Thomas Piketty dokumentiert weltweite Ungleichheit.

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Paris – Thomas Piketty ist mit seinem Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert" vor vier Jahren weltberühmt geworden – doch Starallüren plagen ihn bis heute nicht: Besucher sucht der 46-jährige Ökonomieprofessor persönlich im Korridorwirrwarr der Paris School of Economics. Hier geht er von der Theorie seines 800-seitigen Wälzers zu den praktischen Arbeiten über: Zusammen mit seinem jungen Mitarbeiter Lucas Chancel hat er im Jänner eine "Beobachtungsstelle für globale Ungleichheit" gegründet.

Die Datenbank soll Bürgern einen raschen interaktiven Zugriff auf alle verfügbaren Informationen bieten – und den internationalen und nationalen Verantwortlichen Entscheidungshilfen zum Abbau der strukturellen Ungleichheit. Mittlerweile beschäftigt die "World Wealth & Income Database" gut hundert Forscher vor allem in Paris, an der Universität von Kalifornien in Berkeley und in weiteren 70 Ländern.

"Und das ist erst der Anfang", meint Piketty in einem schmucklosen Hinterzimmer, wo er sein neustes Kind vorstellt. "Bei meinen Reisen heuere ich ständig neue Teilnehmer an, vor allem in Schwellenländern, die bisher nur über ungenaue Datensammlungen verfügen."

Dunkelrote USA

Aushängeschild und Ausgangspunkt der Webseite wid.world ist eine Weltkarte, die auf einen Blick die Ungleichheit in den einzelnen Ländern festhält. Von dort aus gelangt man in die nationalen Statistiken. Hellgelb sind Länder wie Norwegen, Neuseeland und Frankreich markiert: Dort verdient ein Prozent der reichsten Bürger nicht ganz acht Prozent der gesamten Einkommen. Dunkelrot erscheinen hingegen die USA, Argentinien und Südafrika, wo die Spitzenverdiener bis zu 23 Prozent der Einkommen auf sich vereinen.

Dazwischen liegt China, orange hervorgehoben. "Aufgrund der früheren, eher ungenauen Erhebungen ging man bisher davon aus, dass das Prozent der bestverdienenden Chinesen gut sechs Prozent aller Einkommen bezog", erläutert Piketty. "Dank neuer Finanzdaten wissen wir jetzt, dass sie nicht sechs, sondern mindestens 13 Prozent der Einkommen beziehen."

Noch einige Löcher

Für viele Länder Südamerikas, Afrikas und des Nahen Osten fehlen in der Wid-Datenbank noch die Angaben. Die Löcher werden durch die dazustoßenden Ökonomen neuer Länder nach und nach gestopft. "Unsere Zahlen gehen in Sachen Ungleichheit bereits weiter als die Angaben von Währungsfonds und Weltbank", meint Piketty, der es längst nicht mehr auf dem Sessel aushält – mit bloßem Zeigefinger erklärt er die Projektionen an der Wand.

"Sehen Sie sich nur das hier an!", ruft er und zeigt auf eine steile Kurve, die aus einem Knäuel verschiedenfarbiger Linien herausragt. "Das ist die Immobilienblase Spaniens. Sie sagt viel über die nationale Kapitalentwicklung aus. Dahinter steckt eine gewaltige Arbeit zur Erfassung nicht nur der Einkommen, sondern auch der Vermögen."

Kein moralisches Urteil

Aufschlussreich sind die US-Daten. Eine rote, völlig flache Linie am unteren Rand der Grafik verkörpert die niedrigen Einkommen: Sie stagnieren seit den 70er-Jahren bei rund 16.000 Dollar im Jahr, zumal die Mindestlöhne gesunken sind. Die Kurve der höchsten Einkommen ist in den USA hingegen steil gestiegen – auf das Dreißigfache. "Da wird auf einen Blick klar, wie sich die Einkommensschere in den Vereinigten Staaten geöffnet hat", folgert Piketty.

Er fügt allerdings von sich aus an, dass diese Kurve kein moralisches Urteil enthalte: "Wir liefern nur die Daten und schaffen Transparenz." Nicht auf der Webseite, aber im Gespräch stellt Piketty dennoch einen Bezug zum Wahlerfolg von Donald Trump her: "Das war auch eine politische Revolte gegen die wachsende Ungleichheit." Das Wahlresultat sei jedoch paradox, da der Kurs der neuen US-Regierung die Ärmeren zuerst treffen werde: "Trump in den USA und Marine Le Pen in Frankreich vertiefen mit ihren protektionistischen und damit wachstumshemmenden Maßnahmen nur noch die Ungleichheit."

Progressive Steuern gegen Ungleichheit

Ist das ein Votum für den Freihandel? "Ich bin nicht gegen internationale Handelsabkommen wie Ceta mit Kanada", antwortet Piketty. "Nur sind diese Übereinkünfte ungenügend. Sie enthalten keine – jedenfalls keine zwingenden – Bestimmungen für ein nachhaltiges, gerechteres Wachstum." Trotzdem zieht er den Zollschranken eine gerechte Steuerpolitik in jedem einzelnen Land vor. Das ergebe sich aus den Statistiken, zeigt er an mehreren Kurven: "Länder mit höheren und progressiveren Steuersätzen schaffen es besser als andere, die Ungleichheiten in Grenzen zu halten."

Aus den Vergleichsdaten gehe auch klar hervor, welchen Einfluss höhere Bildung und Lohngerechtigkeit hätten, meint Piketty. Einschränkend präzisiert er, Lohnerhöhungen seien nicht einfach der Weisheit letzter Schluss. "Sie können zur Streichung von Stellen und mehr Arbeitslosigkeit führen, was die Ungleichheit ebenfalls erhöht." Kapitalsteuern und eine stärkere Steuerprogression seien wirkungsvoller, meint der Ökonom mit Verweis auf seine Statistikkurven.

Keine gesicherten Daten

Zum Schluss drängt sich eine generelle Frage fast auf: Hat die Globalisierung eigentlich die Ungleichheit verstärkt? "Die Annahme liegt natürlich nahe", meint Pikettys rechte Hand, Lucas Chancel, das Forscherhirn der neuen Beobachtungsstelle. "Gebildete Leute wissen offene Landesgrenzen sicher besser zu nutzen als weniger Gebildete, die erst noch der Konkurrenz durch Billiglohnländer ausgesetzt sind."

Aber, fügt Chancel als vorsichtiger Wissenschafter an: "Gesicherte Daten fehlen dazu bis heute." Womit er gleich einen weiteren Grund dafür nennt, die Piketty-Datenbank voranzutreiben. (Stefan Brändle aus Paris, 28.2.2017)