Eines gleich vorweg: Ich bin dagegen. So wie vermutlich etwa 3.099 andere Läuferinnen und Läufer auch, die vergangenen Sonntag im Wiener Prater bei strahlendem Frühlingswetter auf den Stadionparkplatz kamen – und dann von dort aus eine, zwei oder vier Runden liefen. Oder nordisch gingen.

Ich und wir sind dagegen, dass Wiens sympathischster Frühlings-Lauf heuer das letzte Mal stattgefunden haben soll. Denn dieses Präfix, dieses "zum letzten Mal", hatten Martin Mair und sein Team dem Charitylauf heuer gegeben: "Laufen hilft", so die Organisatorinnen und Organisatoren des Wiener Jedermann- (und -frau)-Laufopenings, würde heuer zum letzten Mal stattfinden.

Und das aus einem nachvollziehbaren Grund: Die Veranstaltung ist mittlerweile zu groß. Zu groß, um weiterhin nebenbei Jahr für Jahr aufgezogen und abgewickelt zu werden: Was für andere Veranstalter ein echter Fulltimejob ist, ziehen die "Laufen hilft"-Leute nicht nur ehrenamtlich, sondern eben nebenbei auf. Und durch. "Irgendwann geht das nicht mehr", sagt Martin Mair.

Foto: Thomas Rottenberg

Mair ist jetzt 42 Jahre alt. Vor zehn Jahren machte er einen folgenschweren "Fehler" – den er nie bereut hat: Im Rahmen eines Schulprojektes, soweit ich mich erinnere, ging es um eine Projektarbeit zu Rechnungswesen oder etwas ähnlich Sprödem, organisierte er mit Schülern einen Charitylauf durch den Kurpark Oberlaa: Hundert Leute und noch ein paar dazu. Eine gute Übung – und eine gute Sache.

Weil Gutes tun & Helfen Freude macht, beschloss die Gruppe, das Projekt zu wiederholen. Und dann nochmal. Und nochmal. Bis Oberlaa zu klein war und man dorthin wechselte, wo man auch heuer lief: Prater. Aus einem Lauf wurde ein bunter Strauß an Events: Von Kinderläufen über Nordic Walking hin zu einem 5- und einem 10-Kilometer- sowie einem Halbmarathon-Lauf reicht das Portfolio. Nicht schlecht. Nicht nur für ein Schulprojekt.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Event wuchs. Wurde zum Volksfest: AIMS-vermessen (quasi geeicht) war er auch für Eliteläufer interessant – aber das Herz der Veranstaltung waren (und sind) die Jedermensch-Läufer. Der Pulk. Die Masse. Gut 3.000 waren es 2016. Diese Zahl wollten die Lauf-Helfer heuer, zum Abschluss, schon noch toppen.

Die Übung gelang: 3.100 Läuferinnen und Läufer (Kinder und Walker eingerechnet) meldeten sich. Dementsprechend groß, aber durchwegs fröhlich und entspannt, war das Gedränge Sonntagvormittag beim Start.

Foto: Thomas Rottenberg

Das obwohl da ohnehin nur die erwachsenen Läuferinnen und Läufer antraten: Die Kinderläufe waren am Samstag abgewickelt worden. Und nachdem es in den letzten Jahren immer wieder Probleme mit den Rundkurs aus Läufersicht "verstopfenden" Nordic Walkern gegeben hatte, wurde die Walker heuer so losgeschickt, dass auch die langsamste Geherin (hier im Bild) gute 20 Minuten vor dem Lauf-Start im Ziel sein konnte.

Andere – auch hochprofessionell und kommerziell agierende – Veranstalter könnten sich allein davon ein oder zwei Scheiben abschneiden.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Erstaunliche: Wer seine Kunden (oder Gäste oder wie auch immer man da sagen will) so behandelt, bekommt auch etwas zurück.

Während anderswo kaum jemand darauf achtet, beim Start zumindest ansatzweise im richtigen Block oder im korrekten Korridor zu stehen und so möglichst wenigen vorhersehbar schnelleren oder ambitionierteren Läuferinnen und Läufern den Weg zu verstellen, war das hier – zumindest dort, wo ich es erlebte und erzählt bekam – keine Sekunde Thema. Eng ist es beim Start immer …

Foto: Thomas Rottenberg

… aber wenn sich jeder und jede von vornherein halbwegs richtig einreiht und aufstellt, ist auch ein dichtes Startfeld rasch flüssig und zügig unterwegs: Die Elite zieht sowieso vorneweg. Aber auch dahinter erspart man sich das Hakenschlagen, das Drängeln, das Schubsen und das Auf-andere-Auflaufen. Oder wenn man sich selbst zu weit vorne aufgestellt hat, neben dem Gefühl, im Weg zu sein und der Gefahr, im Gedränge von irgendwem ins Wadel getreten zu werden, auch noch das, was noch den schönsten Lauf zum Frusterlebnis werden lässt: Das Von-Anfang-an-nur-überholt-Werden.

Foto: Thomas Rottenberg

"Laufen hilft" hat aber noch eine Besonderheit: Die meisten Läufe im Prater gehen die Hauptallee entlang und dann irgendwie rund ums Heustadlwasser. Eh nett.

Mair & sein Team aber legten die Fünfkilometerrunde ein bisserl spannender an: In einer Fünf-Kilometer-Schleife vom Stadion auf die Hauptallee, dann durch den Wurstelprater zur WU – und über das "Viertel Zwei" und die Stadionallee zurück auf Wiens Laufhauptachse, die Hauptallee.

Nicht dass man diese Ecken als Läufer nicht kennen würde – aber im Wettkampfmodus kommt man hier halt sonst kaum je durch.

Foto: Thomas Rottenberg

Was hier außerdem noch motiviert: "Laufen hilft" ist eines der großen Familientreffen der Wiener Laufszene. Man trifft einander, rennt je nach Tempo und Distanz ein wenig gemeinsam – und hat, weil es ein vergleichsweise entspannter Bewerb ist, meist auch noch Zeit zum Quatschen.

Obwohl ich zugeben muss, dass ich Monika Kalbacher nicht nur hier treffe: Wir beide laufen und trainieren im "Team Ausdauercoach" und sind momentan leistungsmäßig in etwa in der gleichen Tempoliga unterwegs – wobei Moni deutlich rascher schneller wird als ich. Sie lief den Halbmarathon, ich nur den 10er. Das wird hier noch eine Rolle spielen.

Foto: Thomas Rottenberg

Die "Laufen hilft"–Runde ist, wie erwähnt, fünf Kilometer lang. Der immense Vorteil der Hauptallee ist ja, dass man die Wenden so setzen kann, dass sich die Strecken (ziemlich) auf den Meter genau ausgehen. (Dass am GPS dann doch immer etwas anderes aufscheint, ist eine andere Geschichte – und die hat nicht nur damit zu tun, dass man die Ideallinie relativ selten über ein ganzes Rennen beibehält.)

Ein Rennen verliert man, wenn man ohne Plan läuft. Deshalb gibt es Pacemaker. Ihre Luftballons sind auch für die, die nicht direkt mit dem Schrittmacher mitlaufen, gute Indikatoren: Dass mir Werner Schrittwieser – aka "Running Schritti" – entgegenkam, als ich gerade mal 4,8 Kilometer in den Beinen hatte, passte: Schritti war der Pacemaker der 10k-in-40-Minuten-Gruppe. Da komme ich in diesem Leben zwar nimmer hin – aber immerhin wurde ich nicht von ihm überrundet.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte meinen Lauf zügig, aber stressfrei geplant. Irgendwo im Mittelfeld halt: Leute treffen, quatschen, lachen – und den einen oder anderen Kontrapunkt wider die Verehrgeizung setzen: Ich will bei Laufen niemanden besiegen. Und habe deshalb weder Gegner noch Widersacher auf der Strecke – mit einer Ausnahme: mir selbst. Aber das Problem sind weniger Leistung, Pace und Zeit, als die Gefahr, dass die Ernsthaftigkeit irgendwann den Spaß nicht nur überholt, sondern aus dem Rennen kickt.

Foto: Thomas Rottenberg

Mich (aber auch andere) hin und wieder daran zu erinnern, dass es bei Hobbyläufern um die goldene Himbeere geht, ist sicher nicht ganz falsch. Und wenn andere Läuferinnen und Läufer mich nach solchen Stunts fragen, ob es mir sonst eh gut geht und ihnen trotz der Anstrengung dabei ein kleines Grinsen auskommt, begrüße ich das: Sich selbst zu fordern, an die eigenen Grenzen zu gehen und dann einen oder zwei Schritte weiter, ist sehr okay. Aber der Ehrgeiz, mit dem viele Leute rund um mich ihre Ziele so verbissen verfolgen, dass sie sich am Schluss nicht einmal mehr drüber freuen können, sie sogar erreicht zu haben (weil ja ein anderer doch noch schneller war), irritiert mich. Massiv – und immer mehr.

Foto: Thomas Rottenberg

Vermutlich hat diese Einsicht ja auch ein wenig damit zu tun, dass ich dem Satanismus fröhne und dem Beelzebuben huldige. Zumindest in der Lesart mancher katholischen Priester. Dass mir das bisserl Yoga, das ich praktiziere, das Laufen gerettet hat, macht mich zum Schuldner des Leibhaftigen. Den Erfolg des "Teufelszeuges" kann aber bestätigen, wer meine History of Auas des Vorjahres ein bisserl genauer kennt. Noch viel wichtiger sind mir aber ein paar der "diabolisch-dämonischen" Komponenten der Teufelsanbeterei qua Purgatoriums-Savasanah & Downwardfacing Lucifer: der Blick nach innen. Das Nicht-gewinnen-müssen.

Das kann man esoterisch verbrämen und überhöhen – oder aber sich einfach und nüchtern zugestehen, dass jeder Lauf anders und jeder Tag anders ist. Dass es ums Erleben, um die Freude an dem, was man liebt, geht – und Zahlen nur Zahlen sind.

Foto: jhofer@jhoferfoto.at

Freilich ändert das nix daran, dass man Ziele schon auch erreichen will – und man sich dann, wenn man sie wegen eines idiotischen Konzentrationsfehlers knapp verfehlt, vor lauter Ärger am liebsten selbst in den Hintern beißen möchte.

Normalerweise bin ich für derlei prädestiniert – aber diesmal passierte es Monika: Die reguläre Runde bei "Laufen hilft" ist fünf Kilometer lang. Einmal im Kreis. Zweimal im Kreis ergibt 10 Kilometer – aber wer 21 Kilometer und ein bisserl was laufen will, der muss es anders anlegen. Manche Veranstalter lassen die Halbmarathonis deshalb irgendwo dazwischen eine Schleife rennen – bei "Laufen hilft" kommt der U-Turn für die HM-Menschen ein paar hundert Meter weiter die Hauptallee hinauf als der für die 10k-Läufer. Eine klare, transparente und nachvollziehbare Sache.

Foto: Thomas Rottenberg

Außer man verplaudert sich beim Laufen. Oder ist aus einem anderen Grund so auf die Läufer, die Pace oder sonst was fokussiert, dass man das Schild übersieht – und den Halbmarathon-U-Turn an der 10er-Wende macht. Genau das passierte meiner Teamkollegin: Monika gewann die Damenwertung des Halbmarathons mehr als souverän – wurde aber nachträglich disqualifiziert. Ärgerlich – aber natürlich zu Recht. Ich bin trotzdem stolz auf sie: Schnell laufen kann nämlich bald wer. Zu eigenen Fehlern stehen, sie nicht schön- oder kleinreden aber nicht. Und das zählt für mich weit mehr.

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Und so hatte der Tag dann viele Sieger: nicht nur die Menschen auf dem Siegertreppchen der jeweiligen Altersklasse oder Distanz, sondern vor allem die Institutionen, für die "Laufen hilft" antritt. Das St.-Anna-Kinderspital und das Neunerhaus, für die insgesamt auch heuer wieder 10.000 Euro zusammen kamen.

Und vielleicht ja auch alle, die dagegen sind, dass Martin Mair und seine Freunde den Lauf heuer das letzte Mal veranstalten hatten wollen: "Es gibt namhafte Veranstalter, die daran interessiert sind, die Veranstaltung zu übernehmen oder weiterzuführen", verriet mir Mair noch während des Laufes. Und fügte am Tag danach einen Satz hinzu: "Und vielleicht findet sich ja auch ein Modus, bei dem auch wir weiter dabei sein können, ohne zu uns komplett aufzureiben. Schließlich ist das ja doch unser Baby."

Meine Zeit? Irrelevant. Falls es wer unbedingt wissen will: hier. (Thomas Rottenberg, 8.3.2017)


Mehr Laufgeschichten gibt es auf www.derrottenberg.com

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