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Die Zeiten, als der Fußball noch Märchen schrieb, sind dahin – vor allem in München-Giesing. Die Fans von 1860 und die Allianz-Arena, das wird keine Liebesgeschichte mehr.

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Franz Hell lässt kein Spiel aus.

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Wer liebt, verzeiht: "Sechzger" im Fanshop.

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Der Glanz vergangener Tage – Korso 1966 mit Kapitän Peter Grosser (li.), Trainer Max Merkel (Mitte) und Klubpräsident Adalbert Wetzel mit Meisterschale.

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Wenn man ergründen will, was so viele Münchner an 1860 finden, muss man einen wie Franz Hell fragen. Der 63-Jährige, weiße Locken, offene Lederjacke, lässt sich in einen Stuhl im Blue Adria fallen, einem finsteren Beisl gegenüber dem Grünwalder Stadion. "Sechzig ist meine Familie", sagt Hell. Das ist keine leere Phrase, als junger Mann hat er seinen eigenen Polterabend versäumt. Nicht etwa für ein Europacup-Spiel, sondern für die Partie TSV 1860 gegen Wacker München in der Bayernliga.

Einen Allesfahrer nennen sie Leute wie Hell in München, weil er kein Spiel auslässt. Er hat Triumphe miterlebt, aber auch Abstiege. Er bestellt einen Kaffee und schüttet so viel Zucker rein, als wolle er den ganzen Schmerz, der ihm mit 1860 widerfahren ist, mit einer einzigen Tasse runterspülen. Hell ist kein Fankurvengröler, eher ein nachdenklicher Anekdotenerzähler. "Ich parke jetzt schon lieber in St. Pauli oder Kaiserslautern vor richtigen Stadien als irgendwo im Wald", sagt er über die Zeit in der Bayernliga.

Traditionsverein

1860 ist nur von der Ferne betrachtet irgendein deutscher Zweitligist. Die Münchner Löwen sind ein Traditionsverein, dem viele in der bayerischen Landeshauptstadt eisern die Treue halten. Nicht ohne Grund vermarktet sich der Klub als "Münchens große Liebe". Zum FC Bayern gehen, das kann jeder, das sind doch Kunden und keine Fans, höhnen die Weißblauen gerne. Ein Spiel der Roten anzuschauen würde einem echten "Sechzger" ohnehin nie in den Sinn kommen.

Die Hingabe rührt aus Zeiten, als der Fußball noch Märchen schrieb. Als Fußballer noch Berufen nachgingen oder hofften, nach der sportlichen Karriere eine Lotto-Toto-Annahmestelle zu übernehmen. Im Frühjahr 1966, beim ersten – und einzigen – deutschen Meisterschaftsgewinn unter der Wiener Trainerlegende Max Merkel, stand Hell als Bub unter berauschten Erwachsenen im engen Grünwalder Stadion. Die ganze Stadt lief am Marienplatz zusammen, und Giesing, der Heimatbezirk des Vereins, war in Weiß-Blau getaucht. Für die Münchner Löwenfans war das ein Ereignis, beinahe wie das Wunder von Bern für die junge Bundesrepublik.

Investor an der Macht

Und heute? Nach vielen Ab- und Aufstiegen ist der Verein 2004 in der zweiten Liga gestrandet und kommt nicht vom Fleck. Jedes Jahr reden sie bei 1860 vom Aufstieg, jedes Jahr vergeblich. Auch in dieser Saison haben die Löwen eher alle Pfoten voll zu tun, nicht in die dritte Liga abzusteigen. Mittlerweile hat ein Investor die Macht übernommen. Ohne den Jordanier Hasan Ismaik wäre man 2011 schon in Konkurs gegangen. Der Geschäftsmann, 39 Jahre alt und laut einer "Forbes"-Schätzung rund 1,4 Milliarden Dollar schwer, lenkt nun die Geschicke in Giesing – von Abu Dhabi aus.

Aus finanzieller Not musste 1860 bereits 2006 seine Anteile an der Allianz-Arena verkaufen. Tapfer erduldet man die Schmach, als Mieter des FC Bayern, des weit enteilten Stadtrivalen, die Heimspiele auszutragen. Ein Verein, dem das Grünwalder Stadion zu klein und die Allianz Arena zu groß ist, das könnte der Stoff für ein bayerisches Lustspiel sein. Doch in München werden jede Intrige und jedes Skandälchen von den fünf Zeitungen der Stadt mit großem Ernst verhandelt.

Überhaupt kann Fußball in Deutschland eine bierernste Sache sein. Der Privatsender Sport 1 etwa versammelt jeden Sonntagmittag eine Herrenrunde, die das Innenleben von Bundesliga-Klubs wie Bayern und Schalke 04 mit so feierlicher Würde erörtert, wie hierzulande allenfalls über eine schwere Koalitionskrise diskutiert wird. Natürlich wird die Sendung in München aufgezeichnet, jener Stadt, die auf ihrem offiziellen Tourismusportal die Allianz-Arena elf Jahre nach ihrer Fertigstellung bereits als "architektonisches Wahrzeichen" anpreist.

Ewige Stadion-Frage

Die Münchner Klubs beschäftigen sich noch mehr als anderswo auch mit Dingen jenseits des Fußballspielens – zum Beispiel mit der ewigen Stadion-Frage. Denn die 1860-Fans empfinden die Allianz-Arena nicht als ihre Heimat. Mehrheitseigentümer Ismaik, mittlerweile auf Harmonie bedacht, verspricht ihnen ein neues Stadion.

Eine Arena mit bis zu 52.000 Plätzen im Bezirk Riem will der Jordanier bauen, daneben möglicherweise auch einen Zoo mit echten Löwen. Die Wildkatzen würden aus seiner Farm in Kenia kommen und die Namen ehemaliger Spieler tragen – ein Scherz, wie manche Ismaik-Exegeten in München heute meinen. Doch eine vierte Fußballstätte – neben Allianz-Arena, verwaistem Olympiastadion und dem alten Grünwalder Stadion – ist in München, wo leistbare Wohnungen händeringend gesucht werden, ein besonders heikles Politikum.

Ungeliebtes Erbe

Karl-Heinz Wildmoser, verstorbener Münchner Großgastronom und Ex-1860-Präsident, hatte den Klub in den Neunzigern zuerst in die erste Liga geführt, schließlich aber mit der Allianz-Arena auch ein ungeliebtes Erbe hinterlassen. Die Arena und die Löwenfans, das wird keine Liebesgeschichte mehr. Dort erwarten die Weiß-Blauen nicht nur Demütigungen auf dem Spielfeld – wo einst ein 1860-Fanshop stand, ist heute die FC-Bayern-Erlebniswelt einquartiert.

"Wir sind die einzige Mannschaft in der zweiten Liga, die 34 Auswärtsspiele in der Saison hat", sagt Franz Hell über die matte Stimmung im 75.000-Plätze-Oval. Bis 2025, wenn der Mietvertrag mit dem FC Bayern ausläuft, werde wohl irgendwo in München eine Löwen-Arena stehen, hofft der Fan-Veteran: "Dann müssen wir eh aus der Kloschüssel raus."

Bayernliga

Ebenso leidenschaftlich wird unter den Fans von 1860 über die Rolle des Investors Ismaik gestritten. Da sind die Pragmatiker, die seine Millionen als alternativlos ansehen. Ohne die Darlehen aus Abu Dhabi, sagen sie, wäre man schon in der Bayernliga, im Amateurfußball. Aber in den mehr als 450 Fanklubs des Vereins vom Bayerischen Wald bis ins Allgäu sitzen auch Löwenfans, die sich nur schwer abfinden können mit dem Dasein als Investorenklub. Diese Traditionalisten hätten es besser gefunden, wenn man 2011 pleitegegangen und abgestiegen wäre. Man hätte neu in der Bayernliga begonnen, vielleicht wieder im kleinen Grünwalder Stadion. Arm, aber sexy.

Manche bemühen auch Vergleiche mit St. Pauli, dem Kultverein aus Hamburg, dem es nicht so wichtig ist, in welcher Liga er spielt. Politisch links wie St. Pauli war 1860 zwar nie, aber jedenfalls ein Klub der breiten Masse, ein Münchner Verein für jedermann und mit echten lokalen Identifikationsfiguren auf dem Rasen.

Portugiesischer Starcoach

Ismaik will kein St. Pauli des Südens formen, er verfolgt andere Pläne. Zehn Trainer, fünf Sportdirektoren und vier Präsidenten wurden allein unter Ismaik verschlissen, weil er die Sechziger zurück in die Bundesliga und am liebsten in die Champions League führen will. Vielleicht klappt es mit seinen neuesten Investitionen. Seit dem Winter werden die Löwen immerhin vom portugiesischen Starcoach Vítor Pereira trainiert. Im Löwenstüberl, dem alten Wirtshaus auf dem Vereinsgelände, werden dessen geheime Trainings zwar noch eher argwöhnisch betrachtet. Aber: Die Ergebnisse waren zuletzt wieder besser.

Doch ist das noch der erdige Fußballklub, den Franz Hell als Bub lieben gelernt hat? "Natürlich haben wir die Seele verkauft", sagt Hell fast gleichmütig. "Das ist wie beim Dokor Faustus. Wenn ich mein Tafelsilber hergebe, darf ich mich nicht wundern, wenn's irgendwer benützen will." Er gehört eher zu den Pragmatikern, und die dürften auch die Mehrheit unter den Fans ausmachen.

Sprudelnde arabische Quelle

Es entspräche durchaus der Logik des kommerzialisierten Fußballs, würde die wohlhabendste Großstadt Deutschlands wieder zwei Vereine in der ersten Liga stellen. Auch wenn das Geld für den kleineren aus arabischer Quelle sprudelt. Mit den alten Erfolgen, die mit Blutgrätschen und Schweiß erkämpft waren, hätte es natürlich wenig gemein.

In Leipzig zum Beispiel, wo Red Bull den Erfolg finanziert, strömen mehr als 40.000 Menschen zu den Heimspielen. Ziemlich sicher würden auch die Löwen mit neuen Triumphen wieder ihr Stadion füllen, wo immer dieses dann stehen mag. Investorenklub hin, Investorenklub her. Wer liebt, verzeiht fast alles. (Lukas Kapeller, 26.2.2017)