Narrative funktionieren nur dann, wenn sie von Menschen für wahr gehalten werden.

Montage: Claudia Machado

Wolfgang Müller-Funk ist österreichischer Kulturwissenschafter. Zuletzt erschien von ihm "Theorien des Fremden", utb-Verlag, 2016.

Foto: utb-Verlag

Wir leben in einem (neuen) Zeitalter von Verschwörungstheorien und üblen Nachreden. Die polarisierten Präsidentschaftswahlkämpfe in den USA und auch hierzulande (man denke nur an die Beschuldigung von Ursula Stenzel, Van der Bellens Vater sei den Nazis nahegestanden), die Weltwirtschaftskrise sowie die Migration nach Europa liefern ganze Sortimente hasserfüllter Legenden. Sarkastisch lässt sich aus medientheoretischer Sicht sagen, dass die sozialen Netzwerke insbesondere der ganz Rechten darin erstaunlich "leistungsfähig" sind.

Bei einem Wahlkampfauftritt 2015 etwa widersprach der heutige Präsident Donald Trump nicht der Behauptung, Obama sei ein Muslim, der gar nicht in den USA geboren sei. Ein Drittel der republikanischen Wähler soll übrigens dieser Ansicht sein. Auf der Webseite political incorrect, die sich als proamerikanisch und proisraelisch definiert, war schon seit 2010 die Geschichte verbreitet worden, Obama habe dem damaligen ägyptischen Außenminister Ahmed Aboul Gheit in einem Vieraugengespräch gestanden, dass er Muslim sei. Antiislamische Verschwörungstheorien verbreitet auch das digitale Netzwerk Breitbart News (breitbart.com), das seinen Kommunikationsraum auf Deutschland und Frankreich ausweiten möchte. Für viele rechtsextreme und rassistische Netzwerke ist es eine ausgemachte Sache, dass mit der Migration eine weltweite Verschwörung im Gange ist, die auf die Vernichtung der weißen Rasse in Europa abzielt.

Auf den ersten Blick

Mit dieser Zuspitzung befinden wir uns im Zentrum jener Verschwörungsfantasien, die viel weniger Theorien als vielmehr Erzählungen darstellen. Theorien werden nämlich danach beurteilt, ob sie richtig oder falsch sind, Geschichten werden dagegen für faktisch wahr oder unwahr gehalten. Das macht einen nicht geringen Unterschied. Erzählkomplexe und -muster, Narrative funktionieren dann, und nur dann, wenn sie von Menschen für wahr gehalten werden.

Auf den ersten Blick ist es nicht sonderlich plausibel, warum Verschwörungsnarrative erfolgreich sind. Ihre Quellen und Zeugen bleiben zumeist im Dunkeln. Es gibt ganz zweifelsohne, nicht nur auf dem Feld der Politik, Intrigen, Übereinkünfte und heimliche Abmachungen, die dem einen nützen und den anderen zu Fall bringen. Aber dass eine Weltwirtschaftskrise oder eine mehr oder weniger unkoordinierte Migrationsbewegung das Werk einer Handvoll von Menschen sein soll oder dass ein Mann wie Barack Obama imstande sein soll, sich eine völlig andere Identität zuzulegen, ist doch einigermaßen absurd. Aber eben weitverbreitet: So bezeichnete der FPÖ-Abgeordnete Harald Vilimsky 2016 in einer hauseigenen Webseite die "Bilderberger" als "die einflussreichste Gruppe der Welt" (die schon 1955 den verhassten Euro geplant habe). Das ist im Übrigen eine unendliche Geschichte, die schon lange vor den digitalen Netzwerken unter den Top Ten der Verschwörungserzählungen rangierte und die für einen Narratologen eine Variante der erfolgreichsten Meisterverschwörungstheorie des 20. Jahrhunderts darstellt: der Geschichte der jüdischen Weltverschwörung, Kernstück (nicht nur) der nationalsozialistischen Weltanschauung. Das Buch Die Protokolle der Weisen von Zion, eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg, war und ist bis heute ein Bestseller.

Weil es sich um Geschichten handelt, muss es einen Glauben geben, sie für wahr zu halten. Nicht selten sind wir vorsichtig beim Glauben von Geschichten, wir möchten wissen, ob derjenige, der sie erzählt, vertrauenswürdig ist. Wenn es, wie im Fall von Verschwörungsgeschichten, weder einen vernünftigen Grund noch einen vertrauenswürdigen Menschen gibt, der die Faktizität des Behaupteten bestätigen kann, dann muss es andere Ursachen für den unwahrscheinlichen Rezeptionserfolg solcher Narrative geben. Ganz provisorisch und vermutlich unvollständig lassen sich einige Faktoren anführen, die erklären, warum sich Verschwörungsgeschichten eines derartigen Zuspruchs erfreuen:

Da ist zunächst einmal der Tatbestand der Krise und der Desorientierung. Diese ist keineswegs nur temporär, vielmehr gehört es zur Eigenart dessen, was wir als Moderne bezeichnet, dass diese scheinbar über kein festgefügtes Fundament von Werten verfügt, oder anders, dass Pluralität, Anerkennung des Anderen und Dialog selbst Werte sind. Im Falle von ökonomischen Krisen führt das zu einer kollektiven Panik, die Hermann Broch in einer Studie als "Massenwahn" bezeichnet hat. Die Verschwörungstheorien sind narratives Kernstück dieser kollektiven Befindlichkeit. Sie erfüllen ein Bedürfnis: jenes nach Polarisierung und einem Kampf gegen das, was als Feind dämonisiert wird.

Der Tatbestand der Krise

Hermann Broch, dessen unvollendetes Werk heute eine betrübliche Aktualität erfährt, hat noch einen weiteren Grund für die Attraktion solcher Vorstellungen hervorgehoben: die Intransparenz der modernen ökonomischen und technischen Welt. Verschwörungsgeschichten liefern scheinbar lückenlose Erklärungen für alles Üble in der Welt, das auf einen negativen Weltdemiurgen zurückgeführt werden kann, den es auszumerzen gilt. Aber dazu bedarf es eines Führers, der diesen Kampf gegen die Feinde des eigenen Volkes aufnimmt. Das Narrativ der Weltverschwörung mag irrational darin sein, dass sein Wahrheitsgehalt gegen null geht und es sich, psychoanalytisch gesprochen, aggressiven und libidinösen Antrieben verdankt, die im Unbewuss ten verbleiben. Aber wie der klassische Mythos ist die Erzählung, dass sich eine kleine Gruppe gegen "das Volk" verschworen hat, hyperrational. Sie erklärt alles mit einem einzigen narrativen Schlag. Demgegenüber kennen sozial- oder kulturwissenschaftliche Befunde den Zweifel, die Skepsis, die Differenzierung, das Eingeständnis der eigenen Grenzen, einen Sachverhalt zu erklären.

Verschwörungen wird Glauben geschenkt, weil sie mit der Magie des Geheimnisses verbunden sind. Sie entstammen der Welt der Religion, die sich mit der Aura des Geheimnisses umgibt. Gott ist ein Geheimnis, ebenso wie der Leib Christi, um die katholische Liturgie zu erwähnen. Das Geheimnis stiftet Bedeutung, und es verleiht jenem, der es kennt, Privilegiertheit. Wenn es sich um ein "böses" Geheimnis handelt, wie im Falle der Weltverschwörung, dann liegt eine Verdoppelung vor. Es wird eine Gruppe herbeifantasiert, die wie die Weisen von Zion, die Rothschilds und Rockefellers, die Bilderberger ein Geheimnis zur Vernichtung der Welt, zumindest aber zu deren entsetzlicher Schädigung besitzt, das sie natürlich verheimlichen muss. Demgegenüber gibt es eine andere, wieder um privilegierte Gegengruppe, die den bösen Weltverschwörern auf die Schliche gekommen ist. Aber das bleibt, weil es sich in der Welt des Geheimnisses abspielt, im Dunkeln. Mit dem Mysteriösen wird jener Zweifel an der "wilden Geschichte" gelöscht, der das im folgenden Satz hübsch auf den Punkt bringt: "Erzähl’ mir keine G’schichten."

Mit der Neutralisierung des Zweifels hängt noch ein anderes Moment zusammen: Verschwörungsgeschichten sind für die, die an sie glauben, völlig widerständig gegen jegliche faktische Korrektur. Als Die Protokolle der Weisen von Zion 1921 von einem englischen Journalisten als eine so plumpe wie raffinierte Fälschung enttarnt wurden, hat das nicht dazu geführt, dass die Menschen den Glauben an die Wahrheit der Protokolle verloren haben. Vermutlich gibt es noch immer Millionen, die an die antisemitische Hardcore-Geschichte glauben, nicht nur im islamistischen Umfeld, sondern auch im heimischen Rechtsradikalismus. Die "unwahren" Entlarvungen können in dieser Sichtweise nichts anderes sein als heimtückische Täuschungen jener "Bösen", die ganze Nationen und Rassen vernichten möchten.

Geschichten, die tödlich sind

Die Anhängerschaft Hitlers – nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt – war gegenüber der kühlen Entzauberung der Protokolle der Weisen von Zion völlig immun. Wer am Geist der Aufklärung festhalten möchte, der muss diesen Befund so beklemmend finden wie die beiden berühmten Autoren, die die größten Fälschungen des 20. Jahrhunderts literarisch behandelt haben, Danilo Kiš in seiner wunderbaren Erzählung (Das Buch der Könige und Narren) und Umberto Eco in seinem ungleich schwächeren Roman (Der Friedhof in Prag). Der rechtsradikale russische Journalist, der die Protokolle mit Erlaubnis der zaristischen Zensur 1906 zuerst publizierte, war ein berüchtigter Anführer und Organisator von Judenpogromen; darüber hinaus bildeten die Protokolle
den narrativen Leitfaden für Auschwitz. Die angeblich geplante Vernichtung der deutschen "Rasse" wirkte als kollektive Entlastung. Es gibt Geschichten, die tödlich sind. Rassisten handeln gern in dem Glauben, Opfer zu sein. Das Verschwörungsnarrativ weist ihnen einen Opferstatus zu, der ihre Taten wenn nicht als gut, so doch als notwendig und berechtigt erscheinen lässt. Die radikale Rechte unserer Tage wettert gegen die politische Korrektheit nicht zuletzt deshalb, weil sie unkorrekt sein will und den Zusammenhang zwischen Denken und Handeln leugnen möchte. Dagegen Einspruch zu erheben, ist das stärkste Argument der politischen Korrektheit. Weltverschwörungslegenden sind keine harmlosen Ansichten, sie ent halten ein explosives symbolisches Gemisch, das sich unter Umständen gewalttätig zu entladen vermag. Auch die radikalen Islamisten werden von strukturell ganz ähnlichen antiwestlichen Weltverschwörungsnarrativen getrieben.

Verschwörungsnarrative, Verwandte der Apokalypse, operieren mit dramatischer Zuspitzung. Ihnen wohnt der Wille zur Mobilisierung inne. Wer in die zweite, geheimnisvolle Welt der Verschwörung eintritt, dem geht es nicht nur um die Wahrheit seiner Geschichte. Vielmehr drängt das Narrativ ihn zum Handeln. Es enthält den Sprechakt des Befehlens, der finsteren Verschwörung Einhalt zu gebieten. Für "Vater Sergius", den mystischen Co-Autor der Verschwörungsschrift, waren die Weisen von Zion der Inbegriff des Antichristen, der am Ende der Welt noch einmal seinen Auftritt bekommt, um letztlich vernichtend geschlagen zu werden.

Glauben die Erfinder von Verschwörungen an die eigenen Geschichten? Zunächst gilt es die Autosuggestion des Erzählens zu bedenken. Um wiederholt überzeugend zu erzählen, muss man ein Stück weit daran glauben. Danilo Kiš gibt in seiner Erzählung indes noch eine andere Antwort. Er schildert die Protokolle als das "kongeniale" Gemeinschaftswerk eines weltentrückten Priesters, eines gebildeten Zynikers und eines rechtsextremen Journalisten. Glaube plus zynisches Kalkül. (Wolfgang Müller-Funk, Album, 11.2.2017)