Riad/Wien – Nicht das Kriegsland Syrien, nicht die Zukunft des Palästinenserstaats, nicht, was das neue Jahr und ein US-Präsident Donald Trump für den Atomdeal mit dem Iran bringen werden, war der häufigste Gegenstand der Betrachtungen von Nahostexperten zur Jahreswende. Nein, es war Saudi-Arabien, und in den allermeisten Fällen hatten die Analysen einen klaren negativen Drall: "2017, eine saudische existenzielle Krise" titelt etwa Madawi Al-Rasheed von der Londoner School of Economics ihren Artikel. "Ein Jahr, das Saudi-Arabien vergessen möchte" überschreibt der ehemalige US-Regierungsberater Bruce Riedel einen Jahresrückblick, und der Nahostblogger James M. Dorsey kombiniert beides: "Sie glauben, dass 2016 ein hartes Jahr für Saudi-Arabien war? Warten Sie auf 2017!"
Was ist geschehen? Wie kommt es, dass sich Saudi-Arabien plötzlich aus der politischen Komfortzone hinausbewegt, in der es trotz aller lauter werdenden Systemkritik von außen noch immer verortet wurde? Nach den Umbrüchen in der arabischen Welt von 2011, die meist keine Wende zum Besseren brachten, war doch jahrelang die Rede von den "stabilen Monarchien", in denen die Herrscher eben doch irgendwie anders legitimiert waren als jene in den autokratisch geführten Republiken. Hat sich seitdem so viel geändert, und wenn ja, warum?
Geld kauft Ruhe
Es gibt zwei unterschiedliche Linien, auf denen der negative Ausblick für die Zukunft des Königreichs argumentiert wird. Die erste ist relativ einfach: Das Königshaus wird nicht mehr imstande sein, seine Untertanen ruhig zu halten, weil das Geld fehlt, um das traditionelle klientelistische Verhältnis zu finanzieren. Der Ölpreis wird in absehbarer Zeit nicht auf einen Stand zurückkehren, der beides – Zuwendungen für das Volk und erhöhte Ausgaben, dazu später – abdecken kann. Das ist umso schwerwiegender, als es gewollte saudische Politik war, den Ölpreis derart in den Keller zu fahren: Andere Ölpro duzenten, nicht zuletzt die USA mit ihrem teuren Fracking, sollten unter Druck gesetzt werden.
2011, als in etlichen arabischen Ländern Unruhen ausbrachen, reagierte der damalige König Abdullah auf die übliche Art: mit einem Geld- und Sozialmaßnahmen regen für das Volk. Auch König Salman half der Freude seiner Untertanen über seine Machtübernahme nach Abdullahs Tod im Jänner vor zwei Jahren mit finanziellen Geschenken nach. Aber nun müssen seit Herbst 2016 viele staatliche Angestellte, die Stützen des Systems, zum ersten Mal reale Verluste hinnehmen.
Der Staat musste sich Geld leihen. Gehälter wurden eingefroren, Boni und manche Sozialleistungen gestrichen. Dazu kommen höhere Kosten, unter anderem für Strom und Benzin. Die Bürger Saudi-Arabiens müssen plötzlich für etwas zahlen, das sie früher als gottgegeben ansahen.
In einem langen Artikel widmet sich Ende Dezember die New York Times der Frage, ob diese Sparwelle denn auch für die saudischen Royals gilt, die tausenden Prinzen und Prinzessinnen, die von der inoffiziellen Firma Al Saud Inc. ihr regelmäßiges Einkommen beziehen – auch sie ja eigentlich, wie die normalen Bürger, damit sie nicht auf die Idee kommen, politische Macht zu wollen. Der Befund der NYT ist einerseits, dass die Prinzen international weiter viel Geld ausgeben – laut Twitterer Mujtahidd, einem saudischen Insider und gleichzeitig scharfen Systemkritiker, werden ihre Apanagen "um keinen Rial" gekürzt. Aber gleichzeitig könnte der royale Apparat bald eine Größe erreichen, die nicht mehr tragbar ist.
Müssen die Bürger sparen, droht Unmut
Hohe Schätzungen lauten auf 12.000 bis 15.000 Prinzen und ebenso viele Prinzessinnen, während die offizielle Auskunft die Zahl der Mitglieder des Hauses Saud mit 5000 angibt. Natürlich bekommen nicht alle gleich viel, aber die Zuwendungen sind auf alle Fälle ein jährlicher fetter Milliardenposten, über den zwar nicht öffentlich geredet wird, der aber dennoch bekannt ist. Es ist ein Dilemma: Zahlt der König nicht mehr, riskiert er die Einheit in der Familie und schwächt seine Hausmacht. Müssen aber nur die normalen Bürger sparen, dann droht die Unruhe von unten.
Darin, dass die finanziellen Probleme den Glauben der verwöhnten Saudi-Araber an ihren nach einer Familie benannten Staat erschüttern könnten, sehen manche Analysten also die größte Gefahr für die Stabilität. In den Kulissen würden noch immer jene warten, die von den Sauds um 1900 entmachtet wurden – unter anderem die Familie Rasheed, aus der die bereits erwähnte Sozialanthropologin und Politologin Madawi al-Rasheed stammt.
Diese sieht jedoch einen anderen Auslöser der "existenziellen Krise", die sie für Saudi-Arabien diagnostiziert: Nicht die schwindende Zahlungskraft sei das Pro blem, sondern die angeschlagene politische Reputation.
Die Ruinen von Aleppo
Tatsächlich schaut die saudische außenpolitische Bilanz der letzten Jahre düster aus – was das Paradoxon erklärt, dass ausgerechnet die Hüter der Heiligen Stätten des Islam auf einen Islamfeind wie Donald Trump hoffen. Denn der teilt mit ihnen wenigstens die Iranfeindlichkeit.
Die jüngste Runde der großen hegemonialen Auseinandersetzung in der Region, zwischen Saudi-Arabien und Iran, ist einstweilen zugunsten des Letzteren ausgegangen. "Die Ruinen Aleppos werden als Symbol des saudischen Versagens gesehen werden, Bashar al-Assad zu stürzen", schreibt al-Rasheed – und Assad hat gewonnen, weil er Russland und den Iran an der Seite hat.
Saudi-Arabien ist mit dem Projekt, Syrien für die sunnitischen Araber wiederzugewinnen, spektakulär gescheitert. So sehr, dass der ägyptische Präsident Abdelfattah al-Sisi, der ohne saudische Hilfe nicht dort wäre, wo er ist, sich eine andere Syrien-Politik leistet wie sein Sponsor. Eine schmerzliche Demütigung Riads.
Im Jemen, wo Saudi-Arabien seit März 2015 eine arabische Militärallianz gegen die Huthi -Rebellen anführt, stehen die Dinge nicht viel besser als in Syrien. Die iranische Unterstützung für die Huthis ist zwar nicht mit jener für Assad zu vergleichen. Der Konflikt passt dennoch ins Schema, zumal die Huthis Schiiten sind (wenngleich einer anderen Richtung als die iranischen).
Krieg gegen die Zivilisten
Der Krieg, der nicht vom Fleck kommt und keine politische Lösung bringt, kostet nicht nur viel Geld. Von seinen Kritikern wird Saudi-Arabien im Jemen im Grunde genommen das Gleiche vorgeworfen wie dem Assad-Regime in Syrien: ein Krieg gegen Rebellen ohne jegliche Rücksicht auf die blutenden Zivilisten.
Seit die USA aus diesem Grund ihre logistische Unterstützung für den saudischen Einsatz im Jemen zurückgefahren haben, können die Vorwürfe auch nicht mehr einfach als antisaudische Propaganda abgetan werden. Wobei US-Generäle eher saudische militärische Unfähigkeit als zynische Absicht hinter den Angriffen auf Zivilis-ten sehen: eine sehr zwiespältige Entlastung der Saudis, die sie vielleicht weniger böse, aber nicht unbedingt besser aussehen lässt.
Noch brisanter werden die finanziellen und die politischen Schwierigkeiten des Landes dadurch, dass sie allgemein mit einer Person in Zusammenhang gebracht werden. Mohammed bin Salman verkörpert wie kein anderer die neue Zeit, die mit der Thronbesteigung seines Vaters angebrochen ist. Der 31-Jährige ist nicht nur Vizekronprinz, sondern auch Verteidigungsminister – also Kriegsherr im Jemen – und hat sich mit seiner "Vision 2030" zum wirtschaftlichen Vordenker aufgeschwungen. Das Programm zur nachhaltigen wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes hängt sehr stark daran, dass die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA, Vertrauen in die saudische Zukunft hat. Unter Präsident Barack Obama ist das US-saudische Verhältnis jedoch kontinuierlich schlechter geworden.
Potenzieller Ärger an allen Fronten
Mohammed bin Salman, MbS genannt, ist höchst exponiert: Sein Scheitern trägt destabilisierendes Potenzial in sich, weil es ja dem Scheitern der Pläne König Salmans für sein Land gleichkommen würde. Nach seiner Amtsübernahme hat der gesundheitlich schwache König etliche andere "starke" Prinzen aus wichtigen Positionen entfernt, um seiner engeren Familie den Weg zu ebnen. Das hat Frust erzeugt: Manche warten geradezu sehnsüchtig auf den Absturz von MbS, von dem gemunkelt wird, dass er den jetzigen Kronprinzen, den ersten Thronfolger der Enkelgeneration von Staatsgründer Abdelaziz Al Saud, ausbooten will (auch der Kronprinz heißt Mohammed, Mohammed bin Nayef, MbN, und ist Neffe des Königs).
Also potenzieller Ärger an allen Fronten. Und doch gibt es noch einen anderen Blick auf Saudi-Arabien, der Besucher des Landes von "stiller Revolution" und "Renaissance von oben" sprechen lässt. Dazu gehört, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen islamischen Tradition eingesetzt hat – die ja von außerhalb oft als Wurzel des extremistischen sunnitischen Islam, dessen hässlichste Fratze der "Islamische Staat" ist, bezeichnet wird. Die Selbstkritik fällt noch schwer, meist werden die Schuldigen woanders gesucht: meist bei den Muslimbrüdern, die den friedlichen puristischen Salafismus der Arabischen Halbinsel mit ihren revolutionären Ideen radikalisiert hätten.
"Zentrumsislam"
Aber der Staat fördert nun einen "Zentrumsislam" – und eigentlich ist das ja schon eine Abweichung von der wahhabitischen Vorstellung, dass es nur einen wahren Islam gebe und sonst nichts.
Religiöser und sozialer Wandel: Manche saudische Intellektuelle erkennen gerade in den wirtschaftlichen Turbulenzen eine Chance. Der Journalist und Medienmanager Abdulrahman al-Rashed ist zwar nicht gerade einer, der sich mit öffentlicher Kritik über Saudi-Arabien hervortut. Aber in einem Interview mit der Huffington Post legt er den Finger auf die Wunde.
Das Ende des Wohlfahrtsstaates werde "Saudi-Arabien sozial reparieren", sagt er da. Es geht im Grunde stets um die eine Frage: Kann – oder wie kann – Saudi -Arabien seine ultrakonservativen Traditionen mit der Moderne versöhnen: und zwar ohne dass jener Sektor in der Gesellschaft, der noch weitaus islamisch-konservativer ist als die saudische Führung, einen Aufstand anzettelt. Etwa wenn die Regeln für die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben geändert werden.
Am Erhalt des Staatswesens beteiligt
Wer im Westen "saudischer Dissident" hört, denkt reflexartig an eine Figur wie den mutigen saudischen Blogger Rauf Badawi, der nach wie vor im Gefängnis sitzt und nicht weiß, ob ihn noch Auspeitschungen erwarten. Die saudische Realität sieht jedoch anders aus: Der Pool der radikalen Opposition ist mindestens so groß wie der der liberalen.
Abdulrahman Al-Rashed meint nun, dass die ökonomischen Zwänge automatisch Struktur veränderungen bringen werden: Für viele ganz normale Familien wird es etwa unerlässlich sein, dass Frauen arbeiten, um das Einkommen zu sichern oder aufzubessern. Und je mehr sich die saudischen Bürger und Bürgerinnen wirtschaftlich am Erhalt des Staatswesens beteiligen müssen, desto weniger können ihnen politische Beteiligung und Verantwortung vorenthalten werden.
Auch bei einem der westlichen Lieblingsthemen, wenn es zu Frauen und Saudi-Arabien kommt, sieht Al-Rashed Bewegung am Horizont: In Zeiten des Gürtel-enger-Schnallens werden sich weniger Familien den Fahrer für die Damen des Hauses, die ja nicht selbst ans Steuer dürfen, leisten können. Noch dazu, wo Gebührenerhöhungen die Anstellung von (in der Regel ausländischen) Chauffeuren empfindlich teurer gemacht haben.
Absurde Bevormundung
Keine Rolle spielt das für die – nicht wenigen – erfolgreichen und wohlhabenden Geschäftsfrauen und den zunehmenden Kreis von Professionistinnen: Sie sind reich genug, um Fahrer zu bezahlen. Aber dass sie für alle ihre Entscheidungen von Belang die Zustimmung eines männlichen Vormunds einholen müssen, ist angesichts der Realitäten nur mehr absurd. In der Schura, in der die Elite des Landes zu einem beratenden Organ versammelt ist, sind nunmehr ein Drittel der Mitglieder Frauen.
Also den Klerus entmachten. Das klingt natürlich viel einfacher, als es ist. Gerade in den sensiblen Zeiten des Übergangs an der Staatsspitze von der Söhnegeneration zur Enkelgeneration des Staatsgründers mag die Königsfamilie davor zurückschrecken, ihre Allianz mit dem religiösen Esta blishment zu schwächen. Die Religiösen haben den Sauds stets die Stange gehalten. Die Al Sheikh, die Familie Sheikh, die jetzt noch die höchsten Würdenträger stellt, geht ja direkt auf Mohammed Ibn Abdulwahhab zurück, der bereits Mitte des 18. Jahrhunderts einen Bund mit einem Ibn Saud schloss.
Schleier muss nicht sein
Dennoch sieht man nun auch vermehrt andere Geistliche: Als einer davon, Ahmad al-Ghamidi, seine unverschleierte Gattin ins Fernsehstudio mitnahm – und auch noch beteuerte, der Islam habe auch nichts gegen Schminke, gegen Musik übrigens auch nicht –, erregte sich nicht nur der Großmufti. Auch von normalen Zuschauern wurde Ghamidi, früher Mitglied der Religionspolizei, als "dreckiger Zuhälter" bezeichnet. Die meisten Reaktionen waren jedoch positiv. Die Rechte der Religionspolizei sind inzwischen beschnitten – und die Anzahl der Konzerte und öffentlichen Veranstaltungen in Saudi-Arabien ist im Steigen begriffen.
Man kann fragen, warum es erwünscht sein soll, dass sich ein System wie das saudische, das den Bürgern und noch mehr den Bürgerinnen des Landes die einfachsten Rechte vorenthält, entwickelt – und nicht nur einfach verschwinden soll. Die Antwort mag wenig zufriedenstellend sein, ist aber pragmatisch: Es sind die Erfahrungen von 2011. Nicht nur den Menschen in der arabischen Welt, auch Europa möge ein neuer gewaltsamer Umbruch im Nahen Osten mit allen seinen Folgen erspart bleiben. Und zu meinen, dass auf die Herrschaft der Sauds eine offene Gesellschaft und eine Demokratie folgen würde, ist ganz einfach unrealistisch. (Gudrun Harrer, 8.1.2017)