Dietmar Steiner: "Ich brauche eine Pause. Aber wenn die Architektur in Bedrängnis kommt, werde ich sie immer verteidigen."

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Heute ist Ihr letzter Arbeitstag. Wie geht es Ihnen?

Steiner: Ab morgen bin ich in Pension. Ein eigenartiges Gefühl. Ich muss zugeben, dass ich im Zuge des Abschiednehmens ein paar schlaflose Nächte hatte.

STANDARD: Warum gerade jetzt?

Steiner: Ich hatte 2014 einen medizinisch geforderten neuen Lebensbeginn. Da wurde mir klar, dass ich mein bisheriges Leben zu beenden hatte. Nun habe ich das juristische Pensionsalter erreicht, und damit ist es Zeit, meinen Sessel zu räumen. Danke, es war sehr schön und hat mich sehr gefreut!

STANDARD: Nach 23 Jahren Architekturzentrum Wien (AzW): Was ist hängengeblieben?

Steiner: Ein unglaubliches Glück, dass dieser Job und meine Person sich gefunden haben. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass mir damals die Chance geboten wurde, dieses Haus zu gründen und ein Wissenszentrum zu etablieren, das mittlerweile international bekannt und reputiert ist.

STANDARD: Auf welche Erfolge blicken Sie zurück?

Steiner: Wir haben eine umfangreiche Sammlung und ein fundiertes Archiv aufgebaut. Und wir haben es geschafft, das AzW als internationales Podium für zeitgenössische Architektur zu etablieren. Die Indianer haben gesagt: Du kannst eh nichts anderes tun, als einfach nur dein Ohr auf die Schienen zu legen und möglichst früh den herannahenden Zug zu hören. Zwei Ausstellungen, die Furore gemacht und einen wertvollen Beitrag zur Kultur- und Architekturszene geleistet haben, waren Rural Studio und Sowjetmoderne. Mit der Präsentation des Rural Studio (2004) aus Alabama haben wir die sozial engagierte Design-Build-Bewegung angestoßen. Sowjetmoderne (2013) war ein umfangreiches Forschungsprojekt zur Moderne in den ehemaligen Sowjetrepubliken zwischen 1955 und 1991. Diese Ausstellung hat die Wiederentdeckung des Brutalismus befördert.

STANDARD: Und auf welche Misserfolge blicken Sie zurück?

Steiner: Generell nicht genügend Kenntnisse über Architektur und Stadtplanung vermittelt zu haben. Der Diskurs ist hierzulande noch immer nicht sachlich begründet.

STANDARD: Österreichische Architektur 1993 und heute: Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Steiner: In den 1990ern gab es eine Aufbruchstimmung. Mit Helmut Zilk, Ursula Pasterk und Hannes Swoboda gab es in Wien drei Politiker, die extrem architekturaffin waren und diese Kultur auch gefördert haben. Österreichische Architektur hatte damals ein sehr gutes Standing. International gesehen war das eine Marke! Diese Qualität ist – auch mangels politischen Engagements – verlorengegangen. Heute ist österreichische Architektur nicht besser oder schlechter als anderswo. Pionierarbeit allerdings findet anderswo statt: in der Schweiz, in Deutschland und Flandern, wo es eine bemerkenswerte Architekturpolitik gibt.

STANDARD: Das klingt traurig für Österreich.

Steiner: Ist es auch. Ich orte eine zunehmende Respektlosigkeit gegenüber der architektonischen Arbeit. Man verlangt immer mehr für immer weniger Geld. Und die Architekten sagen Ja, weil der Konkurrenzdruck ganz enorm geworden ist.

STANDARD: Wo stehen wir heute?

Steiner: Die Architektur hat viele Kompetenzen abgegeben und an Techniker, Manager, Bauingenieure und Generalplaner verloren. Nun wäre sie gefordert, diese Felder wieder zurückzuerobern.

STANDARD: Wird das gelingen?

Steiner: Ich fürchte, Diversifizierung und Technisierung werden weiter zunehmen. Schuld daran sind das immer strenger werdende Kosten- und Zeitmanagement, das die Immobilienwirtschaft vorschreibt, das neue Planungsinstrument Building Information Modeling (BIM) sowie immer schärfere Vorschriften und Planungsrichtlinien. Wer heute Architektur macht, muss von Jus und Wirtschaft mehr Ahnung haben als vom Bauen. Mit Architektur im klassischen Sinne hat das alles bald nicht mehr viel zu tun.

STANDARD: Was tun?

Steiner: Ich bin Fatalist. Das einzig positive Symbol für mich ist Lehm. Das ist das älteste, archaischste und in gewissen Teilen der Welt am weitesten verbreitete Baumaterial mit der größten globalpolitischen Sprengkraft. Lehmbau, Bottom-up-Projekte und Guerilla-Strömungen sind eine sehr wertvolle und auch dringend benötigte Gegenbewegung zur Technokratisierung und Vereinheitlichung. Rebellen gegen das Imperium: Bitte mehr davon!

STANDARD: In Ihrem 400-Seiten-Wälzer "Steiner's Diary", den Sie sich jüngst von der Seele geschrieben haben, verschriftlichen Sie die Architekturgeschichte von fast sechs Jahrzehnten. Haben Sie eine Lieblingsepoche?

Steiner: Die intensive Theoriedebatte der 1970er-Jahre war schon etwas sehr Besonderes. Das gab es in diesem Ausmaß nie wieder und ist auch nicht mehr rekonstruierbar. Nicht von ungefähr werde ich oft mit einem meiner wohl häufigsten Sätze zitiert: "Das hamma schon in den Siebzigerjahren gemacht."

STANDARD: Einer Ihrer berühmtesten Texte, der auch im Buch zu finden ist, trägt den Titel "Von Huren und Heiligen. Thesen zur Praxis zukünftiger Architektur". Wer von beiden hat denn heute das Sagen?

Steiner: 1992 hat der Text viele aufgeregt. Er handelt davon, dass man als angehender Architekt auf der Uni als Heiliger ausgebildet wird, während man im Berufsleben die schmerzhafte Erfahrung macht, eine Hure geworden zu sein. Es gibt Ausnahmen. Und diese Ausnahmen sind meist nicht einmal gute Architekten, sondern in erster Linie gute Strategen, die die Medien- und Marketingklaviatur perfekt beherrschen.

STANDARD: Seit zehn Jahren setzen Sie sich für die Gründung eines österreichischen Architekturmuseums ein. Bislang vergeblich. Woran scheitert es?

Steiner: Das AzW ist bereits ein Architekturmuseum und wird auch weltweit als solches anerkannt. Das ist endlich auch politisch zur Kenntnis zu nehmen.

STANDARD: Das klang schon mal feuriger. Sie haben sich lange Zeit dezidiert für ein Architekturmuseum im Semperdepot ausgesprochen, weil das AzW diese Aufgaben nicht abdecken könne. Sind diese Pläne nun ad acta gelegt?

Steiner: Vor zehn Jahren gab es ein historisches Zeitfenster, wo das möglich gewesen wäre. Doch aktuell stehen in der Universität der bildenden Künste, die ja Mieterin des Semperdepots ist, so viele Umbauten und Renovierungen an, dass an ein Architekturmuseum mittelfristig nicht zu denken ist. Ich kann nur sagen: Das wäre das schönste Architekturmuseum der Welt.

STANDARD: Ihre Nachfolgerin ist die Kulturtheoretikerin Angelika Fitz. Über welchen frischen Wind durch die neue Direktorin würden Sie sich besonders freuen?

Steiner: Diese Frage zu beantworten wäre falsch. Ich habe mich über die Ernennung von Angelika Fitz riesig gefreut. Sie ist sehr kompetent und kann selbst entscheiden, welche neuen Impulse dem AzW guttun werden. Ich muss und will mich überraschen lassen. Einzumischen habe ich mich nicht mehr.

STANDARD: Wird das gelingen? Sie sind ja doch jemand, der regelmäßig Kommentare und offene Briefe schreibt und das aktuelle Geschehen in diversen Medien und Kanälen kommentiert.

Steiner: Wenn die Architektur in Bedrängnis kommt, werde ich sie immer verteidigen.

STANDARD: Vor kurzem ist Andrea Maria Dusls "Zeitreisen: Ein Film über Dietmar Steiner" erschienen. Im Vorspann hört man Sie auf einer Tastatur tippen. Ein Ausblick auf Ihre Zukunft?

Steiner: Ich werde mich aus Wien zurückziehen und möchte in den kommenden Monaten mein Archiv und meine Bibliothek ordnen. Ich brauche eine Pause von der zeitgenössischen Architekturproduktion. Ich will Zeit zum Nachdenken haben. Das Tippen wird später wiederkommen.

STANDARD: Der 31. Dezember 2016 ist nicht nur Ihr letzter Arbeitstag, sondern auch Ihr 65. Geburtstag. Gibt es einen Geburtstagswunsch?

Steiner: Nein. Ich bin so ziemlich wunschlos glücklich. Um bei der Metapher des Films zu bleiben: Ich habe in meinem Leben einen Stein ins Wasser geworfen. Und dieser Stein hat hoffentlich ein paar Wellen bewirkt. (Wojciech Czaja, 31.12.2016)