noch nicht ganz klar. In einer Übersichtsarbeit von 2016 im Fachblatt "British Journal of Pharmacology" hat Faden aber mit Kollegen die wahrscheinlichen Vorgänge nachgezeichnet. Eine unrühmliche Rolle spielen ganz offensichtlich entzündliche Mikroglia: Diese Zellen sind Teil des Immunsystems des Gehirns und scannen fortlaufend mit haarfeinen Ärmchen das Gewebe. Gibt es einen Notfall, begeben sie sich zügig zum Katastrophenherd und fressen etwa Krankheitserreger auf.

Im Falle des Schädel-Hirn-Traumas werden die Mikroglia aktiviert, um den primären Schaden einzudämmen, indem sie beschädigtes Gewebe entsorgen und indirekt die Reparaturarbeiten am Nervengewebe unterstützen. Doch vor allem ein wiederholtes mildes Trauma oder ein mittelschweres bis schweres einmaliges Trauma zieht eine chronische Aktivierung von Mikroglia nach sich. In einem solchen chronischen Stadium laufen die an sich sinnvollen Entzündungsreaktionen aus dem Ruder. Es überwiegen solche Varianten von Mikrogliazellen, die die Entzündungen immer weiter antreiben und dabei auch gesundes Nervengewebe angreifen.

Faden und seine Kollegen konnten in eigenen experimentellen Studien an Tieren nicht nur zeigen, dass nach einem milden Schädel-Hirn-Trauma in einem erheblichen Maße Nervenzellen abstarben. Sie konnten auch gleichzeitig vermehrte Mikrogliazellen nachweisen. Solche Veränderungen konnte das Team auch Wochen nach dem eigentlichen Trauma beobachten.

Anhaltende Entzündungsreaktionen

Und noch auf einen weiteren Zusammenhang stießen die Forscher: Wiederholte Traumata und die nachfolgenden Entzündungsreaktionen gingen einher mit einem in seiner Funktion geschwächten Hippocampus – einer Hirnregion, die für das Gedächtnis unerlässlich ist. Auch bei verstorbenen Patienten fand ein anderes Forscherteam sogar noch Monate oder Jahre nach einem Schädel-Hirn-Trauma vermehrt aktivierte Mikrogliazellen.

Die chronisch anhaltenden Entzündungsreaktionen in den grauen Zellen könnten helfen zu erklären, wie es zu dem komplexen Geflecht von Folgeschäden nach einem Schädel-Hirn-Trauma kommt. So entwickeln Betroffene oft erst Jahre nach dem eigentlichen Unfall neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson, bei denen Nervenzellen absterben.

So fatal die sich lange hinziehenden Kettenreaktionen im Gehirn auch für die Betroffenen sind, sie haben auch ihr Gutes. So sind Mediziner zwar bei dem sich im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Schlag auswirkenden primären Schaden des Schädel-Hirn-Traumas machtlos. Sie können aber auf die Folgeschäden therapeutisch einwirken. "Jetzt, wo wir mehr über die Mechanismen hinter den Schäden wissen, können wir auch Strategien entwickeln, um solche Probleme zu verhindern oder zu minimieren", ist Alan Faden optimistisch.

Bewegung fördert Genesung

Es gibt bereits Ansätze, auf die Entzündungsreaktionen im Gehirn therapeutisch einzuwirken. Schon länger ist bekannt, dass körperliche Betätigung Entzündungen reduzieren und die Genesung nach einer Hirnverletzung beschleunigen kann. Das wollten sich Alan Faden und seine Kollegen zunutze machen und ließen Mäuse sich fünf Wochen nach einem Schädel-Hirn-Trauma vier Wochen lang mit einem Laufrad körperlich ertüchtigen. Und siehe da: Es ging nicht nur die Zahl der aktivierten Mikrogliazellen im Vergleich zu Kontrollmäusen zurück; auch die Schäden des Nervengewebes bildeten sich zurück und die Nager hatten geringere Gedächtnisprobleme.

Auch eine medikamentöse Behandlung wird derzeit intensiv erforscht. Hier gilt das Antibiotikum Minocyclin als vielversprechend. Es wirkt entzündungshemmend und schützt Nervenzellen. In mehreren Tierstudien hat sich der Wirkstoff als effektiv darin erwiesen, Nervenzellen nach einem Schädel-Hirn-Trauma vor dem Tod zu bewahren.

Natürlich müssen sich die Ansätze erst noch in klinischen Studien bei Patienten bewähren. Doch schon jetzt scheint klar zu sein: Bei dem Dominospiel im Gehirn einige Steine vor dem Fallen zu bewahren, um die fatale Kettenreaktion bei einem Schädel-Hirn-Trauma aufzuhalten, ist definitiv sinnvoll. (Christian Wolf, 29.12.2016)