Die westungarische Gemeinde Kolontár vier Tage nach der Katastrophe vom 4. Oktober 2010, als eine Million Kubikmeter Rotschlamm das Land überschwemmte.

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Mehr als sechs Jahre später droht keine weitere Katastrophe, die Familie von Károly Horváth bewohnt nun ein kleines Haus in der Makovecz-Siedlung in Devecser. Zufrieden sind die Geschädigten trotzdem nicht.

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Als sich aus dem geborstenen Speicherbecken Nummer 10 der Ungarischen Aluminiumwerke (MAL) am 4. Oktober 2010 eine giftige Brühe aus Abfallschlämmen der Bauxit-Verwertung über die westungarischen Ortschaften Kolontár, Devecser und Somlóvásárhely ergoss, starben zehn Menschen. Andere erlitten schwere Verätzungen. Rund 400 Familien verloren ihr Hab und Gut. Die toxischen Bergbaurückstände verseuchten 800 Hektar Ackerland und mehrere Gewässer.

Freisprüche aufgehoben

Mehr als sechs Jahre später haben die obdachlos Gewordenen wieder ein Dach über dem Kopf. Kontaminierte Ortsteile wurden abgetragen, dem Erdboden gleichgemacht. Die damaligen MAL-Besitzer und -Manager sprach das Gericht in erster Instanz vor einem Jahr von jeder Schuld frei. Anfang Februar hob das Berufungsgericht das Urteil auf und ordnete eine neue Verhandlung an.

Die Aluminiumwerke haben inzwischen zugesperrt. Die Speicherbecken zwischen Ajka und Kolontár sind weiter da. Zumindest werden sie nicht mehr mit frischen Abfallschlämmen befüllt. Die alte Masse dickt langsam ein. Sie verliert ihr Potenzial, wie damals zur Flut zu werden. Becken Nummer 10, mit der breiten Bresche, aus der damals die tödliche Rotschlammlawine hervorbrach, ist eine Industrieruine. Nur wenige Hundert Meter vom nördlichen Ortsende von Kolontár entfernt erhebt es sich immer noch gebieterisch über der Landschaft.

"Die Verletzungen in den Seelen bleiben", sagt József Varga, von Beruf Elektriker und in seiner Freizeit Präsident des "Vereins für die Gesundheit von Kolontár und Umgebung". Als jemand, der von der Katastrophe nicht selbst betroffen war, versucht er anderen zu helfen. "Nicht nur sind zehn Menschen tot. Viele sind später gestorben, weil sie das Trauma nicht aufarbeiten konnten und daran zugrunde gingen. Die Behörden interessiert das nicht."

"Wissen Sie, was Verätzungen sind?"

Károly Horváth (44) ist einer von jenen, die damals alles verloren hatten: Haus, Gesundheit, unternehmerische Existenz. "Wissen Sie, was Verätzungen sind?", fragt der ehemalige Altwarenhändler aus Devecser rhetorisch. "Das Gewebe stirbt ab, Haut und Fleisch fallen ab, es quälen einen unerträgliche Schmerzen." Ihm, seiner Frau und der damals elfjährigen Tochter fügte die Rotschlammlauge Verätzungen zweiten Grades zu, auf mehr als der Hälfte der Körperoberfläche. Die Folge: drei Wochen Krankenhaus, weitere acht Wochen, in denen sie jeden zweiten Tag zum Verbändewechseln ins Spital mussten, dann eineinhalb Jahre des selbstständigen Bestrahlens mit einer speziellen Lampe.

Zur körperlichen Tortur kam die wirtschaftliche Vernichtung. Als das Ehepaar Horváth noch siech und im Rollstuhl das zerstörte Haus wiedersah, war alles weg: Möbel, Einrichtungen, Schlösser, Fenster und vor allem die Behälter mit Schmuck und Wertsachen. Die Sachen waren nirgendwo deponiert – sondern einfach weg. "Keine Protokolle, keine Inventurpapiere, keine Videoaufnahmen – die Behörden hatten angeblich nichts", sagt Horváth. Gewöhnliche Plünderer können es nicht gewesen sein, denn die Regierung hatte das Gebiet sofort zur Sperrzone erklärt. Die verschwundenen Werte beziffert Horváth mit umgerechnet 23.400 Euro.

Immerhin bewohnt Familie Horváth jetzt ein kleines Haus in der einfachen, aber zweckmäßigen Makovecz-Siedlung. Vor ein paar Jahren hat sie die Regierung für die Opfer der Katastrophe am Rande von Devecser errichten lassen. Vor zwei Jahren sprach das Gericht Horváth ein Schmerzensgeld in Höhe von 13.000 Euro zu – dank des Engagements eines Rechtsanwalts aus Ajka, der von ihm und anderen Katastrophengeschädigten kein Honorar nahm.

Schulden wegen Verletzungen

Trotzdem hadert Horváth mit den Behörden. Mit seinen legitimen Ansprüchen fühlt er sich alleingelassen. In der langen Zeit der verletzungsbedingten Arbeitsunfähigkeit musste er sich verschulden. Heute ist er froh, dass er und seine Frau Jobs als Fabrikarbeiter gefunden haben. Die Bilanz aus zugefügtem Schaden und erhaltenen minimalen Entschädigungen halte er nicht für fair, sagt er. Und er sei damit nicht allein. Fast jeder der Geschädigten könne berechtigte Klagen anführen.

"Ich möchte, dass das endlich abgeschlossen wird. Dass der wirkliche Schaden festgestellt und dass korrekt entschädigt wird", fordert Horváth. Es würde vielleicht 200 bis 300 Leute betreffen und nicht mehr kosten als 1,6 Millionen Euro. "Dann wäre endlich ein Schlussstrich gezogen." (Gregor Mayer aus Devecser und Kolontár, 1.3.2017)